78
»Das Flaggschiff ist getroffen!«
Phillip Walkirks Magen zog sich schmerzhaft zusammen, als die Meldung durchkam. Hastig überflog sein Blick die Bildschirme in der Zentrale, blieb an der taktischen Lagedarstellung hängen. Die Durchbruchsgruppe der Ryall, die seit ihrer ersten Ortung näher gekommen war, entfernte sich bereits. Die beiden Flotten hatten den Punkt nächster Annäherung überschritten, und die beiderseitige Zerstörungswut sollte nun rasch nachlassen. Die nächsten paar Sekunden würden noch gefährlich sein, danach aber wären beide Flotten wieder außer Reichweite.
»Wie schlimm?«, fragte er seinen Nachrichtenoffizier.
»Unbekannt, Commander. Die Triebwerke stehen, und das Schiff ist auf einer natürlichen hyperbolischen Umlaufbahn, obwohl der Rumpf intakt zu sein scheint.«
»Geschwindigkeit anpassen, schnellstens«, befahl er.
»Abwehr ausweiten auf Feuerschutz für Flaggschiff.«
Kaum hatte er den Befehl erteilt, da wurde die gleichmäßige Beschleunigung, die Queen Julia während des Gefechts beibehalten hatte, plötzlich vervierfacht. Die Triebwerke brüllten, und der gleichmäßige Strom bläulich weißer Photonen, der das Schiff antrieb, wurde zu einem Sturm, der hell genug war, um es für kurze Zeit mit dem gleißenden Licht des Doppelsterns aufzunehmen.
Phillip und der Rest der Besatzung auf den Gefechtsstationen wurden in die Sitze gepresst, und sein unfreiwilliges Schnaufen war nicht das einzige, das aus der Bordsprechanlage drang. Zum Glück war die brutale Beschleunigung nur von kurzer Dauer. Sobald die Queen Julia an Conqueror II herangekommen war, schalteten die Triebwerke aus, um sich der Flugbahn des Flaggschiffs anzugleichen. Das jähe Gewicht verschwand so rasch, wie es gekommen war, und Phillip atmete tief durch und reckte die Arme.
»Verbinden Sie mich mit dem Admiral«, befahl er.
»Tut mir leid, Sir. Keine Antwort auf der Laserfrequenz.«
»Versuchen Sie es über Radio.«
»Zu starke Interferenz von den Sternen, Commander.«
»Verdammt, Nachrichtenoffizier, wir sind praktisch Rumpf an Rumpf, nahe genug, um fiberoptische Kabel auszutauschen. Sicherlich können Sie aus dieser Entfernung ein Signal durch die Interferenz drücken.«
»Ich werd's versuchen, Commander.«
»Wo ist der Rest der Flotte?«
»Entfernt sich schnell, Commander. Die Ryall ebenfalls.«
Phillip begann sich zu entspannen. Da die beiden Flotten sich auf Gegenkurs zueinander befanden, kamen sie nun außer Reichweite. Das Gefecht war zu Ende. Zeit für beide Seiten, ihre Toten zu zählen und die Wunden zu lecken. Verstreute Raketen würden für die nächsten Minuten eine Gefahr bleiben, aber jede Sekunde, die verging, verringerte auch diese Möglichkeit. So tödlich sie waren, die mit nuklearen Sprengköpfen ausgerüsteten Raketen waren optimiert für hohe Beschleunigung und relativ kurze Reichweite – jedenfalls nach dem Maßstab interplanetarischer Entfernungen.
Als das Flaggschiff getroffen und die Triebwerke der Conqueror II ausgefallen waren, verlief ihre weitere Umkreisung des Doppelsterns antriebslos, und sie blieb hinter den übrigen Schiffen der Flottenreserve zurück. Um ihre Geschwindigkeit dem Flaggschiff anzupassen, musste auch die Queen Julia ihre Geschwindigkeit drosseln. Wenn aber beide Schiffe antriebslos blieben, würden sie die Umkreisung Spicas in einem Winkel verlassen, der um dreißig Grad von dem vorausberechneten Kurs abwich. Ihre Geschwindigkeit sorgte dafür, dass sie der Anziehungskraft des Doppelsternsystems entkommen und die klassische Reise in die Unendlichkeit antreten würden – der Schrecken aller Raumfahrer.
