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»Bringen Sie das Zentralgestirn auf den Bildschirm, Mr. Cristobal!«
»Kommt gleich, Captain.«
Ein paar Sekunden vergingen, bevor der Bildschirm wieder aufleuchtete und eine gelblich weiße Scheibe ins Bild kam. Die einzigen Merkmale an der Oberfläche des Sternes waren ein halbes Dutzend Sonnenflecken, die in unregelmäßiger Anordnung über die glühende Plasmasee verstreut waren. Wenn sie auch groß genug waren, um hundert Planeten von der Größe Altas zu verschlucken, stellten die Flecken nur geringfügige Unreinheiten im Antlitz des Sterns dar.
»Wir warten auf Bestätigung, Mr. Cristobal«, sagte Drake nach einer Weile.
»Äh, tut mir leid, Sir. Der Datenabgleich dauerte etwas länger. Es ist Sol, kein Zweifel. Das Spektrum zeigt völlige Übereinstimmung.«
»Danke. Mr. Haydn, schalten Sie diese Ansicht auf Kanal Zwei und bringen Sie das taktische Diagramm auf den großen Bildschirm.«
»Ja, Sir.«
Das Bild wechselte wieder, diesmal zu einer computergenerierten schematischen Darstellung des Raums in der Nachbarschaft des Sol-Goddard-Faltpunkts. Das Bild füllte sich rasch mit Symbolen, die einen Eindruck von der räumlichen Verteilung der Verteidigungsanlagen um den Faltpunkt vermittelten. Auf der Brücke der Discovery wurden mehrere leise Pfiffe hörbar, als das ganze Ausmaß der Sicherungen deutlich wurde.
Radar und Infrarotsensoren hatten rasch Tausende von Objekten geortet, die im Raum um den Faltpunkt verstreut waren. Jedes hatte die Größe eines kleinen Landungsbootes und bestand aus offenem Gitterwerk, Treibstofftanks und einem starken Photonenantrieb. Das nächste derartige Objekt war weniger als tausend Kilometer von der Discovery entfernt und wurde durch Instrumente und Teleskopbeobachtung vorläufig als eine selbststeuernde Orbitalmine mit hohem Beschleunigungsvermögen identifiziert.
Jenseits der Peripherie des Faltpunktes waren in einem weiten Bogen annähernd zweihundert Orbitalfestungen stationiert. Die Beobachtung der nächsten durch das Teleskop zeigte, dass sie von Laserkanonen, Antimaterieprojektoren, Raketenabschussanlagen und Antennen aller Art starrten. Außerdem schien es mehrere Pforten zu geben, durch die bemannte Abfangmaschinen gestartet werden konnten. Nach der Energiemenge zu urteilen, die in solch einer Orbitalfestung schlummerte, war sie jeder normalen Kriegsflotte gewachsen. Als ob die Reihe der Orbitalfestungen noch nicht genug wäre, machte das Langstreckenradar der Discovery drei Formationen Kriegsschiffe aus, die in verschiedenen Entfernungen vom Faltpunkt so stationiert waren, dass sie die direkte Route zur Erde sperrten. Jede der drei Formationen schien hauptsächlich aus Großkampfschiffen und schweren Kreuzern zu bestehen.
Drake rief die Strahlungsmessstation der Feuerleitzentrale.
»Wie ist das elektromagnetische Spektrum, Mr. Benson?«
Das gefurchte Gesicht des Technikers lächelte. »Fehlt nicht viel, und Sie könnten auf unserem Rumpf Spiegeleier braten, Captain, so dick kommt die Strahlung herein! Ich habe 1312 verschiedene Quellen von elektromagnetischer Strahlung in der weiteren Nachbarschaft identifiziert – alles ist vertreten, von Such- und Feuerleitradar bis zu Richtfunk und Lasern zur Entfernungsmessung.«
»Lassen Sie mich wissen, wenn es sich ändert.«
»Jawohl, Sir.«
»Mr. Cristobal, wo ist die Teddy Roosevelt?«
»Zehntausend Kilometer querab auf backbord, Sir. Beinahe genau im galaktischen Norden. Sie beschleunigt und scheint Treffpunkt anzusteuern.«
»Wann kommt die Alexandria durch?«
»In zwei Minuten und zwölf Sekunden, Sir.«
»Alle Sensoren eingeschaltet?«
»Ja, Sir. Aufzeichnung läuft.«
»Sehr gut. Melden Sie mir ihre Ankunft.«
Als die Zeit abgelaufen war, erschien plötzlich der umgebaute Transporter sechstausend Kilometer vor der Discovery.
