14
Es kostete sie eine weitere Stunde mit häufigen Ruhepausen, um ihre Sachen hinunter zur Bibliotheksebene zu schaffen. Wegen seines Gewichts war der Generator das Letzte, was sie anpackten.
»Was wollen Sie mit diesem Ding?«, fragte Vargas. Er stieß mit der Stiefelspitze an das schwere Gehäuse.
»Ich dachte, wir könnten den Bibliothekscomputer damit in Betrieb nehmen und einige der alten Aufzeichnungen lesen«, sagte Bethany. »Wenn wir schon bis zum Morgen hier unten gefangen sind, können wir genauso gut etwas arbeiten, nicht?«
Vargas grunzte nur, dann lud er sich den Generator auf und schleppte ihn stoisch hinunter zum Computerraum. Dort stellte er ihn neben dem Computer auf eine Arbeitsfläche, um Bethany den Zugang zu den Anschlüssen zu erleichtern. Er vergewisserte sich, dass der Generator ausgeschaltet war, dann machte er sich daran, zwei Proviantpäckchen über einem kleinen Campingkocher zu wärmen.
Während verlockende Düfte den alten Bibliothekskeller erfüllten, befreite Bethany den Computer vom Staub und begann seine Funktionen zu studieren. Als es ihr gelungen war, den Anschluss für das Stromkabel zu finden, verkündete Vargas, das Abendessen sei fertig. Bethany aß hastig, machte sich dann wieder an die Arbeit. Zwei Stunden später hatte sie den Computer über zwei Kabel, die sie aus einem der Informationsterminals der Bibliothek geborgen hatte, an den Generator angeschlossen.
»Versuchen wir es!«
»Welche Voltspannung?«, fragte Vargas.
An der Rückseite des Computers entdeckte Bethany ein Typenschild des Herstellers, befreite es vom anhaftenden Staub und las die Stromspannung ab. Vargas stellte den manuellen Schalter am Generator entsprechend ein, dann blickte er auf.
»Fertig?«
»Kann losgehen.«
Vargas schaltete den Generator ein. Statt eines Funkens oder des Geruchs verbrannter Isolation wurden sie mit dem plötzlichen Aufleuchten des Bildschirms belohnt.
»Ich kann's nicht glauben, es funktioniert!«, rief sie. Der Klang ihrer Stimme verriet, dass sie den Atem angehalten hatte. Sie nahm eine der Speichereinheiten, die sie aus dem Ablageschrank im Nebenraum geholt hatte und schob sie in einen passenden Schlitz an der Frontseite des Computers. Vargas sah in ihre abgespannten Züge, die im grellen, kalten Licht der Camping-Karbidlampe, mit der sie den Raum beleuchteten, noch ausgezehrter wirkten. »Sie müssen todmüde sein. Warum legen Sie sich nicht ein paar Stunden hin? Wenn Sie ein wenig ausruhen, bevor Sie versuchen, dieses Zeug zu lesen, werden Sie besser arbeiten können.«
»Ich bin zu aufgeregt, um zu schlafen«, erwiderte Bethany, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. »Aber gehen Sie nur nach nebenan und strecken Sie sich aus, wenn Sie wollen. Ich komme hier schon zurecht.«
»Brauchen Sie mich wirklich nicht?«
»Gewiss nicht. Lassen Sie sich nicht aufhalten.«
Vargas entfernte sich, seinen Schlafsack auszurollen, während Bethany mit dem Datenanschluss experimentierte. Der Marinesoldat wickelte sich in das leichte Gewebe, versiegelte den elektrostatischen Verschluss an der Seite des Schlafsacks, drehte sich zur Wand und war im Nu eingeschlafen.
Als er vier Stunden später erwachte, fand er den Bibliotheksraum dunkel bis auf das geisterhaft zuckende Licht des Bildschirms im benachbarten Computerraum. Er öffnete den Schlafsack, stand auf und tappte zur offenen Tür. Bethany saß vor dem Datenanschluss und starrte wie gebannt auf den Text, der rasch von unten nach oben über den Bildschirm wanderte.
»Alles in Ordnung, Miss Lindquist?«, fragte er.