»Keine Antwort, Commander«, meldete der Nachrichtenoffizier.
»Versuchen Sie es weiter.«
»Jawohl, Sir.«
»Wann werden wir eine Rettungsmannschaft an Bord schicken können?«, fragte er seinen Ersten Offizier.
»Nicht eher als in vier Stunden, Commander. Unsere lebenserhaltenden Systeme können sich kaum der Hitze erwehren. Wollten wir jetzt Männer in Schutzanzügen hinausschicken, würden sie langsam im eigenen Saft gebraten.«
Phillip unterdrückte eine Verwünschung. Zwar waren sie inzwischen nicht mehr in Gefahr, von einem feindlichen Geschoss getroffen zu werden, doch gab es offensichtlich keine unmittelbare Möglichkeit, etwas für Drake und sein Schiff zu tun. Ob sie dort lebten oder starben, würde allein davon abhängen, wie stark das Flaggschiff beschädigt worden war. War zum Beispiel die Klimaanlage der Conqueror II ausgefallen, so würden sie an Überhitzung gestorben sein, bevor jemand zu ihnen vordringen konnte.
»Bethany!«, schrie Drake noch einmal, während er an den Gurten zerrte, die ihn gefangen hielten. Schreien war kein Zeichen militärischer Haltung, schon gar nicht für einen kommandierenden Admiral, aber Haltung und Würde kümmerten ihn jetzt nicht. Nur auf das Schicksal seiner Frau kam es jetzt an.
Die Bildschirme waren ebenso dunkel wie die Deckenbeleuchtung. Nur die Notbeleuchtung erhellte seine Befehlszentrale und den angeschlossenen Raum der Flotteneinsatzleitung. Da beide Räume ohne Luft waren, musste das Geschoss oder was immer das Schiff getroffen hatte, durch den Hangar gekommen sein. Das war so ziemlich der einzige Weg, den eine Waffe nehmen konnte, um das Gehirn der Flotte zu erreichen, ohne zuvor die Conqueror zu zerstören.
Nach unerträglichen fünfzehn Sekunden entdeckten Drakes behandschuhte Finger den Auslöser am Schnellverschluss seiner Gurte.
Nach einer Ewigkeit als Gefangener in seinem Liegesitz schwebte er plötzlich. Vorsichtig drehte er den Körper herum, bis er Bethany vor sich hatte. Mit Herzklopfen zog er sich näher und schaltete seine Helmlampe ein. Sie blinzelte in das helle Licht und hob einen ballonartig aufgeblasenen Arm, um die Augen zu beschirmen.
»Alles in Ordnung?«, rief er ihr zu.
Ihre Lippen bewegten sich, aber kein Ton kam heraus. Er beugte sich näher, drückte seinen Helm an ihren und wiederholte laut rufend seine Frage.
»Ja, alles in Ordnung«, kam die gedämpfte Antwort. »Was ist passiert?«
Statt zu versuchen, das Gespräch mit voller Lautstärke fortzusetzen, warf er einen Blick auf die Batterieanzeige ihres Anzugs. Die Antwort auf ihr Verständigungsproblem war dort in Gestalt einer bernsteingelben Kontrollleuchte. Ihr Funksprechgerät war umgeschaltet und funktionierte über ein fiberoptisches Kabel zur Konsole. Er schaltete das Gerät auf Batteriebetrieb um.
»Kannst du mich jetzt hören?«
»Laut und klar«, kam ihre ängstlich klingende Stimme aus seinem Helmlautsprecher. Aber es war auch ein Unterton von Erleichterung herauszuhören.