»Botschaft von der Teddy Roosevelt, Captain«, sagte der Nachrichtenoffizier.
»Verbinden Sie mich, Mr. Haydn.«
»Kanal Drei, Sir.«
Drake wandte sich dem genannten Bildschirm zu, wo Admiral Ryersons Züge erschienen. »Ja, Sir?«
»Sie sind abgefertigt und haben Erlaubnis, ins Sonnensystem einzutreten, Captain. Bitte steuern Sie Ihre Schiffe zum Hauptverkehrskorridor, wie zuvor instruiert.«
»Jawohl, Sir.«
Ryerson blickte zur Seite, dann wieder in die Aufnahmekamera. »Wir berechnen Rendezvous in vierzig Minuten. Also bis dann. Und, Drake ...«
»Ja, Sir?«
»Willkommen daheim!«
Varlan von den Duftenden Wassern lag in ihrer Kabine vor dem Bildschirm und betrachtete die leuchtende Doppelwelt in seiner Mitte. Beide zeigten die kleinen Halbmondformen, was bedeutete, dass sie dem Zentralgestirn näher waren als das Kriegsschiff, wo Varlan gefangen gehalten wurde. Die größere der beiden Welten war von einem leuchtenden Blau und Weiß, während der kleinere Begleiter von einem stumpfen Gelblichgrau zu sein schien. Varlan betrachtete die beiden Welten ohne besonderes Interesse, denn ihre Gedanken beschäftigten sich mit den jüngsten Ereignissen.
Als Bethany von den Lindquists mit ihren täglichen Interviews angefangen hatte, hatte Varlan darin eine Möglichkeit gesehen, die Langeweile der Gefangenschaft abzuwenden. Die Gespräche waren intellektuelle Übungen gewesen, in denen sie versucht hatte, das Geheimnis zu ergründen, warum Menschen so handelten, wie sie es taten. Und da Bethany von den Lindquists tatsächlich der einzige Mensch war, den Varlan je zu sehen bekam, beschränkten sich die Übungen bald auf den Versuch, zu verstehen, warum Bethany sich so verhielt, wie sie es tat.
Das erste unter den vielen Rätseln, vor die Bethany sie stellte, war ihre standhafte Weigerung, das logische Paradoxon in ihrer Idee zu sehen, dass Zusammenarbeit zwischen intelligenten Spezies nicht nur möglich, sondern wünschenswert sei. Zuerst hatte Varlan daran gedacht, Bethany über diesen offensichtlich schwachen Punkt aufzuklären. Sie hatte es getan, indem sie von den vielen bitteren Lektionen erzählt hatte, die ihre Spezies während des langen Konkurrenzkampfes mit den Schnellen Essern hatte lernen müssen. Bethany aber war von ihrem Optimismus nicht abzubringen. Varlan wiederum, besorgt, dass Bethany zornig reagieren könnte, wenn ihre so sorgsam gehegte Selbsttäuschung allzu direkt herausgefordert würde, hatte ihre verbale Opposition gemäßigt. Sie hatte sogar eingeräumt, dass eine Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Spezies theoretisch möglich, wenn auch in der Praxis äußerst unwahrscheinlich sei.
Als die Flotte endlich den Bereich des Bösen Sterns verlassen hatte, hatte sich auch Varlans Stimmung eindeutig gebessert. Mit der Rückkehr in den normalen Raum hatte sie den schwarzen Himmel viele hundert Herzschläge lang abgesucht. Obwohl ihre Kenntnisse der Astronomie nicht besser als die eines durchschnittlichen Ryall waren, hoffte sie herauszubringen, ob das Schiff in die Hegemonie zurückgekehrt war. Unglücklicherweise schienen die wenigen Sternbilder, die sie identifizieren konnte, erheblich verschoben, ein Hinweis, dass sie weit von einem der Systeme entfernt waren, die sie kannte.
In dieser Zeit war Bethany von den Lindquists während ihrer täglichen Gespräche besonders guter Dinge gewesen. Auf Varlans Frage nach dem Grund ihrer Hochstimmung hatte Bethany geantwortet, dass das Schiff das Sternsystem Goddard erreicht habe. Der Name, hatte Bethany ihr mitgeteilt, sei der eines berühmten Priesterphilosophen der Vergangenheit.
