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Admiral Sergej Gower war auf seinem Gefechtsstand, als der nahe Faltpunkt Spica/Darthan in photonischem Feuer explodierte. Sechs verschiedene Lichtpunkte erhellten die Schwärze des Raumes, bevor sie zu kochenden, strahlenden Nebeln wurden, die sich mit annähernder Lichtgeschwindigkeit ausweiteten.
»Meldung!«, befahl er.
»Es sind Antimateriebomben, Admiral. Geschätzte Masse je eine Tonne. Sechs Stück, Verteilung scheint willkürlich, wie am Ende eines Transitsprunges zu erwarten. Aber sie haben etwas Neues hinzugefügt. Diese Wolken bestehen aus ionisierten Atomen mit hohem Sauerstoffanteil. Es scheint, dass sie eigens zusammengebraut wurden, um unseren Sensoren das Durchdringen der Wolken zu erschweren.«
»Hauptsächlich ionisierter Sauerstoff?«, fragte er.
»Das sagt die Spektralanalyse, Admiral.«
»Verdammt. Sauerstoff wird die meisten unserer Sensorbeschichtungen korrodieren.«
»Ja, Sir. Ich vermute, sie wissen das.«
»Wie lange wird es dauern, bis die erste Wolke unsere dem Faltpunkt nächsten Einheiten erreicht?«
»Neunzig Sekunden, Sir.«
Gower schaltete mit finsterer Miene auf den offenen Kanal der Flottenkommunikation. »An alle Schiffe. Sie versuchen unsere Sensoren auszuschalten. Diese Wolke enthält hoch energetische Sauerstoffionen. Vor dem Eintreffen der Wolke sind alle für den Kampf benötigten Sensoren zu schließen, aber nicht früher als fünfzehn Sekunden vor dem Eintreffen der Wolke. Sensoren sind erst wieder zu öffnen, wenn die Konzentration auf sicheres Niveau sinkt. Fernaufklärung höchste Aufmerksamkeit und Weitergabe von Erkenntnissen an alle Schiffe. Sie werden in diesem Kampf unsere Augen sein.«
Gower verfolgte, wie die Bestätigungen seines Befehls einliefen. Die Fernaufklärung bestand aus einem halben Dutzend Raumfahrzeugen, die in weitem rückwärtigem Abstand vom Faltpunkt stationiert und mit weit reichenden Sensoren, optischen und Radioteleskopen beladen waren. Ihre Offensivkraft war null, aber sie hatten die besten Augen in der Flotte und, was im Moment wichtiger war, die am besten geschützten Augen. Das Problem war die Zeitverzögerung bei Sendungen und Empfang. Zwischen Beobachtung und Weitergabe würde annähernd eine halbe Sekunde Verzögerung auftreten, und in einem Gefecht, wo Hundertstel Sekunden zählten, war eine halbe Sekunde eine Ewigkeit.
»In Quadrant Sieben, Unterquadrant Beta, werden Zielattrappen zerstört, Admiral. Sie scheinen ihr Feuer dort zu konzentrieren.«
»Welche Kräfte sind durchgebrochen?«
»Noch keine Identifikation. Wir sollten sie in ein paar Sekunden haben. Die Wolken lösen sich rasch auf ... Jetzt kommen sie durch. Ich schätze zweihundert Schiffe, darunter drei schwere. Scheiße! Es sind Orbitalfestungen, Admiral. Sie feuern mit allem, was sie haben, in Sieben Beta!«
Gower schaltete wieder auf den Kanal der Flottenkommunikation. »An alle Schiffe. Dies ist ein größerer Vorstoß. Ihre Flotte führt drei Orbitalfestungen mit sich. Bei Zielerkennung maximale Feuerkraft. Auf die schweren Brocken konzentrieren. Ich wiederhole, Feuer auf die schweren Brocken.«
Er hatte den Befehl kaum ausgegeben, als Vibrationen durch den Rumpf der Royal Avenger gingen. Elektromagnetische Linearbeschleuniger starteten Raketen. Bei der gegenwärtigen Feuergeschwindigkeit würde das Schlachtschiff sich in weniger als fünfzehn Minuten verschossen haben. Es war zu hoffen, dass die Ryall nicht so lange bleiben würden.