»Wir wurden getroffen«, sagte er in Beantwortung ihrer ersten Frage.
»Wie schlimm ist es?«
»Ich weiß es nicht. Alles scheint ausgefallen zu sein. Das könnte das ganze Schiff betreffen oder bloß einen Abschnitt. Ich mache dich jetzt los, und dann sehen wir, ob wir den Umfang des Schadens feststellen können.«
»Was ist mit den Ryall?«
Er blickte auf die Uhr. »Wir entfernen uns rasch von ihnen. Wahrscheinlich besteht keine Gefahr mehr. In rund einer Minute werden wir außer Reichweite verirrter Raketen sein.«
Tatsächlich war eine verirrte Rakete nach Drakes Einschätzung das geringste ihrer gegenwärtigen Probleme. In einem Feuerball atomisiert zu werden war ein weitaus schnellerer und sauberer Tod als eine der anderen Möglichkeiten, die ihnen drohten. Im Licht seiner Helmlampe untersuchte er die Kontrollanzeigen am Schutzanzug seiner Frau. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er den rot glimmenden Zahlen, die den Druck im Inneren des Anzugs anzeigten. Er schien gleichmäßig, aber eingebaute Sensoren waren nicht immer zuverlässig.
»Wie sind deine Ohren?«
»Größer als gut für mich ist, sagte mir mein Onkel, als ich ein kleines Mädchen war.«
»Kein Knacken?«
»Nein, der Druck ist gleichmäßig. Und bei dir?«
»Genauso«, meldete er.
Erleichtert ließ er den Lichtkegel seiner Stirnlampe durch den Raum wandern. Der Grund, dass sie sich im Vakuum befanden, war offensichtlich. In der Trennwand zwischen dem Raum der Flotteneinsatzleitung und dem Hangar gähnte ein meterweites Loch. Er wandte sich um und sah ein passendes Loch auf der anderen Seite im Schott.
»Es kam durch den Hangar herein, flog durch den Raum und die Trennscheibe und dann nach achtern durch das Schott. Ich würde sagen, unser Kleiner hatte großes Glück, dass er heute nicht zum Waisenkind geworden ist.«
Sie wandte den Kopf zu dem Loch in der Wand hinter ihnen, und ihre Stimme war ein wenig zittrig, als sie sagte: »Es sieht so aus, als wäre es nur fünfzig Zentimeter über unsere Köpfe geflogen.«
»Eher dreißig«, erwiderte er.
Was immer es gewesen sein mochte, es war nicht groß und sehr schnell gewesen. In einer Hinsicht hatten sie Glück gehabt. Mit weniger Energie hätte es nicht beide Schotts sauber durchschlagen. Statt dessen wäre es abgeprallt und als Querschläger kreuz und quer im Raum herumgefetzt und hätte sie beide in Hackfleisch verwandelt.
»Sieh mal nach draußen, Richard!«
Drake wandte sich um und leuchtete mit seine Helmlampe durch die zerborstene Trennscheibe im Raum der Flotteneinsatzleitung umher. Einige seines Stabes hatten nicht sein Glück gehabt. Rote Tröpfchen gefriergetrockneten Blutes trieben überall, und wenigstens zwei der Schutzanzüge, die vor den Sensorkonsolen angeschnallt waren, hatten keine Helme – und Köpfe.
Drake biss die Zähne zusammen. Als sein Licht den roten Dunst durchdrang, bemerkte er mit Erleichterung, dass sich jemand bewegte.
»Wer ist das?«, fragte er.
»Admiral Drake?«, antwortete eine Stimme.
»Ja.«
»Stabschef Swithers, Sir.«
»Ist noch jemand bei Ihnen am Leben, Swithers?«
»Commander Considine, Sir.«
»Was ist mit Commodore Parkinson? Den Lieutenants Powell und Frank?«
»Tot, Sir.«
Drake wurde schwer ums Herz. Das Todesurteil über drei Mitglieder seines Stabes zu hören kam ihn fast noch härter an als der Anblick des Gemetzels. Seine erste Regung war, Swithers zu helfen, aber seine Pflicht lag anderswo.