Es folgten viele Tage, in denen interessante Ereignisse stattfanden, darunter die Ankunft mehrerer sehr großer Kriegsschiffe. In ihrem isolierten Gefängnis im Habitatring der Discovery überwachte Varlan das Kommen und Gehen, indem sie zählte, wie oft durch Anhalten der Rotation Schwerelosigkeit erzeugt wurde. Auch beurteilte sie den Gang der Ereignisse anhand der Veränderungen in Bethanys Stimmung. Gegen Ende der Periode schien sie besorgt und geistesabwesend und ungewöhnlich schweigsam.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Bethany von den Lindquists?«, fragte Varlan.
»Es hat nichts zu sagen«, erwiderte Bethany. »Ich ärgere mich über Admiral Gower und Richard. Aber ich werde darüber hinwegkommen.«
Auf Varlans Drängen erklärte Bethany, dass Gower sie aufgefordert hatte, etwas zu tun, was der Sippe der Lindquists Unehre machte. Bethany hatte unter Druck eingewilligt und war jetzt unglücklich darüber. Varlan wurde neugierig und fragte sie nach der Natur der Unehre, doch verweigerte Bethany nähere Auskünfte. Warum ihre Verärgerung über Gower sich auch auf Bethanys künftigen Partner erstreckte, war für Varlan nicht zu ergründen, und Bethany schien außerstande, es zu erklären.
Nachdem sie zehn Minuten lang versucht hatte, die Zusammenhänge zu verstehen, sagte Varlan: »Ich fürchte, dass ich das Paarungsverhalten von Säugern nicht gut genug verstehe, um etwas dazu zu sagen, Bethany. Ich muss aber bemerken, dass Eierlegen eine viel einfachere Fortpflanzungsmethode ist.«
Bethany machte die Lippenbewegung, die Varlan inzwischen als ein Lächeln kannte. »Da mögen Sie Recht haben.«
Es folgte eine längere Zeit, in welcher das rückwärtige Schott anstelle der leicht gekrümmten Außenwand die Funktion des Decks übernahm. Dies bedeutete, dass das Schiff beschleunigte. Varlan verbrachte die Zeit mit der Betrachtung von Filmen aus dem Unterhaltungsarchiv der Menschen und dachte darüber nach, was sie gelernt hatte. Nach mehreren Tagen folgte eine Serie von Beschleunigungsveränderungen, dann ein Sprung zu einem weiteren Sternsystem.
Während des Gesprächs, das auf diesen letzten Sprung folgte, zeigte Bethany wieder alle Symptome freudiger Erregtheit. Sie sprach schnell und lebhaft, begleitete ihre Rede mit kurzen, ruckartigen Handbewegungen, und stand zwischendurch immer wieder auf, um hin und her zu gehen.
»Was ist geschehen?«, fragte Varlan. »Haben Sie und Richard Ihre Feindseligkeiten beendet?«
Bethany schüttelte den Kopf. »Ich zeige ihm noch immer die kalte Schulter.« Das elektronische Übersetzungsgerät hatte die beiden letzten Worte nicht im Programm und konnte sie nicht interpretieren. »Aber es fällt mir immer schwerer. Er hat mir jeden Tag Blumen geschickt und mich zweimal zum Abendessen in seine Kajüte eingeladen. Ich nehme an, dass ich ihm früher oder später vergeben muss.«
»Sie scheinen nicht unglücklich zu sein.«
Bethany lachte. »Weit davon entfernt! Heute sah ich durch das große Teleskop die Erde.«
»Die Erde?«
»Unser Ziel. Der Ort, den wir erreichen wollten, als wir diese Expedition begannen.«
»Ist diese Erde ein berühmter Mensch wie Goddard gewesen?«
Bethany lachte wieder. »Nein, natürlich nicht. Die Erde ist die Zentralwelt des von Menschen bewohnten Raums.«
»Der Sitz Ihrer Regierung?«
Bethany nickte.
»Sie muss schon sehr lange kolonisiert sein, um solche Macht zu erlangen«, meinte Varlan.
»Sie verstehen nicht«, sagte Bethany mit fröhlichem Lachen.
