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Richard Drake arbeitete an seinem Schreibtisch an Bord des neuesten altanischen Großkampfschiffes Conqueror II, als sein Telekommunikationsgerät einen Anruf anzeigte. Er schaltete ein und sah sich dem Nachrichtenoffizier gegenüber.
»Was gibt es, Mr. Haydn?«
»Wir haben soeben über Relais einen Tagesbefehl von der Erde erhalten, Admiral. Er ist verschlüsselt und an alle Schiffe und Kommandozentralen gerichtet.«
»Bringen Sie Ihn auf meinen Bildschirm.«
Einen Augenblick später begannen willkürliche Alphanumerische Gruppen über Drakes Bildschirm zu wandern. Er gab den Code seiner persönlichen Autorisierung ein, und die Gruppierungen wurden augenblicklich in Sätze umgewandelt. Mit wachsender Spannung überflog er den Tagesbefehl.
STRENG GEHEIM ... STRENG GEHEIM ... STRENG GEHEIM
TAGESBEFEHL VOM 17. JULI 2642
Von:
Belton, G.T.,
Kommandierender Admiral
Kampfgruppe Spica
An:
alle kommandierenden Offiziere, Schiffe und Kommandostellen
Betrifft: Einsatzbefehl
1. Um 13:14 Uhr Standard meldete Faltpunktwache Antares den Ausbruch eines einzelnen Ryallschiffes von Eulysta in den Ringnebel.
2. Das feindliche Schiff wurde vernichtet, bevor es zu seinem Stützpunkt zurückkehren konnte.
3. Gemäß den für den Fall eines Eindringens der Ryall in den Ringnebel bestehenden Befehlen werden alle Schiffe sofort ihre Absprungpositionen einnehmen.
4. Die Flotte sammelt sich im Antares-Eulysta-Faltpunkt um 01:00 Uhr am 25. August 2642.
5. Angriff Eulysta beginnt um 09:00 Uhr, 25. August 2642.
6. Ich erwarte von allen Offizieren und Mannschaften vollen Einsatz und unbedingte Pflichterfüllung.
Viel Erfolg und glückliche Reise!
Belton, G. T., Kommandierender Admiral,
Kampfgruppe Spica
Drake löschte den Tagesbefehl vom Bildschirm, wo wieder Moriet Haydns Gesicht erschien. »Mr. Haydn, verständigen Sie alle Kapitäne, Ersten Offiziere und Navigatoren, dass in zwei Stunden Befehlsausgabe an Bord des Flaggschiffes sein wird. Dann verbinden Sie mich mit meiner Frau. Sie sollte in der Universität sein, wenn nicht, versuchen Sie es zu Hause.«
»Ja, Sir«, antwortete der Nachrichtenoffizier. »Geht es los, Admiral?«
Drake nickte. »Es geht los!«
Während er wartete, lehnte Drake sich in seinem Stuhl zurück und dachte an alles, was noch zu tun war, bevor die drei Dutzend Schiffe des altanischen Kontingents gefechtsbereit sein würden. Nach der bisherigen Planung hätte die Flotte erst in sechs Wochen starten sollen. Der vorgezogene Starttermin schuf eine Menge Probleme, von denen die zahlreichen Instandhaltungsarbeiten, welche nun unter Beschleunigung ausgeführt werden mussten, nicht die geringsten waren. Trotzdem, es hätte weit schlimmer sein können. Hätten die Zentauren den Ringnebel ein Jahr früher durchstoßen, hätten sie die Menschheit schlecht vorbereitet gefunden.
»Ihre Frau ist in der Leitung, Admiral.«
»Danke, Mr. Haydn. Sichern Sie diesen Kanal bitte.«
»Sofort, Sir.«
Drake spürte ein Ziehen in der Herzgegend, als Bethanys Züge auf dem Bildschirm erschienen. Zwei Monate waren vergangen, seit er zuletzt daheim gewesen war, und selbst das Übermaß an Arbeit, das er sich auferlegte, konnte seine Einsamkeit nicht vollständig aus seinen Gedanken verdrängen.
»Was ist los, Richard?«, fragte Bethany. Ihre Stimme und ihr Ausdruck zeigten, dass der unerwartete Anruf sie in ängstliche Anspannung versetzt hatte.