»Meldung von Constantine, Admiral. Farragut ist eben explodiert. Nachrichtenabteilung meldet, dass Constantine Sendung mitten im Satz abgebrochen hat. Rohatan meldet schweren Treffer auf Constantine, ist aber noch im Radar. Fernaufklärung meldet allgemeine Bewegung sämtlicher Ryall in Richtung Sieben Beta. Erster Kontakt 35 Sekunden ...«
Gower biss die Zähne zusammen und lauschte den fortgesetzten Schadensmeldungen auf der Kommandofrequenz. In rascher Folge verlor seine Flotte sechs Schiffe, darunter zwei schwere Kreuzer, von denen einer mit der gesamten Besatzung verdampfte.
Die gute Nachricht war, dass die Echsenleute ihre Kühnheit teuer bezahlten. So rasch wie die blauen Echozeichen der eigenen Schiffe von den Bildschirmen verschwanden – die roten Echozeichen der Feindschiffe verschwanden schneller. Kurz nachdem er Befehl gegeben hatte, das Feuer auf die Orbitalfestungen zu konzentrieren, flammte eines der großen, schwerfälligen Ziele in Weißglut auf. Wer oder was immer die Orbitalfestung erwischt hatte, Gower dankte ihm. Natürlich waren alle Waffen, die sie zwischen dem Durchbruch und der Zerstörung hatte abfeuern können, noch unterwegs und würden gefährlich bleiben, bis sie entweder von Abwehrwaffen zerstört wurden oder in einem Schiff der Flotte explodierten.
Die expandierenden Wolken ionisierten Plasmas von den Antimateriebomben erzeugten einen unerwarteten Effekt. Die Bomben hatten den Raum mit mehreren hundert ionisierten Atomen pro Kubikzentimeter verseucht. Das Ergebnis war, dass die starken Laser und Partikelstrahlen nicht mehr ihre unsichtbaren Löcher in den Raum bohrten. Der Durchgang jedes Energiestrahls hinterließ eine geisterhafte smaragdgrüne Spur von turbulentem Plasma.
Die Schlacht war zu einer surrealen Lichtschau mit Tausenden grün leuchtender Fäden verwandelt, die ihre tödlichen Netze durch das sauerstoffreiche Plasma webten. Man hätte dem Schauspiel die Schönheit nicht absprechen können, wäre es nicht so tödlich gewesen. Sergej Gowers Bewunderung für den Anblick wurde bald zu Schrecken, als er die taktischen Implikationen dieser geraden Linien durchsichtiger Strahlung durchdachte.
Seit dem Beginn des Krieges zwischen Ryall und Menschen war es eine militärische Tatsache gewesen, dass die Streitkräfte, welche eine Seite eines Faltpunktes verteidigten, einen nahezu unüberwindlichen taktischen Vorteil gegenüber einem Angreifer hatten. Nicht nur hatte der Verteidiger Zeit, seine Minen auszusäen und seine Schiffe vorteilhaft in Position zu bringen, er konnte sie auch zwischen Tausenden von optisch und elektromagnetisch erzeugter Attrappen verstecken. So konnte er seine Flotte im leeren Raum verbergen.
Mittlerweile hatten die sechs expandierenden Plasmawolken der Antimateriebomben die beiden kämpfenden Flotten weitgehend eingehüllt und waren in Begriff, zu einer einzigen großen Wolke zu verschmelzen. Die geisterhaften Spuren, die von Laser- und Partikelstrahlen hinterlassen wurden, hatten wenig Wirkung auf die taktische Lage der Ryall. Ihre Schiffe beschleunigten mit äußerster Kraft auf das sich entwickelnde Loch in der menschlichen Blockade, und die Glutstrahlen ihrer Triebwerke beendeten jede Hoffnung auf Tarnung ihrer Position, die sie gehabt haben mochten.