Bethany wandte den Kopf. Sie reckte die Arme, rieb sich die Augen. »Mir fehlt nichts, was ein Jahr Schlaf nicht heilen würde, Corporal.«
»Warum hören Sie dann nicht auf und schlafen ein wenig?«
»Ich bin beinahe fertig.« Sie zeigte auf drei Stapel Speichertafeln. »Ich habe unser Schatzkästlein in Kategorien aufgeteilt. Der größte Stapel enthält Aufzeichnungen aus der Zeit vor dem Novaausbruch; der mittlere enthält allgemeine Informationen aus der Postnova-Periode; und der kleinste enthält Meldungen und Kommentare, die zum großen Teil die Gaswolke erwähnen.«
»Haben Sie was Interessantes gefunden?«
»Das kann man wohl sagen.« Sie blickte mit einem Ausdruck zu ihm auf, der zu gleichen Teilen aus Müdigkeit, Erregung und Genugtuung zu bestehen schien. »Ich weiß, wo und wie der Krieg ausbrach!«
Richard Drake saß im Pilotensitz eines Landungsbootes der City of Alexandria und blickte zur Nachtseite von New Providence hinab, die dreißig Kilometer unter ihm lag. Im unheilvollen Schein der Antares-Gaswolke hatte der Planet ein märchenhaftes Aussehen angenommen. Das Licht war viel leichter und diffuser als der grelle Schein des aufgehenden Antares zu Hause auf Alta. Auch war die Gaswolke nicht die einzige Lichtquelle. Der ständige Regen aufgeladener Partikel, der das Magnetfeld des Planeten traf, löste enorme, die ganze Nacht andauernde Lichterscheinungen aus. Wogende Bänder und Streifen matt leuchtenden himmlischen Feuers hingen in roten, grünen und blauen Bannern von einem Horizont zum anderen. Wäre nicht das ständige Knattern des Strahlungsdetektors, hätte er leicht vergessen können, dass das Bild tödlich war.
»Wir halten auf Hekate zu, Captain«, meldete der Pilot des Landungsbootes und wies zu einem hellen roten Leuchtsignal, das eben am Horizont erschienen war.
Das Boot ging im sanften Bogen über der Stadt nieder und legte sich in die Kurve. Unten lag ein Dutzend Fertigteilbaracken in einem Lichtkreis von Bogenlampen inmitten der Kahlflächen und Gruppen bleicher Baumskelette, die einmal ein Park gewesen waren. Das Landungsboot vollendete eine schwungvolle Kurve, verlangsamte über dem Lager zum Schwebeflug und setzte in einer aufgewirbelten Staubwolke behutsam auf.
»Wir sind unten, Sir«, sagte der Pilot nach ein paar Sekunden, »aber wir müssen warten, bis sie die tragbare Strahlungsabschirmung errichtet haben, bevor wir aussteigen können.«
Drake nickte. Es dauerte zehn Minuten, bis eine Abschirmung zwischen dem Landungsboot und der nächsten strahlungssicheren Baracke in Position gebracht war. Sobald ein Mann mit einem Geigerzähler die Strahlungsmessung vorgenommen hatte und mit erhobenem Daumen das Freizeichen gab, ging Drake von Bord und eilte im Laufschritt zur nächsten strahlensicheren Unterkunft. Gregory Wharton und Fleet Sergeant Vin Crocker erwarteten ihn in der Strahlungsschleuse der Unterkunft. Crocker war der Führer der Abteilung Marineinfanterie an Bord der Alexandria.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«
»Nichts, seit ich Sie vor vier Stunden anrief, Captain«, erwiderte Dr. Wharton.
Drake nahm sich Crocker vor. »Also, Sergeant, erzählen Sie. Wie ist es geschehen?«
»Wir wissen es nicht, Sir. Alles war in bester Ordnung, als sie heute Morgen das Lager verließen. Miss Lindquist scherzte sogar, während sie ihr Gerät in den Geländewagen luden. Als sie ihren Suchabschnitt erreichten, meldeten sie sich über Funk aus dem Hochhaus der Universität. Der Empfang war schlecht, aber wir verstanden sie. Darüber hinaus wissen wir nur, dass sie zum Abendappell nicht erschienen.«
»Ist dieser Vargas ein tüchtiger Mann?«, fragte Drake.
»Einer meiner besten Leute, Sir. Darum machte ich ihn zu Miss Lindquists Eskorte.«
»Wo genau war ihr zugewiesener Suchabschnitt?«
»Ich kann es Ihnen auf der Karte in meinem Büro zeigen, Captain«, sagte Wharton.