»Wir haben gerade Nachricht bekommen, dass die Ryall durch den Ringnebel ausgebrochen sind.«
Bethany erschrak. »Wie viele Schiffe?«
»Nur eins. Die Faltpunktüberwachung hat es ausgeschaltet.«
»Wie werden sie darauf gekommen sein?«
Er zuckte die Achseln. »Schwer zu sagen. Vielleicht haben wir damals auf Corlis unsere Fährte nicht gut genug verwischt. Oder vielleicht stellte sich ein Ryallgenius die gleichen Fragen wie wir, als wir begriffen, dass die Conqueror durch den Ringnebel gekommen war. Es wird ihnen aber nichts nützen. Sie haben dieses Schiff verloren und werden sich fragen, ob sie in ihren Berechnungen eine Dezimalstelle falsch gesetzt haben. Bis sie für einen neuen Versuch bereit sind, werden wir über ihnen sein.«
»Wann startet ihr?«
»Die ersten Einheiten verlassen in sechs Stunden die Parkumlaufbahn.«
»Ich wünschte, du müsstest nicht so bald starten«, sagte sie mit plötzlich versagender Stimme.
»Ich bin froh, dass die Zeit endlich gekommen ist«, erwiderte er. »Wir haben den Einsatz schon zu lange hinausgeschoben. Wir hätten vor sechs Monaten starten sollen. Es tut mir nur leid, dass ich zur Geburt unseres Sohnes nicht hier sein werde.«
»Dieses eine Mal vergebe ich es dir«, sagte sie mit gezwungenem Lachen. »Was du tust, ist schließlich wichtiger als das, was ich tun werde.«
Er schüttelte den Kopf. »Niemals wichtiger, mein Liebes, bloß dringender. Jedenfalls werde ich vor seinem ersten Geburtstag zurück sein.«
»Versprichst du es mir?«
»Ich verspreche es.«
Es gab eine längere Pause, in der Drake Tränen in Bethanys Augen erscheinen sah. Auch in seinen Augen glänzte verräterische Nässe. Schließlich flüsterte sie mit halb erstickter Stimme: »Ich liebe dich, Richard.«
Drake streckte die Hand aus und berührte das Gesicht im Bildschirm, wie um ihre Wange zu streicheln. »Ich liebe dich auch, mein Schatz. Es tut mir leid, aber ich muss gehen. Ich habe eine Stabsbesprechung, die vorbereitet werden muss. Morgen um diese Zeit werde ich dich wieder anrufen, und danach jeden Tag, bis wir den Übergang nach Napier machen.«
»Ich werde warten«, sagte sie.
Er warf ihre eine Kusshand zu, dann unterbrach er die Verbindung. Nach einer Minute rief er eine Außenansicht ab und beobachtete die Reihe der Schiffe, die hinter Conqueror II in Kiellinie lagen. Zuerst kam die Discovery, jetzt unter Rorqual Marchants Kommando. Hinter dem Schlachtkreuzer lagen ihre Schwesterschiffe Dagger und Dreadnought, und hinter diesen folgten die neueren Schiffe in einer langen Reihe, die sich bis außer Sichtweite erstreckte. Die zwei Jahre seit der Rückkehr der Helldiver-Expedition von der Erde waren für Altas Schiffswerften die arbeitsreichsten seit ihrem Bestehen gewesen.
Als er seine Armada überblickte, wurde er auf einen besonders hellen Lichtfunken im oberen Bereich seines Bildschirms aufmerksam. Er brauchte nicht in seinem astronomischen Almanach nachzuschlagen, um zu wissen, welcher Stern es war. Obwohl die Antares-Supernova zunehmend schwächer geworden war, als das expandierende Licht weiter hinaus in den Raum ging, war die Nova am Himmel Altas noch immer der hellste Stern, während sie an Ort und Stelle längst zum Neutronenstern erloschen war. Bald würden zwei mächtige Flotten jenseits dieses fernen Leuchtfeuers um die Herrschaft über diesen Teil der Galaxis ringen. Ein erbitterter Kampf auf Leben und Tod stand bevor, und sein Ausgang war keineswegs sicher.
Niemand kannte besser als Drake die Risiken, die der Vorstoß auf Spica für die Zukunft der Menschheit darstellte. Es war ein Würfelspiel, das nur einen Wurf kannte, und wie die Würfel fielen, bestimmte Überleben und Untergang von zwei intelligenten Arten.
Trotz der ungeheuren Tragweite der Entscheidung gab es für die Menschheit jedoch keine vernünftige Alternative. Seit rund einem Jahrhundert hatten die Ryall ihren Zermürbungskrieg gegen die Welten der Menschheit vorgetragen und mehr und mehr die Oberhand gewonnen. Wenn die Geographie des Faltraumes nicht in naher Zukunft verändert werden konnte, musste der Krieg früher oder später mit der Niederlage der Menschheit und der Vernichtung der Erde enden.
Der Angriff auf Spica würde der Menschheit eine Gelegenheit geben, den Schaden wieder gutzumachen, der durch den Novaausbruch entstanden war – eine Gelegenheit freilich, die errungen werden musste. Das war seit Urzeiten alles, was Menschen je verlangt hatten, alles, was sie je gebraucht hatten.