»Die Erde ist keine Kolonie. Sie ist die Heimatwelt, wo die Menschheit sich entwickelte.«
Bald danach ging Bethany. Varlan konnte in Ruhe die Implikationen dieser neuen Information durchdenken. Von allen Lektionen, welche die Ryall während ihres langen Konkurrenzkampfes mit den Schnellen Essern gelernt hatten, war die wichtigste, dass es notwendig war, die Brutstätten zu suchen und zu vernichten. Seit sechzig Umkreisungen der Heimatwelt der Ryall um ihr Zentralgestirn hatten Krieger der Hegemonie genau das getan. Ihre Bemühungen waren gescheitert. Und doch lag die lang gesuchte Heimatwelt der Menschen bloße zwei interstellare Sprünge jenseits des Bösen Sterns – in bequemer Reichweite einer starken Kriegsflotte!
Plötzlich wusste Varlan, welche Aufgabe ihr das Schicksal zugedacht hatte. Sie musste diese entscheidende Information auf irgendeinem Weg den Regierenden zuleiten. Sie beobachtete den weißblauen Planeten und seinen gelbgrauen Begleiter und überlegte, wie solch eine Aufgabe gelöst werden konnte.
Bethany Lindquist wälzte sich in ihrer Koje herum, stützte sich auf einen Ellbogen und brachte ihr Kissen zum sechsten Mal in Ordnung. Dann legte sie sich auf den Bauch und versuchte die durcheinander schießenden Gedanken aus ihrem Bewusstsein zu verbannen. Nach etlichen langen Minuten, in denen sie sich mit einer Willensanstrengung zwingen wollte, nicht zu denken – und infolgedessen nur noch aktiver dachte –, hob sie den Kopf und öffnete die Augen, um auf die Uhr auf dem Nachttisch zu sehen. Die roten Digitalziffern glommen sie unfreundlich an. 01:37. Seufzend setzte sie sich auf, schwang die bloßen Füße auf den Teppichboden und stand auf. Im Dunkeln tastete sie nach ihrem Morgenmantel, schlüpfte in seine seidige Umarmung und zog den Gürtel zu. Sie bewegte sich zur Tür und öffnete sie. Ein Rechteck blauer Nachtbeleuchtung vom Korridor lag vor ihr. Sie trat hinaus, schloss die Tür hinter sich und tappte in die Richtung der Offiziersmesse. Während sie durch das menschenleere Schiff ging, dachte sie über die möglichen Gründe ihrer Schlaflosigkeit nach.
Der erste war natürlich der Umstand, dass sie am folgenden Tag die Parkumlaufbahn um die Erde erreichen würden. Während der Reise vom Sol-Goddard-Faltpunkt hatte sie Stunden damit verbracht, die wachsende Erde auf dem Bildschirm zu betrachten. Wie sie von einer undeutlichen kleinen Scheibe zu einer lebendigen Welt geworden war. Die Ähnlichkeit der Erde mit Alta war ihr aufgefallen, aber die Korrelation, sagte sie sich, war natürlich andersherum. Sie hatte die unmöglich dünne Linie der Erdatmosphäre beobachtet und an die vielen tausend Generationen gedacht, die unter ihrer schützenden Lufthülle gelebt hatten. Sie hatte die Weiten der Ozeane unter den weißen Wolkenwirbeln betrachtet und sich aller Bilder erinnert, die sie von Korallenriffen, Segelschiffen, Wracks und Eisbergen gesehen hatte. Staunend hatte sie die vertrauten Umrisse von Kontinenten angestarrt, die mit eigenen Augen zu sehen sie nie erwartet hatte. In Anbetracht der Begeisterung über ihre Ankunft am Ziel der Reise war es kein Wunder, dass sie Schlafstörungen hatte.
Die zweite Angelegenheit, die Bethany wachhielt, war der Durchbruch, den sie an diesem Tag in ihren Gesprächen mit Varlan erzielt hatte. Das Gespräch hatte wie manche anderen damit begonnen, dass Varlan über die Philosophie und Weltanschauung der Ryall gesprochen hatte. Dann hatten sie darüber diskutiert und waren auf ihr erstes Gespräch auf Corlis zu sprechen gekommen, als sie die Einstellungen von Menschen und Ryall zu ihren Sprösslingen verglichen hatten. Bethany hatte von der Liebe menschlicher Eltern zu ihren Kindern gesprochen, und Varlan hatte bekräftigt, dass die Ryall für ihre Sprösslinge ähnlich empfanden.
»Aber Sie können nicht wissen, wer Ihre Kinder sind!«, hatte Bethany gesagt.