Drake und Crocker folgten ihm in eine benachbarte Baracke und ein enges, voll gestelltes Büro. Ein Stadtplan bedeckte eine Wand. Er war mit Streifen farbiger Klebebänder markiert, um den Fortgang der Durchsuchung augenfällig zu machen.
»Sie durchsuchten die Universität«, sagte Wharton und zeigte auf einen rot eingegrenzten Abschnitt. »Ich wollte einen unserer größeren Suchtrupps dort einsetzen, aber Miss Lindquist bestand darauf, diesen Abschnitt zu übernehmen.«
»Und Sie ließen sie?«
»Sie werden sich erinnern, Captain, dass Ihre Anweisung lautete, sie mit größter Höflichkeit und Zuvorkommenheit zu behandeln, solange sie in Begleitung ihrer Eskorte sei.«
Drake holte tief Luft, dann ließ er sich auf dem Stuhl hinter Whartons Schreibtisch nieder. »Also gut, meine Herren, genug der Rückblicke. Was machen wir jetzt?«
»Ich empfehle, dass wir nach ihnen suchen, Sir«, sagte Crocker. »Wir haben zwei Bodenfahrzeuge mit Strahlenabschirmung. Sie ist nicht annähernd so wirkungsvoll wie die Abschirmungen hier, aber besser als nichts.«
»Welchen Dämpfungsfaktor kann man erwarten, Unteroffizier?«
»Nach Angabe des Herstellers mindestens eintausend.«
»Das bedeutet, dass die Insassen des Fahrzeugs in ungefähr vier Stunden die Sicherheitsgrenze erreichen werden.«
»Die Sicherheitsgrenze ist sehr niedrig angesetzt, Sir. Ich glaube, man würde mindestens doppelt so lang sicher sein, vielleicht länger. Jedenfalls habe ich vier Freiwillige, die bereit sind, es zu versuchen.«
»Sie selbst mit eingeschlossen, Sergeant?«
»Ja, Sir.«
»Nein, vergessen Sie es. Wenn die beiden nicht tot oder zu schwer verletzt sind, um sich zu bewegen, sollten sie ein Loch gefunden haben, in dem sie sich verstecken konnten, als sie merkten, dass sie vom Antaresaufgang überrascht wurden. Wenn sie sich irgendwo im Untergrund verkrochen haben, werden sie bis zum Morgen sicher sein. Ich wünsche nicht, dass jemand in der Zwischenzeit ohne guten Grund seine kumulative Strahlungsdosis hochtreibt.«
»Und wenn sie keine Deckung gefunden haben, Captain?«
»Dann werden sie in weiteren acht Stunden tot sein. So oder so sind die Aussichten, sie bei Dunkelheit zu finden, gleich Null. Wir werden einfach warten müssen, bis die Strahlung am Morgen nachläßt.«
Als Napier am nächsten Morgen aufging, fiel sein Licht auf eine abgespannte und unausgeschlafene Rettungsexpedition. Minuten später glitt die geisterhafte Gasblase der Antares-Supernova endlich hinter den entgegengesetzten Horizont. Ihr Verschwinden war das Signal für hektische Aktivität im Basislager. Das Tor des großen Fahrzeug- und Geräteschuppens wurde geöffnet, und die Geländefahrzeuge rollten heraus. Ein Dutzend Männer verließen die Unterkünfte und begannen Ausrüstungen zu verladen. Richard Drake stieg gerade in den Beifahrersitz des ersten Fahrzeugs, als der Nachrichtentechniker aus der Unterkunft gerannt kam und schrie: »Ich habe sie, Sir! Sie rufen über Haridan als Relais. Miss Lindquist ist am Apparat.«
Er verbarg seine Erleichterung unter einer Verwünschung und rannte in den Nachrichtenraum.
»Es war alles meine Schuld, Captain«, sagte Bethanys Stimme, als Drake sich meldete. »Corporal Vargas wollte zurückfahren, aber ich musste unbedingt noch in ein Loch schauen. Als wir wieder an die Oberfläche kamen, war es zu spät.«
»Immer langsam und der Reihe nach«, sagte Drake, momentan abgelenkt von der Standpauke, die er sich seit fünfzehn Stunden zurechtgelegt hatte.