Auf der anderen Seite waren die Schiffe von Sergej Gowers Kampfgruppe mit der Sorgfalt eines Genetikers eingesetzt worden, der das Genom seines Erstgeborenen analysiert. Die sauerstoffreiche Plasmawolke machte seine sorgfältig ausgearbeiteten Pläne zur Verteidigung des Faltpunktes wirksam zunichte.
Wo Plasmaspuren zu jedem Schiff zurückführten, das entweder seine Laser- oder Partikelstrahlkanonen abgefeuert hatte, bedurfte es nicht allzu vieler Entladungen, bevor jedes Schiff der Kampfgruppe im Brennpunkt von Dutzenden Fäden feiner Strahlung aus eigener Erzeugung war. Die Ryall-Schiffe bemerkten, wo diese Fäden zusammenliefen, und brachten ihre Gegner ins Fadenkreuz ihrer Zielerkennung. Auf einmal wurde es leicht, die menschlichen Schiffe von ihren Attrappen zu unterscheiden. Letztere waren die Echozeichen, die nicht auf sie feuerten.
Als im betroffenen Quadranten ein Schiff nach dem anderen von feindlichem Laserfeuer getroffen wurde, überlegte Gower, ob er das Feuer von Strahlenwaffen ganz einstellen sollte, verwarf den Gedanken aber rasch wieder. Laser waren in erster Linie Antiraketenwaffen, und während feindliche Langstreckenlaser Löcher in gepanzerte Rümpfe brennen konnten, waren sie letzten Endes weit weniger zerstörerisch als ein nuklearer Gefechtskopf.
»An alle Schiffe. Sie verfolgen unsere Strahlen durch die Suppe zurück. Ausweichmanöver Beta Drei.«
Während er das Kampfgeschehen beobachtete, verschwanden weitere rote Echozeichen von Ryall-Schiffen in rascher Folge. Was als eine Flotte von zweihundert den Durchbruch erzwungen hatte, war jetzt auf ungefähr achtzig geschrumpft und sank weiter.
Die gleiche Lagedarstellung, die ihm die zunehmenden Verluste der Ryall zeigte, gab auch die plötzlich gähnende Öffnung in der Blockadehalbkugel seiner Kampfgruppe zu erkennen. Die allgemeine Bewegung der Ryall-Schiffe ging in diese Richtung.
»Wir haben Durchbruch«, sagte eine ruhige Stimme in Gowers Ohr.
»Sieben Beta?«
»Ja, Sir. Wenigstens ein Dutzend Feindschiffe haben unsere Formation durchstoßen und beschleunigen mit hoher Geschwindigkeit.«
Gower nickte. Das war zu erwarten gewesen. Die erste Aufgabe jeder Durchbruchsstreitmacht würde darauf abzielen, seine taktische Lage zu komplizieren. In diesem Fall würde das wahrscheinlich ein mit höchster Geschwindigkeit auf Spica gerichteter Kurs sein, gefolgt von einem die Anziehungskraft des Doppelsterns ausnutzenden Umkreisungsmanöver und einer genauso schnellen Rückkehr, um rechtzeitig einzutreffen, um der nächsten Durchbruchswelle zu helfen, sobald sie im Faltpunkt erschien.