»Wenn Sie Überlebende finden, helfen Sie ihnen zur Krankenstation. Meine Frau und ich werden sehen, ob wir einen Schadenbeseitigungstrupp finden können, der Ihnen hilft. Ich muss feststellen, was im Rest des Schiffes vorgeht.«
»Ja, Sir.«
»Wir gehen nach achtern. Nachdem Sie und Considine den Überlebenden geholfen haben, oder wenn es keine anderen Überlebenden gibt, gehen Sie bitte nach vorn, um dort mit Überlebenden Verbindung aufzunehmen. Haben Sie verstanden?«
»Ja, Sir.«
»Viel Glück!«
»Ihnen auch, Sir.«
Drake wandte sich an Bethany und nickte ihr zu. »Komm mit.«
»Sollten wir nicht versuchen, ihnen zu helfen?«
Er schüttelte den Kopf und vergaß wie zuvor, dass sie die Kopfbewegungen in seinem Helm nicht sehen konnte. »Das Wichtigste ist jetzt eine Bestandsaufnahme, damit wir wieder eine Ordnung in dieses Chaos bringen können. Jede Sekunde, die wir antriebslos treiben, entfernen wir uns weiter von unserem Kurs und dem Rest der Flottenreserve. Wir müssen die Maschinen und Triebwerke wieder in Gang bringen. Das hat Vorrang.«
Er führte sie durch eine Luke und in einen der Längskorridore des Schiffes. Schon nach einem Dutzend Metern kamen sie an eine geschlossene luftdichte Tür, die von einem gelben Blicklicht erhellt wurde. Die Anzeige über einem kleinen Fenster aus Panzerglas verriet Drake, dass auf der anderen Seite Druck herrschte.
Zwei Meter jenseits der geschlossenen Tür war eine weitere, gleichfalls mit einem gelben Blinklicht. Er griff nach dem Handrad des manuellen Ventils unter dem Fenster und forderte Bethany auf, sich festzuhalten. Als er das Handrad aufdrehte, wurde sein Anzug von einem Luftzug getroffen, der nach wenigen Sekunden wieder aufhörte.
»Was tust du?«, fragte Bethany.
»Ich lasse die Luft zwischen diesen zwei Türen ab, um eine Luftschleuse zu machen«, erwiderte er. Damit öffnete er die Schließhebel der luftdichten Tür und zog sie auf. Er winkte seiner Frau, in den kleinen Raum hinter der Tür zu treten, folgte ihr und wiederholte den Prozess in umgekehrter Reihenfolge. Als die Tür wieder dicht schloss, drehte er sich um und öffnete das Ventil auf der anderen Seite. Diesmal endete der momentane Luftzug damit, dass sein Schutzanzug um ihn erschlaffte. Daraufhin öffnete er die zweite Tür und entdeckte, dass der Korridor dahinter von dichtem rauchigem Dunst erfüllt war. Die warnenden roten Blinklichter im Korridor verliehen dem Dunst ein gespenstisches Aussehen, das an Dantes Inferno erinnerte.
Es passte vollkommen zur Gesamtlage.