Bethany erzählte ihm eilig von dem Bibliothekscomputer und den Aufzeichnungen, die sie gefunden hatten, und schloss mit den Worten: »Ich habe den größten Teil der Nacht mit der Durchsicht der Aufzeichnungen verbracht. Mehrere behandeln ausführlich die Kriegsereignisse im Anschluss an den Novaausbruch. Übrigens irrten wir uns.«
»Worüber?«
»Wir dachten, die Bewohner von New Providence hätten untereinander Krieg geführt. Nichts hätte weiter von der Wahrheit entfernt sein können. Sie wurden angegriffen.«
»Angegriffen? Von wem?«
»Von einer fremden Lebensform.«
» Wie bitte? «
»Sie haben mich gehört. Die Leute von New Providence nannten ihre Angreifer die Ryall. Sie drangen durch einen von der Supernova vorübergehend geöffneten Faltpunkt in das System ein. Nach den Aufzeichnungen griffen sie ohne Provokation an.«
»Augenblick!« Drake grollte. »Wollen Sie im Ernst sagen, dass New Providence von einer unbekannten intelligenten Lebensform angegriffen wurde?«
»Das sagte ich doch gerade, oder?«
»Wo sind Sie?«
»Wir sind in dem großen viereckigen Innenhof der Universität. Corporal Vargas macht gerade unser Fahrzeug wieder betriebsbereit.«
»Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir werden in zwanzig Minuten dort sein. Ich möchte diese Aufzeichnungen selbst sehen.«
Die Astronomen von New Providence hatten nicht lange gebraucht, um zu der Folgerung zu gelangen, dass die Ereignisse vom 3. August 2512 am besten durch eine Supernova-Explosion irgendwo im Antares-Haufen erklärt werden konnten. Zu ihrem Schrecken stellte sich sehr bald heraus, dass der einzige Stern, auf den alle beobachteten Phänomene zutrafen, Antares selbst war. Sie verstanden, dass dies für New Providence das Todesurteil bedeutete.
Die erste Reaktion der Verantwortlichen und Mächtigen in Regierung und Medien bestand darin, zu leugnen, dass es überhaupt zum Ausbruch einer Supernova gekommen sei. Um die Bevölkerung ruhig zu stellen, wurden die Erkenntnisse der Astronomen von den einen als grundlose Spekulation und von den anderen als bewusste Panikmache angeprangert. Wissenschaftler aus Dutzenden von Fachgebieten, die mit Astronomie nichts zu tun hatten, wurden von den Massenmedien herausgestellt und erklärten mit großer Selbstgewißheit, dass die ›Weltuntergangspropheten‹ sich irrten. Andere Fachleute folgerten mit gleicher Gewissheit, dass Antares zwar explodiert sei, von diesem weit entfernten Ereignis aber keinerlei Gefahr ausgehe. Schließlich lägen fünfzehn Lichtjahre zwischen New Providence und der Nova. Keine Explosion, wie groß sie auch sein mochte, könne eine derart gewaltige Entfernung überbrücken.
Die Leugnungsphase dauerte drei von New Providences langen Tagen. Allmählich aber erschienen da und dort nachdenkliche Analysen, als die Kommentatoren sich sachkundig machten und merkten, dass die Astronomen an ihrer Weltuntergangsprophezeiung festhielten. Die Manipulatoren der öffentlichen Meinung begannen vorsichtig von dem abzugehen, was sie gerade noch lauthals verkündet hatten, und fragten: »Was, wenn?«, dann: »Was wird?« und schließlich: »Wann?« Eine unheimliche Ruhe breitete sich aus, eine Ruhe, die zwei weitere Tage andauerte.
Am fünften Tag kam der Zorn der getäuschten Bevölkerung zum Durchbruch. Er richtete sich nicht gegen die Nova, sondern vielmehr gegen jene, die sie tagelang irregeführt hatten, aber auch gegen die Überbringer der schlechten Nachricht. Menschenmengen belagerten in spontanen Aktionen Regierungsbehörden, Sendeanstalten und Universitäten und verlangten von den einen endlich die ganze Wahrheit zu erfahren und von den anderen die Revision ihrer Prognosen. Es kam zu Ausschreitungen. Gebäude wurden in Brand gesetzt und mehrere Menschen getötet. Nach einer langen Woche, die von Unruhen gekennzeichnet war, begannen sich kühlere Köpfe Gehör zu verschaffen. Die Katharsis war vorüber, und die Tatsachen blieben unverändert. Die Natur hatte von dem Wutanfall keine Notiz genommen. Die Druckwelle vom explodierenden Stern raste noch immer mit Lichtgeschwindigkeit auf Napier zu. Widerwillig und mit beträchtlicher Wehmut richtete das Volk von New Providence seine Aufmerksamkeit auf Möglichkeiten und Vorbereitungen zur Evakuierung seiner Welt.