»Unterrichten sie die Flotte über den Durchbruch. Wir werden Unterstützung brauchen.«
»Ja, Sir.«
Fünf Minuten vergingen langsam. In dieser Zeit explodierte eine der überlebenden Orbitalfestungen, aber Gower war zu ausgelaugt, um Triumph zu empfinden. Nach dem Abschuss der zweiten Festung konzentrierte sich das Feuer auf die dritte, und Ryall-Schiffe begannen aus eigenem Antrieb zu verschwinden, als sie auf ihre Seite des Faltpunktes zurückkehrten. Mit dem erfolgreichen Durchbruch war die Notwendigkeit für mutiges Draufgängertum nicht mehr gegeben, und die Pflicht der Ryall-Kommandanten verlagerte sich auf die Rettung der Schiffe, die sie in Sicherheit bringen konnten.
Als Erste trat die überlebende Orbitalfestung den Rückzug an, aber sie kam nicht ungeschoren davon. Die Spektralanalyse zeigte, dass sie Sauerstoff und Wasserdampf leckte, bevor sie im Faltpunkt verschwand. Trotz der erkennbaren Schäden der Festung mussten ihre Generatoren zur Erzeugung des Faltraum-Übergangsfeldes intakt geblieben sein.
Die kleineren Überlebenden folgten rasch. In weniger als einer halben Minute war der Faltpunkt leer. Nur die Toten und die Sterbenden blieben zurück.
Die Stabsoffiziere der Flotteneinsatzleitung an Bord der Conqueror II hatten sich eines ruhigen Morgens erfreut. Ausnahmsweise gab es keine feindlichen Sondierungen in den Faltpunkten, und der Besitz des Systems Spica schien vorläufig unangefochten.
An Bord des Flaggschiffes wie auch aller übrigen Einheiten der Flotte nutzten erschöpfte Besatzungen die einwöchige Ruhepause zu Reparaturen, diagnostischen Untersuchungen ihrer Schiffe und Bewaffnung und zur Ergänzung von Vorräten.
In der Flotteneinsatzleitung blieb Zeit zum Abfassen überfälliger Meldungen und Spekulationen über Anwesenheit und Funktion der Frau, die der Admiral in seiner Befehlszentrale hatte. Zwar wäre es unangebracht und ein Zeichen schlechten Benehmens gewesen, offene Neugier zu zeigen; aber mehr als ein Offizier nutzte die Gelegenheit, wenn er seinen Platz verlassen musste, um beiläufig einen Blick durch die gläserne Trennscheibe zu werfen. Der Admiral hatte den Stab mit seiner Frau bekannt gemacht, aber niemand wusste, zu welchem Zweck sie hierher in den Frontbereich gekommen war, und so hatten hinter vorgehaltener Hand die verschiedensten Mutmaßungen Konjunktur.
Der erste Alarm veränderte schlagartig den ungezwungenen, beinahe gemütlichen Charakter der morgendlichen Aktivitäten. Die große holographische Lagedarstellung in der Flotteneinsatzleitung wurde zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Befehle und Fragen gingen hinaus zu den Kampfgruppen innerhalb der Faltpunkte. Etwas geschah, und es war Aufgabe der Flotteneinsatzleitung, festzustellen, was es war, und dann die Reaktion der Flotte zu koordinieren. Individuelle Bildschirme und die große Lagedarstellung begannen Veränderungen zu zeigen, als aus allen Teilen des Systems Meldungen und Daten eingingen. Der Faltpunkt Spica/Darthan schaltete von Smaragdgrün auf Karmesinrot, beinahe sofort gefolgt von den Faltpunkten Spica/Rylmar und Spica/Tamath.
Berücksichtigte man die Kommunikationsverzögerung von jeder der drei umkämpften Zonen, war der – wahrscheinlich von den Sensoren der Fernaufklärung ausgegangene – Alarm so gleichzeitig erfolgt, wie es Einsteins Relativitätstheorie erlaubte.
»Was geht vor, Richard?«, fragte Bethany in das Geheul des Alarms.
»Etwas geschieht in mehreren der Faltpunkte«, erwiderte er.
»Es sieht nach dem koordinierten Angriff aus, der uns Sorgen machte.«
Die holographische Lagedarstellung der Flotteneinsatzleitung vor ihnen zeigte immer neue Veränderungen.