»Natürlich nicht. Wenn die Zeit zum Eierlegen kommt, weiß ich instinktiv, was zu tun ist, auch wenn es für mich das erste Mal ist. Ich grabe ein Loch in warmen Sand, lege die Eier ab und bedecke sie mit dem Sand. Hinterher habe ich kaum eine Erinnerung an den Vorgang. Wenn ich meine eigenen Jungen zu kennen wünschte – ein Verlangen, das von meinem Volk als krankhaft betrachtet würde –, müßte ich jemanden bitten, mein Nest zu markieren und zu bewachen, bis die Eier ausgebrütet sein würden. Aber in der Ryallgesellschaft ist es nicht notwendig, die eigenen Eltern zu kennen. Die Jungen werden kollektiv aufgezogen und genauso geliebt und umhegt wie Ihre menschlichen Sprößlinge.«
»Sehen Sie, unsere zwei Arten haben doch etwas gemeinsam«, erwiderte Bethany.
Varlan dachte lange darüber nach. Zuletzt sagte sie langsam und bedacht: »Vielleicht haben Sie Recht, Bethany von den Lindquists. Vielleicht sind wir einander ähnlicher, als ich zuerst glaubte.«
Darauf folgte eine lange Diskussion, in deren Verlauf Varlan einräumte, dass sie sich über die Unausweichlichkeit eines Konflikts zwischen den Arten geirrt haben könnte. Bald danach hatte Bethany das Gespräch beendet, um dem fremdartigen Konzept Zeit zu geben, in Varlans Bewusstsein zu reifen.
Bethany dachte noch immer an Varlan, als sie in die kleine Kombüse neben der Offiziersmesse kam, deren Kühlschrank für die Offiziere der Wache reichhaltig bestückt war. Sie hatte sich vorgenommen, etwas Milch zu wärmen und in ihre Kabine zu tragen. Da sie nicht erwartet hatte, um diese Zeit jemanden anzutreffen, war sie überrascht, Gregg Oldfield vor einem Teller mit Aufschnitt und Käse neben der kleinen Anrichte sitzen zu sehen.
»'n Abend, Miss Lindquist«, sagte der Erste Sekretär und schnitt sich ein Stück Käse ab.
»Guten Morgen, Mr. Oldfield!«
»Ja, richtig. Aber bitte, sagen Sie ruhig Gregg zu mir.«
»Und Sie dürfen Bethany zu mir sagen, Gregg.«
»Nehmen Sie einen Imbiss mit mir, Bethany?«
»Nein danke. Ich bin bloß gekommen, mir ein Glas Milch zu holen.«
»Klingt gut. Schenken Sie mir auch eins ein?«
»Warm oder kalt?«
»Kalt, bitte.«
Bethany trat an den Kühlschrank, nahm zwei Trinkbeutel heraus und schob einen in den Wärmer. Eine Minute später saß sie mit Oldfield an der Anrichte.
»Konnten Sie nicht schlafen?«, fragte der Diplomat.
»Nein. Ich bin einfach zu aufgeregt über den morgigen Tag.«
»Das wird ein großer Tag für Sie, denke ich mir.«
»Auf das, was morgen stattfinden wird, hat meine Familie sechs Generationen lang gewartet«, sagte Bethany. »Ja, unter diesem Aspekt wird es ein großer Tag!«
»Ich wollte Sie schon danach fragen«, sagte Oldfield. »Macht es Ihnen etwas aus, mir zu sagen, wie es dazu gekommen ist, dass Sie die Vertreterin des Botschafters der Erde auf Alta sind?«
Bethany erzählte die Geschichte von Granville Whitlow und seinem zwanghaften Pflichtgefühl, nach dem Verschwinden des Faltpunktes eine irdische Präsenz auf Alta zu erhalten. Sie berichtete von dem Abkommen, das Whitlow geschlossen hatte, um die Nutzung der drei Schlachtkreuzer der Großen Flotte durch die neu gebildete Marine der Kolonie zu ermöglichen, von den Generationen der Whitlows, die den Traum mehr als ein Jahrhundert lang am Leben erhalten hatten. Als sie geendet hatte, musterte der Erste Sekretär sie mit neuem Respekt.