Am Ende des ersten Standardjahres war die gesamte industrielle Kapazität des Systems auf den Bau einer Evakuierungsflotte konzentriert. Die Einheitsform des Schiffes war eine Kugel von annähernd tausend Metern im Durchmesser. Jedes Schiff sollte eine Million Menschen und ihre Habseligkeiten aufnehmen. Hundert derartige Schiffe sollten gebaut werden, und für jedes waren dreißig Reisen zur Kolonie auf Sandarsons Welt vorgesehen.
Während die Industrie mit Hochdruck am Bau der Evakuierungsflotte arbeitete, studierten die Wissenschaftler von New Providence Veränderungen, welche die Supernova in der lokalen Struktur des Faltraumes erzeugt hatte. Vor der Explosion des Sterns hatte es im Napier-System drei interstellare Faltpunkte gegeben, die zu Antares, Valeria und Hellsgate führten, dem Stern von Sandarsons Welt. Die Supernova hatte die Faltraumkarte des Systems dramatisch verändert, indem sie den Faltpunkt zu Valeria zum Verschwinden gebracht und den zu Antares unbenutzbar gemacht hatte.
Deshalb waren die Astronomen überrascht, als sie die charakteristischen Konvergenzen von Schwerelinien ausmachten, die normalerweise einen Faltpunkt markierten, nun aber in einem Teil des Systems erschienen, wo vorher kein Faltpunkt existiert hatte. Der neue Faltpunkt war von Napier dreimal so weit entfernt wie die Pränova-Faltpunkte des Systems. Analysen des neugebildeten Faltpunktes ließen den Schluss zu, dass er ein vorübergehendes Phänomen war, das Ergebnis einer von weither kommenden Konvergenz der Faltlinien durch die expandierende Druckwelle der Supernova. Sobald diese das Napier-System passiert hätte, würde der Bündelungseffekt und mit ihm der neue Faltpunkt verschwinden.
Einstweilen aber empfahlen die Wissenschaftler, die den neuen Faltpunkt entdeckt hatten, die Ausrüstung zu einer Expedition zu seiner Erforschung. Die Regierung, die zuvor angeordnet hatte, dass nichts den absoluten Vorrang behindern dürfe, den der Bau der Evakuierungsflotte genoss, übergab die Angelegenheit einem Parlamentsausschuss zur Beratung. Erst im zweiten Jahr nach der Supernova wurden die erforderlichen Schiffe und Besatzungen für die Expedition freigegeben.
Drei Schiffe wurden am zweiten Jahrestag der Nova mit großem Aufheben verabschiedet. Sie erreichten einen Monat später ihr Ziel. Nach einer Serie vorläufiger Messungen wagten zwei von ihnen den Übergang zu dem System jenseits des Faltpunktes. Das dritte Schiff, ein gecharterter Frachter namens Aldo Quest, blieb zurück, um genaue Gravitationsmessungen des Faltpunktes vorzunehmen.
Zwölf Tage später wurde eine Routinemeldung mit dem Aufschrei unterbrochen, dass die Aldo Quest von einem Dutzend Raumfahrzeugen unbekannten Typs angegriffen werde. Es gab keine Möglichkeit, mehr zu sagen, denn wenige Augenblicke später wurde die Verbindung unterbrochen. Der Hilferuf der Aldo Quest spornte den Ältestenrat von New Providence an, in einer Sondersitzung Entscheidungen über weiteres Vorgehen zu treffen. Sie hatten das Glück, dass ein Verband der Großen Flotte der Erde gerade eine Woche zuvor eingetroffen war, um die Evakuierungsanstrengungen zu unterstützen. Die Flotte war direkt von der Erde entsandt worden und hatte das Napier-System durch die sekundäre Sequenz der Faltraumübergänge erreicht. Die Flottille XVII der Großen Flotte bestand aus neun Schiffen, deren Größe von kleinen Begleitzerstörern bis zum Flaggschiff, dem Schweren Schlachtkreuzer Dartmouth, reichte. Als er vom bruchstückhaften Notruf der Aldo Quest hörte, befahl der Kommandeur der Flottille seine Schiffe in den fraglichen Raumquadranten, um die unbekannten Eindringlinge abzufangen.