»Dunbar!«
»Ja, Admiral«, antwortete einer seiner Stabsoffiziere.
»Sehen Sie zu, ob Sie direkte Lagemeldungen von den betroffenen Faltpunkten bekommen können.«
»Jawohl, Sir.«
»Toshida.«
»Sir?«
»Liegen schon Meldungen von den anderen vier Faltpunkten vor?«
»Noch nicht, allerdings sind zwei noch jenseits unseres Lichthorizontes.«
Damit war gemeint, dass die Kommunikationsverzögerung zwischen den Faltpunkten und der Flotte länger als die Zeit war, die seit dem Beginn der Kampfhandlungen verstrichen war. »In zehn Sekunden sollten wir mehr wissen ...«
Die Sekunden vertickten wie Minuten. Am Ende dieser Zeitspanne waren keine weiteren Meldungen eingegangen. Drake begann wieder zu atmen.
»Feindaktivität in drei Faltpunkten, Admiral«, meldete Commander Dunbar. »Sieht nach Antimateriebomben mit einem neuen Kniff aus. Wir haben Wolken von ionisiertem Gas, die von den Explosionspunkten nach außen rasen. Unsere Sensoren können sie nicht durchdringen.«
Im Laufe der nächsten sieben Minuten beobachteten sie die Entfaltung der Schlacht nicht nur im Faltpunkt Spica/Darthan, sondern in allen dreien. Drakes Magen verkrampfte sich, als er erkannte, dass den Ryall ein Durchbruch im Faltpunkt von Darthan gelungen war. Dann gingen in rascher Folge Meldungen von den anderen zwei Faltpunkten ein, die von zusätzlichen Durchbrüchen sprachen.
»Wie viele Schiffe insgesamt?«, fragte er.
»Wir bekommen gerade die Information, Admiral. Ein Dutzend in Spica/Darthan, acht in Spica/Rylmar und zwanzig in Spica/Tarnath.«
»Welche Richtung haben sie?«
»Alle scheinen Kurs auf den Doppelstern zu halten, Sir.«
Er nickte. »Natürlich, sie nutzen das Schwerefeld zur Umkehr, um uns in den Rücken zu fallen. Besteht eine taktische Möglichkeit, dass sie versuchen könnten, sich zu vereinigen?«
»Es gibt noch keinen Hinweis, ob so oder so, Admiral. Es wäre klug, damit zu rechnen. Eine Umkreisung des Doppelsterns bietet sich zu einem hyperbolischen taktischen Rendezvous an.«
»Richtig«, erwiderte Drake. Wenn ein Schiff im Vakuum umkehren wollte, vertauschte es im Flug die Enden in einer Drehung um 180°. Im Vakuum war das Manöver einfach, doch barg es in der gegenwärtigen Situation die Gefahr, ein Raketengeschoss auf sich zu ziehen, besonders während jener Phase des Manövers, wenn die Geschwindigkeit des Schiffes umgelenkt wurde. Dabei hing das manövrierende Schiff einen Augenblick stationär im Raum und war ein perfektes Ziel für jeden Feind in Reichweite.
Der Doppelstern Spica in bequemer Nähe bot den Ryall eine Alternative und machte Drakes taktische Aufgabe bedeutend komplizierter. Statt von den Faltpunkten ihres Durchbruchs zu beschleunigen, dann zu verlangsamen und in die Gegenrichtung erneut zu beschleunigen, hatten die durchgebrochenen Streitkräfte der Ryall alle direkt auf das Zentralgestirns des Systems beschleunigt. Indem sie nahe an Spica vorbeijagten, konnten sie die gewaltige Anziehungskraft des Doppelsterns nutzen und sich in hoher Geschwindigkeit außerhalb der Chromosphäre des Sterns in eine hyperbolische Bahn herumziehen lassen, ohne die Geschwindigkeit zu verringern. Das Ergebnis würde eine enge Umlaufbahn um Spica sein, die in eine schnelle Hyperbel überging. Im Prinzip glich das Manöver einer Kometenbahn.