»Davon hatte ich keine Ahnung. Ich werde diese Angelegenheit meinen Vorgesetzten zur Kenntnis bringen müssen, wenn wir landen. Solche Loyalität sollte belohnt werden.«
»Ich möchte nur die Berichte und Papiere meines Onkels in die richtigen Hände übergeben.«
»Wenn ich etwas zu sagen habe, dann werden Sie die Unterlagen dem Koordinator persönlich überreichen.«
Die Brücke der Discovery war überfüllt. Außer Richard Drake und dem Stammpersonal waren Admiral Gower, seine Stabsoffiziere, der Erste Botschaftssekretär Oldfield und Bethany Lindquist anwesend. Drake hatte in aller Eile zusätzliche Beschleunigungssitze herbeischaffen und verankern lassen. Sie erschwerten das Durchkommen im Brückenraum und beeinträchtigten Drakes Gesichtsfeld, aber er nahm diese Unbequemlichkeiten mit Freuden auf sich, denn auf diese Weise konnte Bethany den Platz des Beobachters einnehmen, den sie so lange gemieden hatte.
»Ich kann die Annäherung in meiner Kabine verfolgen«, hatte sie auf seine Einladung, das Geschehen auf der Brücke zu beobachten, geantwortet.
»Du wirst nichts dergleichen tun. Wir haben diese Reise zusammen angetreten, und wir werden sie genauso beenden!«
»Meinetwegen«, hatte sie eingelenkt. Später, als sie auf die Brücke gekommen war, waren ihre noch vorhandenen gekränkten Gefühle rasch in der Erregung des Anlasses untergegangen. Sie hatte es sogar fertiggebracht, zu Admiral Gower höflich zu sein, als er mit seinem Stab eingetroffen war. Der große Bildschirm stand seit mehreren Stunden im Zeichen der anschwellenden Erde. Nur einmal war das Bild ausgewechselt worden, als der Kreuzer an der Mondumlaufbahn vorüberglitt. Der Mond war nahe genug, um im Augenblick der nächsten Annäherung größer als die Erde zu erscheinen. Die Sonne stand tief hinter dem Mond, so dass dessen zugewandte Seite im Schatten der Nacht lag. Ein winziges, kaum sichtbares Glimmen von Lichtern blinzelte verloren aus der Weite tiefer Nacht, wo die unterirdischen Städte des Satelliten lagen.
Die Flotte blieb auf ihrem Annäherungskurs. Die Schiffe verringerten ihre hyperbolische Geschwindigkeit, indem sie Photonen in Flugrichtung ausstießen. So schienen sie auf Lichtkegeln zu balancieren, während sie konstant verlangsamten, die Teddy Roosevelt an der Spitze, gefolgt von der Discovery und der City of Alexandria. In dem Maß, wie die Discovery tiefer in den erdnahen Raum eindrang, empfingen die Sensoren immer häufiger Warnungen vor drohenden Begegnungen mit Objekten in Umlaufbahnen. Nach nervenzehrenden Sekunden stellte sich jedesmal heraus, dass es einen nahen Vorbeiflug anstelle einer möglichen Kollision geben würde, und Drake konnte den angehaltenen Atem ausstoßen. Ein Funksignal der Teddy Roosevelt verkündete das letzte Bremsmanöver zur Annäherung.
»Alles in Bereitschaft für den Übergang zu voller Kraft«, sagte Argos Cristobal nach Empfang der Meldung.
»Sie haben die Bordsprechanlage, Mr. Cristobal«, sagte Drake.
»Danke, Sir. Achtung, an alle. In fünfzehn Sekunden Triebwerke auf volle Leistung. Zehn ... fünf... drei ... zwei ... eins. Los!«
Drake fühlte sich von einer übermächtigen Kraft derart in den Sitz gedrückt, dass er kaum einen Finger heben konnte. Nach mehreren Minuten errechnete der Bordcomputer, dass die Bedingungen für eine kreisförmige Umlaufbahn in tausend Kilometern Höhe erreicht waren. Elektronische Befehle gingen von der Brücke zu den Maschinenräumen im Zentralzylinder des Kreuzers, und die Energiezufuhr an die Photonentriebwerke wurde unterbrochen.
Schlagartig verschwand alles Schweregefühl. Die Federung des Beschleunigungssitzes stieß Drake vorwärts in die Gurte, wo er Sekunden später zur Ruhe kam. Stille folgte, die schließlich von Gregory Oldfields munterer Stimme durchbrochen wurde.
»Willkommen auf Erden, Leute! Willkommen in der Heimat!«