Zwölf Stunden später hatte sich die Lage stabilisiert und der Zustand des Schiffes war statt verzweifelt nur noch kritisch. Was immer das Trümmerstück gewesen war, es hatte das Tor zum Hangar ungefähr ein Dutzend Meter vom Rand des Rückenquadranten getroffen. Es war ein typischer Übergeschwindigkeitstreffer gewesen, was das saubere runde Loch von zehn Zentimetern Durchmesser im gepanzerten Tor des Hangars erklärte. Unglücklicherweise bestimmte die Physik von Kollisionen mit Übergeschwindigkeit, dass der Eintrittspunkt nur die Spitze eines langen Kegels von Zerstörung war. Die geschwindigkeitsbedingte Umwandlung in Plasma verringerte nämlich keineswegs die tödliche Energie des überschnellen Materiebrockens. Im Gegenteil, sie verstärkte die Zerstörung. Der hoch erhitzte Plasmastrahl blieb auf dem ursprünglichen Kurs, durchschnitt im Nu die Länge des Hangars und durchbohrte das gepanzerte Schott, hinter dem die Flotteneinsatzleitung und die Nachrichtenzentrale lagen. Die Verluste in beiden Abteilungen waren hoch, als der Plasmastrahl Menschen und Ausrüstungen verbrannte, die in seiner Bahn waren. Das Schrapnell, das Drake und seine Frau beinahe getötet hatte, war nicht Teil des Plasmakegels gewesen, sondern ein losgerissenes sekundäres Trümmerstück.
Nachdem der Plasmastrahl den Admiralstab dezimiert hatte, war er in die Maschinenräume gefahren. Dort hatte er seine Energie zwischen den Photonenresonatoren aufgezehrt, zwei davon zerstört und sechs beschädigt. Er hatte auch die Hälfte der Bordingenieure getötet, als ein kleines Stück vom gepanzerten Schott abgesplittert war und einige hundert Male im abgeschlossenen Raum der Maschinenzentrale herumfetzte, bis es schließlich im Computer der Antriebsanlage zur Ruhe kam.
Es hatte mehrere Stunden gedauert, bis die Schäden aufgenommen, die Toten zusammengetragen und die Verwundeten versorgt waren. Am Ende verzeichnete die Verlustliste einhundertsiebenundzwanzig Tote und sechzig Verwundete.
Vier Stunden nach dem Einschlag ging Phillip Walkirk an Bord des Schlachtschiffes. Unterdessen waren beide Schiffe eine Viertelmillion Kilometer über Spica. Noch immer waren sie dem Doppelsternsystem so nahe, dass optische Beschichtungen Blasen warfen, aber weit genug entfernt, dass die Klimaanlagen und lebenserhaltenden Systeme nicht mehr unter der Hitzebelastung zusammenzubrechen drohten. Drake beaufsichtigte die Reparaturen an den Maschinen, als der sandarische Kronprinz ihn fand.
»Wie schlimm ist es, Admiral?«
»Schlimm genug«, antwortete Drake. Er war froh, Walkirk zu sehen, aber zu müde, um viel Gefühl zu zeigen. »Haben Sie uns Hilfe gebracht?«
» Queen Julia hat an Ihrer Steuerbordluftschleuse angedockt. Alle, die abkömmlich waren, sind mit mir an Bord gekommen.«
»Gut. Wir können jeden gebrauchen. Wie Sie selbst sehen, hat es uns schwer getroffen. Und nach der Reparatur der Queen Julia haben Ihre Leute in der Schadensbehebung zehnmal mehr Erfahrung als meine.«
Phillip sah sich im kontrollierten Chaos um. »Ich kann nicht sagen, dass mir dieser Anblick unvertraut wäre, Admiral. Ich hatte nur gehofft, dass ich so etwas nie wieder sehen würde.«
»Das macht zwei von uns.«
»Wie geht es Bethany?«
»Glücklich, am Leben zu sein. Das Gleiche gilt für mich. Sie hilft in der Krankenstation.«
Das war vor acht Stunden gewesen. Danach hatte Drake den sandarischen Kronprinzen aus den Augen verloren. Seine Leute schienen überall zu sein. Die Hälfte der Reparaturtrupps, denen Drake begegnete, trugen die Uniform der königlich sandarischen Marine.
