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Konteradmiral Achille Poledoris von der Terranischen Marine betrachtete die Bildschirmwiedergabe des Planeten und verspürte einen Anflug von Heimweh. Weiße Wolkenstreifen gürteten eine blaue, von grünbraunen Landmassen gefleckte Kugel. Die Ozeane von Carratyl I waren seichter als jene der Erde und von einem schönen Aquamarin um den größeren Kontinent, das am Schelfrand plötzlich in Azurblau überging. Die Ozeane sahen gesprenkelt aus wegen einer großen Anzahl von Inselketten, die vulkanischen Ursprung verrieten, und von mehreren aktiven Inselvulkanen gingen feine gerade Rauchfahnen aus, die vom Wind weit übers Meer getragen wurden. Aus dem Raum gesehen bot die landwirtschaftliche Welt der Ryall einen lieblichen Anblick, doch galt dies auch für die meisten Welten der Menschen.
Poledoris' Problem war, dass der Anblick aus dem Weltraum nicht mehr lange lieblich sein würde. Die bedauernswerte Welt Carratyl I würde infolge der bevorstehenden Flottenaktion in den nächsten paar Stunden wahrscheinlich beträchtliche Kollateralschäden erleiden. Der große, dem Erdmond ähnliche Trabant des Planeten würde Mittelpunkt der Aktion sein, doch mussten natürlich auch alle planetarischen Abwehreinrichtungen neutralisiert werden. Schon jetzt konnte er auf seinen taktischen Bildschirmen sehen, wie die Abwehr der Ryall einsatzbereit gemacht wurde. Viele Megawatt Energie strömten vom Planeten und vom Mond himmelwärts, um die nahenden menschlichen Schiffe zu erfassen und ihre Zusammensetzung zu bestimmen. Zweifellos wurden auch große, lichtverstärkte Teleskope auf die Flotte gerichtet und verfolgten ihren Weg, der scheinbar direkt aus dem Zentralgestirn Carratyl zu kommen schien. Trotz dieser Erschwernis würden die Ryall durch Beobachtung des Spektrums der Photonenantriebe versuchen, die Antriebskräfte und danach die Größe der Schiffe zu analysieren.
Poledoris' Leute taten genau das Gleiche, um die Verteidigungsstellungen und ihre Stärken zu ermitteln. Starke Teleskope untersucht den Mond und versuchten die Geheimnisse der dort stationierten Marinebasis zu ergründen. Die Erkenntnisse geheimdienstlicher Aufklärung hatten die Basis als relativ schwach eingestuft, aber mit hinreichenden Mitteln, um Angriffe gegen Versorgungskonvois auf dem Weg nach Spica zu führen. Das bedeutete, dass die Basis in der verhüllenden Sprache der Militärs »neutralisiert« werden musste. Ob auch der Planet Carratyl I würde besetzt werden müssen, war eine der Entscheidungen, für die Poledoris verantwortlich war.
Um ihn waren die Zwölf der Terrestrischen Marine, die seinem Kommando unterstanden. Zusätzlich zum Schlachtschiff Achernar befehligte er die Kreuzer Saratoga und Brindisi, die Zerstörer Achmed Khan, Irving Kirschner, General Murphy und Tagaki, sowie vier Tanker. Das zwölfte Schiff in seiner Flotte war ein umgebauter Frachter, die Max Planck, zugleich das gefährlichste Schiff der Formation, denn an Bord der Max Planck war eine Ladung von mehr als fünfzigtausend Langstreckenraketen und anderen Waffen.
Die Max Planck war ein Mehrzweckschiff. Hauptfunktion war der Nachschub an Waffen und Munition für Kriegsschiffe, die sich verschossen hatten, aber sie besaß auch eigene Abschussanlagen für Raketen und konnte als Angriffsträger fungieren. Ein Angriffsträger war das einzige Schiff, das selbst die stärkste planetarische Abwehr überwinden konnte. Es bewerkstelligte dies, indem es den Luftraum des Feindes mit genug Geschossen füllte, um jede Abwehr unter dem Hagel der Explosionen zu begraben.
Die Ryall hatten eine ähnliche Taktik in der Schlacht um Sandar angewandt, wo eine gemischte Streitmacht der sandarischen und altanischen Marine den Angriff mit knapper Not abgewehrt hatte. Poledoris hatte das Geschehen dieser Schlacht studiert und wusste, wie viel Glück die Verteidiger damals gehabt hatten. Es war ihnen gelungen, die Angriffsträger der Ryall auszuschalten, bevor diese ihre Raketen hatten abschießen können. Hätten diese Schiffe den Raum mit ihren Todesschwärmen angefüllt, wären die Sandarer heute wahrscheinlich nicht Teil der Invasionsflotte. Zur Abwehr von Angriffsträgern waren die beiden Faltpunkte im Sonnensystem auf diese Weise stark verteidigt. Gelänge es einem dieser Ungeheuer, zur Erde durchzustoßen, könnte das Ergebnis schrecklicher sein als alles, was die Fantasie sich auszumalen vermochte.