Es erforderte zehn Standardtage hoher Beschleunigung, bis die beiden Flotten aufeinandertrafen. Ortungsinstrumente der Flottille XVII hatten ihre potenziellen Gegner schon aus weiter Ferne beobachtet und analysiert. Als Ergebnis dieser Beobachtungen gelangte der Commodore zu der Überzeugung, dass er es mit außerirdischen Eindringlingen einer fremden Spezies zu tun hatte. Ihre Schiffe waren scheibenförmig und wurden angetrieben von Anlagen, deren Plasmaausstoß stark im ultravioletten Bereich des Spektrums lag.
Die beiden Flotten stießen mehr als drei Milliarden Kilometer von New Providence aufeinander. Trotz des Verlustes der Aldo Quest hatte die Flottille XVII während ihrer Annäherung Freundschaftsbotschaften ausgesendet. Dies taten sie noch, als die fremden Schiffe mit Lasern und Antimaterieprojektoren das Feuer eröffneten. Die Flottille erwiderte es mit Langstreckenraketen, Lasern und Neutronenstrahlprojektoren. Als die beiden Flotten einander durchdrungen hatten, war jede von ihnen auf die Hälfte ihrer ursprünglichen Stärke zusammengeschrumpft.
Die überlebenden fremden Kriegsschiffe schlüpften durch die Lücken, die sie in die Frontlinie der menschlichen Verteidiger gerissen hatten, und drangen weiter gegen New Providence vor. Der Commodore befahl ein hartes Abbremsmanöver, das die Schiffe in ihrem auswärts gerichteten Flug stoppte, und nahm die Verfolgung der Eindringlinge auf.
Ein langer, brutaler Kampf zog sich bis zum Planeten hin. Es gab nur noch sieben einsatzfähige Kriegsschiffe – drei fremde und vier menschliche –, als die Scheiben in den Bereich des planetarischen Verteidigungssystems von New Providence eindrangen. Jahrhundertealte Abwehrsatelliten fügten ihr Feuer dem der überlebenden Schiffe der Flottille XVII hinzu. Die drei Scheiben waren im Kreuzfeuer rasch zerstört, aber nicht bevor eine von ihnen ein halbes Dutzend zielsuchende Geschosse mit nuklearen Sprengköpfen auf New Providence selbst abgefeuert hatte.
Ein einziges scheibenförmiges Schiff spie sechs Geschosse aus, und sechs Städte auf New Providence starben eines gewaltsamen Todes.
»Das war der erste Angriff«, berichtete Bethany Lindquist. Sie und Richard Drake waren im Computerraum der Bibliothek und beobachteten den Bildschirm des Terminals, den Bethany am Abend zuvor mit dem Generator betriebsbereit gemacht hatte. »Ungefähr drei Jahre später gab es einen weiteren Angriff. Inzwischen hatten die Verantwortlichen von New Providence einen Teil ihrer Schiffbaukapazität von Evakuierungsschiffen auf Kriegsschiffe verlagert. Auch die Erde schickte Verstärkungen. Sie fingen die zweite Ryall-Flotte ab und vernichteten sie, bevor sie weit über den Faltpunkt hinauskam.«
Drake runzelte die Stirn. »Wenn der erste Angriff New Providence ein halbes Dutzend zerstörter Städte kostete und der zweite Angriff so rasch abgewehrt wurde, warum haben unsere Aufklärer dann mehr als fünfhundert große nukleare Einschlagstellen auf der Oberfläche dieses Planeten gefunden?«
Bethany zuckte die Achseln. »Es muss einen weiteren Angriff gegeben haben, nachdem diese Aufzeichnungen gemacht wurden, einen, der schlimmer war als die ersten zwei.«
»Nach den Überresten zu urteilen, muss es einen großen Durchbruch gegeben haben, kurz bevor die Druckwellenfront der Nova durch dieses System fegte.«
Sie nickte. »So sehe ich es auch.«
»Was wussten die Bewohner von New Providence über diese Ryall, und woher?«, fragte Drake.
Statt zu antworten, beugte sich Bethany über die Tastatur des Datenanschlusses. Der Bildschirm wurde freigemacht, und eine neue Wiedergabe erschien.