»Admiral, wir sind bereit, die Maschinen auszuprobieren«, meldete der amtierende Chefingenieur, ein junger Mann mit piepsiger Stimme, der sein Maschinenbaustudium noch nicht lange hinter sich hatte. Vor dem Gefecht war er Dritter Ingenieur gewesen, nun war er Leiter der Abteilung, und einer der Gründe, dass Drake die Maschinenreparaturen persönlich beaufsichtigte. Die meiste Zeit schwebte Drake nur in der Luft und überwachte die Arbeiten, was ihm zu viel Zeit zum Nachdenken gab. Trotz seiner Anstrengungen bestand sein Gehirn darauf, die wenigen turbulenten Minuten wieder und wieder abzuspulen, in denen er mehr als die Hälfte seiner Flottenreserve und beinahe sein Flaggschiff verloren hatte. Im Zeitraum von fünf kurzen Minuten waren vierzehn seiner Schiffe beschädigt und zerstört worden. So schlimm das gewesen war, die Echsenleute hatten weit höhere Verluste hinnehmen müssen. Sie hatten dreißig Schiffe einschließlich des Flaggschiffes verloren, als die Lichter ausgingen. Zwei weitere waren zerstört worden, als die Flotten sich voneinander entfernt hatten. Damit blieben ihnen acht Überlebende, von denen mindestens eins beschädigt worden war. Die meisten Sensoren zur Fernaufklärung waren ausgefallen, aber die wenigen, die noch funktionierten, zeigten eine vakuumdünne Wolke von Sauerstoff und Wasserdampf um das fliehende Ryall-Geschwader. Sauerstoff und Wasserdampf waren sichere Zeichen eines Lecks, und vielleicht gab es davon sogar mehr als eins.
Die Geschichte, dachte er bei sich, würde das jüngste Gefecht bei Spica als einen taktischen Sieg der Menschheit verzeichnen. Schließlich hatten die Ryall Hunderte von Schiffen und Zehntausende von Kriegern geopfert, um einen Durchbruch zu erzielen, und nach ihrem Treffen mit Drakes Flottenreserve war die durchgebrochene Streitmacht auf acht Schiffe zusammengeschmolzen. Und auch diese Stärke würden sie nicht lange behalten. Admiral Gower hatte inzwischen sechs Kriegsschiffe entsandt, um diese Überlebenden abzufangen und zu vernichten.
Das einzige Problem war, dass der taktische Sieg einen schalen Geschmack hinterließ. Wie konnte etwas ein Sieg sein, das so viele Menschenleben gekostet hatte? Die plötzliche Rückkehr von Gewicht unter seinen Stiefeln unterbrach den Gedankengang. Langsam baute sich Schwerkraft auf und erreichte nach seinem Gefühl die Hälfte der Standardschwerkraft.
»Maschinen sind betriebsbereit, Admiral. Wir können wieder manövrieren«, meldete der junge Ingenieur.
»Ausgezeichnet, Mr. Achmed. Sagen Sie Captain Carter, dass er anfangen kann, unsere Bahn zurück zur Flotte zu berechnen.«
»Jawohl, Sir. Wo werden Sie sein, Admiral, falls er es wissen möchte?«
Drake, der sich zum Gehen gewandt hatte, machte noch einmal kehrt. »Sagen Sie dem Kapitän, dass ich in meiner Kajüte sein werde. Ich schlage vor, dass Sie einen Wachwechsel vornehmen und das Gleiche tun. Sie sehen aus, als würden Sie sich nicht mehr lange auf den Beinen halten können.«
»Mir fehlt nichts weiter, Sir.«
»Das ist ein Befehl, Lieutenant. Sie sind jetzt Chefingenieur. Lernen Sie Aufgaben zu delegieren.«
»Jawohl, Sir.«
Erschöpft tappte Drake zurück zu seiner Kajüte. Er dachte daran, Bethany zu suchen, entschied aber, dass er zu müde sei. Der Verlust der Hälfte seiner Streitmacht war schlimmer gewesen als der Verlust eines Armes oder eines Beines. Tatsächlich hätte er gern beides gegeben, um nur ein einziges Schiff zu retten. Als er die Admiralskajüte erreichte, legte er den Schutzanzug ab, den er fast einen Tag lang getragen hatte. Es gelang ihm gerade noch, die Sicherheitskontrolle einzuschalten, bevor er in einen traumlosen Schlaf fiel. Die Hand seiner Frau an seiner Schulter weckte ihn. »Wach auf, Schatz.«
Drake schlug die Augen auf. Irgendwann während der Nacht hatte er sich auf den Rücken gewälzt. Er blinzelte, und einen Augenblick später stemmte er sich auf die Ellbogen und blickte umher. Maschinengeräusche durchdrangen die Schotte, und er fühlte sich von einer gleichmäßigen Beschleunigung auf das Feldbett gedrückt. Es dauerte einen Moment, bis er sich erinnern konnte, wo er war. Phillip Walkirk stand hinter Bethany und blickte auf Richard nieder.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte er.