»Admiral, Achmed Khan meldet, dass der Mond weitere Abfangjäger startet. Diese scheinen einsitzige Orbitaljäger zu sein.«
»Wie viele?«
»Zwei Dutzend, Sir.«
»Gibt es Aktion vom Planeten?«
»Nein, Sir. Dort herrscht Ruhe. Sie haben uns geortet und verfolgen unseren Kurs, sind aber nicht offensiv geworden.«
»Sie werden, nur keine Sorge. Diese Sensorabstrahlungen deuten auf eine aktive planetarische Abwehr hin. Sagen Sie allen Kapitänen, sie sollen nach schweren Lasern und anderen Nahverteidigungsmitteln Ausschau halten. Volle Gegenmaßnahmen, sobald sie eröffnen. Unser Feuer bleibt auf Abwehrstellungen und Stützpunkte beschränkt. Wir wollen keine Ländereien in Staub verwandeln, die wir vielleicht besetzen werden.«
»Jawohl, Sir. Ich habe eine Meldung, die vom Flottenkommando eingegangen ist, Sir. Es ist ein Gefechtsbericht vom Faltpunkt.«
»Lesen Sie vor.«
»Die Meldung sagt, dass Gruppe Merkur den Faltpunkt gesichert hat. Ein bewaffneter Aufklärer ging verloren.«
Poledoris biss die Zähne zusammen. Dass die Nachricht unvermeidlich gewesen war, vermochte ihre Wirkung dennoch nicht zu mildern.
Auf dem Lagebildschirm war die Flotte eine kompakte Gruppe smaragdgrüner Echozeichen, die sich dem Punkt der geringsten Entfernung vom Planeten näherte. Wenn die Ryall von Carratyl I ihnen Schwierigkeiten machen wollten, wäre dies der geeignete Zeitpunkt. Poledoris hielt unwillkürlich den Atem an, als sie auf ihrem hyperbolischen Angriffskurs am Perigäum vorbeiflogen und sich vom Planeten zu entfernen begannen. Die Anzeige der Zielentfernungsmessung hörte auf zu fallen und stieg wieder an. Vom Planeten gab es keine weitere Reaktion.
»Das scheint es gewesen zu sein«, bemerkte der Erste Offizier, nachdem die Entfernung fünf Minuten zugenommen hatte, ohne dass etwas geschah.
»Was ist mit der anderen planetarischen Verteidigungsstellung?«
»Sie ist noch unter dem Horizont, Admiral.«
»Sicherlich haben sie Nachrichtensatelliten in Umlaufbahnen.«
»Es sind keine festzustellen, Sir.«
Der Admiral nickte. Eine abgelegene Provinzwelt, kein Zweifel. Es ergab wenig Sinn, eine Verteidigungsstellung am Boden zu bauen, die nur auf Objekte über ihrem eigenen Horizont schießen konnte. Ein Tiefangriff am Rand der Atmosphäre würde ein Schiff bis auf fünfhundert Kilometer an ein Bodenziel heranbringen, bevor es über dem lokalen Horizont dieses Ziels erschien, und zu diesem Zeitpunkt würde es viel zu spät sein, um etwas gegen den Angreifer zu unternehmen. Um wirklich brauchbar zu sein, benötigte eine planetarische Verteidigungsstellung am Boden ständige Verbindung mit Satelliten in Umlaufbahnen.
Wo die Satelliten von Carratyl I waren, wenn es sie gab, wusste er nicht, war aber froh über ihre Abwesenheit. Wäre er sicher, dass die Ryall sich nicht tot stellten, könnte er die Flotte manövrieren lassen, statt bewegungslos in ihren Abschirmungswolken zu sitzen, bis sie außer Reichweite der planetarischen Abwehr wäre.
»Wir haben zahlreiche Raketenstarts vom Planeten, Admiral.«
»Zu wenig und zu spät«, erwiderte er. Er konnte die goldenen Funken in den Raum steigen sehen. Da die Flotte sich auf ihrem Angriffskurs rasch vom Planeten entfernte, würde ein dort startender Abfangjäger keine Chance haben, sie in einer Verfolgungsjagd einzuholen.
»Wir haben Raketenstarts vom Mond«, meldete der Erste Offizier.
»Welche Klasse?«
»Sie sehen nach Bravo-Sechs aus, Sir.«
Admiral Poledoris nickte. »Veraltetes Zeug. Genau das, was man von einem provinziellen Militärstützpunkt erwarten würde.«
»Abfangjäger verlassen Mondumlaufbahn und nehmen Kurs auf uns.«
»Zerstörer zur Abwehr. Lassen Sie Max Planck mit der Beschießung beginnen.«
Der Admiral beobachtete, wie seine Streitkräfte reibungslos funktionierten, um seine Befehle auszuführen, und verspürte eine leichte Verringerung der Last, die seit dem Beginn der Aktion auf seinen Schultern ruhte. Das System Carratyl entsprach den Erwartungen des Marinegeheimdienstes – eine angenehme Überraschung. Wenn die Echsenleute nicht noch in letzter Minute ein Ass ausspielten, war der Mondstützpunkt so gut wie neutralisiert. Das Einzige, was dann noch zu tun blieb, war die Feststellung der Feindverluste und des eigenen Munitionsverbrauchs.