Sie zeigte ein fremdartiges Wesen, das auf einem Autopsietisch lag. Drake unterdrückte eine Empfindung von Unwirklichkeit und studierte die Gestalt des unbekannten Lebewesens mit aller nüchternen Distanz, die er aufbringen konnte. Es ließ sich nicht sagen, dass es ein schöner Anblick war, aber in vergleichbarer Situation hätte sich ein Mensch auch schwerlich von seiner vorteilhaftesten Seite gezeigt. Das Wesen war ein sechsbeiniger, zweiarmiger Zentauroid, dessen Erscheinung auf die Abstammung aus dem Reich der Reptilien hindeutete. Es lag auf der rechten Seite, mit dem Kopf am oberen Ende des Bildschirms und einem meterlangen Schwanz, der über das Ende des Tisches am unteren Rand des Bildschirms hing. Die Haut war graugrün und leicht geschuppt.
Während Drake die wenig einnehmende Erscheinung studierte, langten zwei menschliche Arme ins Bild, hoben den Kopf des Geschöpfes vom Tisch und drehten ihn um fast einhundertachtzig Grad in die Kamera. Entweder war der lange Hals des Lebewesens gebrochen, oder er besaß eine beachtliche Flexibilität.
Der Kopf zeigte eine gewölbte Schädelkappe über einem zähnestarrenden, schnauzenartig vorgebauten Gesichtsteil. Die Augen saßen seitlich unter dicken Knochenwülsten im Schädel. Drake bemerkte, dass der Zentauroid es schwierig gefunden haben musste, geradeaus nach vorn zu blicken. Die Ohren waren Löcher im oberen Teil des Schädels, um die beweglich aussehende Hautlappen an einem Rahmenwerk kleiner Stacheln aufgespannt waren.
Die Kamera ging nahe an eines der Augen heran, und der ungesehene menschliche Helfer drehte den Kopf so, dass es besser zu sehen war. Zuerst schien es, als ob die Augen des Ryall zwei Obsidiankugeln wären, die tief in den Schädel eingesunken waren. Aber zwei neue Hände kamen ins Bild und leuchteten mit einer Taschenlampe in das stark vergrößerte Auge. Das Licht wurde von einer schwarzen Pupille in dem pechschwarzen Augapfel reflektiert. Von einem Augenlid oder einer Membran zum Bedecken des Auges war nichts zu sehen.
Die Kamera ging zurück und brachte den Mund des Zentauroiden in den Brennpunkt. Eine dreifach gegabelte Zunge hing schlaff zwischen Doppelreihen scharfer, konischer Zähne heraus. Dann wanderte die Kamera langsam über die Flanke des Zentauroiden, verweilte auf einer sechsfingrigen Hand mit rudimentären Schwimmhäuten zwischen den Fingern, dann auf den sechs Beinen, die in ähnlichen, gleichfalls mit Andeutungen von Schwimmhäuten ausgestatteten Füßen endeten.
»Nicht gerade hübsch«, war Drakes einziger Kommentar.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Bethany. »Ich finde, es hat eine gewisse, ihm eigene Schönheit. Möchten Sie mehr sehen? In einer Minute fangen sie mit der Autopsie an. Wenn Sie wollen, kann ich den Film zu den Ergebnissen vorlaufen lassen.«
»Ersparen Sie sich die Mühe«, sagte Drake, »sie würde an mir verschwendet sein. Wir müssen die Aufzeichnung an Bord der City of Alexandria bringen, damit die Fachleute ihre Folgerungen daraus ziehen können.«
Bethany nickte und griff nach dem Funksprechgerät, das sie auf dem Computergehäuse hatte liegen lassen. »Soll ich die Bergungsmannschaft verständigen, dass sie mit dem Abbau der Bibliothek anfängt?«
»Noch nicht«, sagte Drake. »Ich habe etwas zu sagen, das sonst niemand hören soll.«
Bethany spürte seinen plötzlichen Stimmungsumschwung und zog die Stirn in Falten. »Wenn es sich darum handelt, dass ich gestern die Zeit zur Rückkehr versäumte, so sage ich Ihnen, dass ich es bedaure.«
»Das sollten Sie auch tun«, sagte er in eisig-strengem Ton.
»Es war eine verdammte Dummheit, und gefährlich dazu ...«