Wenn die drei durchgebrochenen Streitkräfte das Manöver zeitlich richtig abstimmten, konnten sie ihre Orbitalebenen während der Umkreisung des Zentralgestirns regulieren, sich vereinigen und wie ein wild gewordener Hornissenschwarm aus der blendenden Sonne herausschießen. Dann bekam es der Kommandeur der betroffenen Blockadekampfgruppe mit 40 zusätzlichen Kriegsschiffen des Feindes zu tun, während dieser den nächsten Durchbruch versuchte. Es war die kosmische Version eines klassischen Zangenmanövers, das mindestens bis zu den Sumerern zurückreichte.
»Natürlich können wir nicht voraussagen, welchen Faltpunkt sie ansteuern werden, nachdem sie den Stern umrundet haben«, sagte Drake zum Taktikoffizier seines Stabes.
»Das trifft unglücklicherweise zu, Admiral. Wenn wir feststellen, welches Ziel sie haben, wird es zu spät sein, eine nennenswerte Streitmacht an Ort und Stelle zu bringen, um sie aufzuhalten. Ein hübsches Manöver von der Seite unserer Ryall-Freunde.«
»Haben Sie eine Vermutung?«
»Darthan, Sir. Nach meiner Überzeugung sollten sie hinter diesem Faltpunkt mehr Streitkräfte versammelt haben als hinter einem der anderen.«
»Also schicken wir unsere Reserven als Verstärkung zu Sergej Gower?«
»Nein, Sir. Die Wahrscheinlichkeit spricht für Darthan, aber es könnte jeder Faltpunkt auf dieser Seite des Sterns sein. Wir werden warten müssen, bis wir ihren Ausgangsvektor von Spica sehen, bevor wir reagieren können.«
»Bis dahin wird es zu spät sein, sie von hier aus abzufangen.«
»Ja, Sir.«
Drake zog die Stirn in Falten. Wer immer diesen Angriff geplant hatte, musste ihn genauso gut durchdacht haben wie er selbst die Invasion von Spica. Bis die durchgebrochenen Ryall-Schiffe aus der Umkreisung Spicas herauskamen und ihr Ziel deutlich wurde, gab es keine Möglichkeit, vorauszusagen, wo sie angreifen wollten. Er teilte mit Commander Dunbar die Meinung, dass der Faltpunkt Darthan das logische Ziel sei, doch wie logisch es auch sein mochte, er konnte eine Entscheidung von dieser Tragweite nicht auf einer Vermutung gründen, schon gar nicht einer, die nur eine Möglichkeit unter sieben darstellte.
Der Durchbruch in drei Faltpunkten hatte die Ryall annähernd fünfhundert Schiffe gekostet, aber das Opfer mochte gerechtfertigt sein. Durch die Preisgabe dieser Schiffe war es ihnen gelungen, den Spieß umzudrehen und die Initiative an sich zu reißen. Im Anschluss an das erwartete Rendezvous würde ihre durchgebrochene Streitmacht sowohl in Position wie auch in Geschwindigkeit den Vorteil auf ihrer Seite haben, was im Raum etwa mit dem taktischen Vorteil der überhöhten Stellung im Infanteriekampf vergleichbar war. Nur wenn er seine Reservekampfgruppe sofort in Bewegung setzte, würde er imstande sein, ihnen den Weg zu versperren. Aber wohin sollte er sie schicken? Im Moment hatte er nichts als Vermutungen, welchen Kurs sie nehmen würden. Wenn er wartete, bis die Ryall ihre Schleife um Spica zogen, würde keine Zeit mehr sein, die Eindringlinge abzufangen, geschweige denn zu zerstören.