»Beinahe zwanzig Stunden.«
»Was ist mit dem Schiff?«
»Der Kapitän sagt, er habe auf ein g beschleunigt, und wir wären auf Kurs zum Faltpunkt Darthan, um die Blockade zu verstärken.«
»Können wir dort ankommen, bevor sie wieder einen Durchbruch versuchen?«
»Nein, Richard«, antwortete Bethany. »Vor ungefähr einer Stunde unternahmen sie einen weiteren Versuch. Sergej Gower meldet, dass es eine große Kraftanstrengung war und dass wir den Durchbruch verhinderten. Die Ryall sollen annähernd zweihundert Schiffe verloren haben, bei nur zehn eigenen Verlusten.«
»Was?«, sagte er. »Das kann nicht sein.«
»Aber es ist so«, beharrte sie.
»Dann ist der Versuch zu früh gekommen. Die Durchbruchsstreitmacht kann erst in weiteren vierzig Stunden zum Faltpunkt zurückkehren. Die Ryall würden nichts versuchen, solange diese Streitmacht nicht in Position ist, sie zu unterstützen.«
»Aus irgendeinem Grund müssen sie den Operationsplan vorverlegt haben«, meinte Phillip. »Sie haben inzwischen Zeit gehabt, zur Kommunikation Relaisstationen zwischen ihren größeren Heimatsystemen einzurichten. Als sie die Zahl der Schiffe, die beim letzten Versuch durchbrachen, ermittelten, erkannten sie vielleicht, dass es nicht genug war. Vielleicht war der Durchbruch dieser relativ kleinen Streitmacht eine List, um uns zu verwirren. Oder sie drehten einfach durch. Was immer der Grund sein mag, sie unternahmen vor einer Stunde einen Hauptangriff zum Durchbrechen der Darthan-Blockade und mussten teuer dafür bezahlen.«
Drake überdachte, was er gehört hatte, kam etwas wankend auf die Beine und tappte zum kleinen Waschbecken der Kajüte. Kaltes Wasser half ihm, den Schlaf aus den Augen zu vertreiben.
Endlich gab er sich einen Ruck und blickte in den Spiegel. Das Gesicht, das ihm dort entgegenstarrte, war das eines Fremden, eines alten Mannes mit dicken Tränensäcken unter den blutunterlaufenen Augen.
»Wissen Sie, Phillip«, sagte er, »als ich damals den Angriff auf Spica plante, schien es eine einfache taktische Aufgabe. Wir würden mit starken Kräften in das System eindringen, den Feind überraschen und seine Faltpunkte blockieren, bis Wirtschaft und Verkehrswesen der Ryall zusammenbrechen würden. Danach würden wir die Invasion in ihren Bereich fortsetzen und den restlichen Widerstand in einem System nach dem anderen erledigen. Alles sauber, chirurgisch, elegant. Und jetzt sehen Sie uns an.«
»Wir schlugen sie zurück, Admiral, das ist die Hauptsache«, sagte Phillip.
Drake sah den Sandarer im Spiegel an. »Wirklich, Commander? Ist es die Hauptsache für all jene gewesen, die gestern so fern der Heimat gefallen sind? Es war leicht genug, die Beute zu ergreifen. Warum ist es so verdammt schwierig, sie festzuhalten?«
»Weil wir einen starken Feind haben, dessen Überleben davon abhängt, dass er die Beute unserem Griff entreißt«, erwiderte Walkirk. »Sie müssen uns besiegen. Sie haben keine andere Wahl. Genauso geht es uns. Wir müssen verhindern, dass wir besiegt werden. Auch wir haben keine andere Wahl. Wenn wir die Leben aller Menschen opfern müssen, die jetzt in diesem System sind, Admiral, wird es das Opfer wert sein – wenn wir uns denn behaupten können.«
»Wie, wenn unsere Bevölkerungen und nach ihnen die Entscheidungsträger die Geduld verlieren, wenn sie immer neue Verlustmeldungen erhalten?«, fragte Drake in einem Ton, der mehr wie ein Hilferuf denn wie eine Frage klang.
»Deshalb bin ich hier herausgekommen, Richard«, sagte Bethany. »Ich glaube, ich weiß, wie dieser verdammte Krieg beendet werden kann, bevor die eine oder die andere Seite ausgerottet wird.«
Drake verlagerte seinen Blick von Phillip zu seiner Frau, ohne sich vom Spiegel abzuwenden. Trotz ihres ungewaschenen Gesichts und der Haare, die allzu lange ungekämmt geblieben waren, und trotz des Overalls, der eine Menge besser unidentifizierter Flecken trug, war sie noch immer die schönste Frau, die er je gesehen hatte.
»Ich denke, ich bekehre mich zu deiner Ansicht, Frau! Wenn es noch viel länger so weiter geht, wird die Hälfte der Parlamente und Regierungen im menschlichen Raum nach einer ›Endlösung‹ des Ryall-Problems schreien. Sie werden uns die totale Vernichtung ihrer Welten befehlen, um endlich reinen Tisch zu machen. Aber nur der Himmel weiß, wie viele gute Leute wir in einem Ausrottungskrieg ›verbrauchen‹ werden.«
»Oder ob wir es überhaupt schaffen könnten«, sagte Phillip.
»Auf ihrer Seite der Faltpunkte sind sie so stark wie wir auf unserer.«
»Lasst uns wenigstens versuchen, dem Blutvergießen ein Ende zu machen«, bat Bethany. »Wenn Verhandlungen nicht zum Erfolg führen, bleibt noch immer die Option der Weltenvernichtung. Wir gehen hinein, wir sprechen zu ihnen, wir sagen ihnen, dass wir bereit sind, ihre Welten zu vernichten, und dann verlangen wir ihre Kapitulation. Wer weiß, vielleicht wird ihre Intelligenz imstande sein, wenigstens dieses eine Mal ihre Instinkte zu überstimmen.«
»Wie?«, fragte Phillip.
Bethany wandte sich ihm zu. »Was ›wie‹?«
»Wie sprechen wir mit ihnen? Das erste unserer Schiffe, das auf ihre Seite des Faltraumes erscheint, wird verdampft, bevor es eine Botschaft senden kann. Das ist eines der Probleme im Kampf mit Fremden. Es ist uns nicht möglich gewesen, die Regeln für einen Waffenstillstand auszuarbeiten.«
»Es muss aber einen Weg geben«, sagte Bethany hartnäckig. Drake, der das Gespräch im Spiegel beobachtet hatte, wandte sich ihnen zu. Die Bewegung machte ihn schwindeln. Er betrachtete seine Frau und den sandarischen Prinzen, und zum ersten Mal seit seinem Erwachen sah Bethany etwas anderes als Niedergeschlagenheit in seinen Augen.
»Vielleicht weiß ich einen Weg«, sagte er, bevor er die Stirn runzelte und einen Ausdruck plötzlicher Konzentration annahm, den Bethany gut kannte. Genauso angespannt konzentriert hatte sie ihn gesehen, als er zuerst den Plan zur Invasion Spicas ausgebrütet hatte.