Er war in der Art von Raumzeit-Falle gefangen, in die jeder Kommandeur seinen Gegner zu manövrieren suchte. Die Frage war, wie er herauskommen konnte. Wenn er nicht wusste, welches Ziel sie hatten, wie sollte er sie rechtzeitig überholen, um wirksam eingreifen zu können?
Bei diesem Stand der Dinge bildete sich tief in seinem Gehirn ein Gedanke und schwebte zaghaft an die Oberfläche. Lange Sekunden wendete er ihn hin und her und überlegte, ob er zu offensichtlich sei, um brauchbar zu sein, oder bloß offensichtlich genug, um brillant zu sein.
Zwar konnte er nicht voraussagen, welchen Faltpunkt die Durchbruchsstreitmacht der Ryall angreifen würde, aber ihre Route war so offensichtlich wie der glühende Ball heißer Gase in der Lagedarstellung. Sie konnten unter Ausnutzung seiner Anziehungskraft das Zentralgestirn umrunden, um ihr Angriffsziel zu verschleiern, aber vorläufig war ihre Absicht klar: Sie hielten Kurs auf das Zentralgestirn. Sie würden den Stern mit hoher Geschwindigkeit in nächster Nähe knapp außerhalb der durch Gasausbrüche gefährdeten Zone umrunden und dann wie von einem Katapult geschossen in gerader Linie eine seiner Kampfgruppen angreifen, die die Faltpunkte blockierten. In der Nachbarschaft des Zentralgestirns würden sie jedoch einer Bahn folgen müssen, die schon vor tausend Jahren von Isaac Newton vorherbestimmt worden war. Jede Abweichung davon würde sie in die falsche Richtung davonfliegen lassen.
Während der letzten Annäherungsphase an Spica, wenn ihre Sensoren in der Plasmasuppe praktisch blind sein würden und ihre lebenserhaltenden Bordsysteme unter höchster Belastung arbeiten mussten, würden sie am verwundbarsten sein. Richard Drake überlegte seine Wahlmöglichkeiten und ihre Risiken. Was er zu tun im Begriff war, bereitete ihm Magendrücken, aber die Entscheidung musste getroffen werden.
»Dunbar, veranlassen Sie die Vorbereitung der Flottenreserve auf einen Hochgeschwindigkeitseinsatz.«
»Jawohl, Sir. Wohin?«
»Spica. Wir werden ihnen in einer entgegengesetzten Umlaufbahn und niedriger Höhe entgegenkommen und sie packen, wenn sie am verwundbarsten sind – während sie den Stern auf einer Seite haben und nicht manövrieren können.«
»Jawohl, Sir. Verstehe.«
Drake beobachtete die Echozeichen der drei verschiedenen Durchbruchsgruppen und versuchte zu berechnen, wann alle drei hinter dem Stern durchkommen würden. Es konnte nur eine Schätzung sein, aber das machte nichts. Die Bordrechner würden es früh genug sagen.
Er wandte sich an Phillip Walkirk, der still neben ihm stand, um den Admiral nicht bei seiner Arbeit zu stören.
»Commander, Sie sollten am besten an Bord ihres Schiffes zurückkehren. Innerhalb einer Stunde werden wir unter hoher Beschleunigung sein. Sie werden die Zeit für die Vorbereitung brauchen.«
»Bin schon unterwegs, Admiral.«
Phillip war so schnell zur Tür hinaus, dass Drake den Luftzug zu spüren glaubte. Er nickte seiner Frau zu und sagte:
»Für dich brauchen wir jetzt einen Beschleunigungssitz zum Anschnallen.«
»Was geht vor da draußen?«, fragte sie. Ihre Stimme klang ängstlich.
»Wir werden es mit den Ryall austragen, wenn sie den Stern umrunden.«
»Was bedeutet das?«
»Es bedeutet, dass wir ein Gefecht in der Korona des Sterns führen werden.«