59

Periskay von den Fernen Bergen im Nebel hatte Angst – nicht um sich selbst, aber um Die Rasse. Das Geheimnis um die Zerstörung der Erzaufbereitungsanlage auf Corlis war aufgeklärt, und wie bei so manchem Geheimnis weckte die Aufklärung den Wunsch, dass sie ausgeblieben wäre.

Fünf planetarische Umdrehungen früher war sein junger Assistent in seine Schlafkammer geplatzt und hatte das schrille Warnsignal vor Gefahr ausgestoßen. Als Periskay zu sich kam, war er schon auf sechs Beinen und hatte Rumpf und Kopf in der Abwehrhaltung, den Schwanz ausgestreckt, um ihn als Keule zu gebrauchen, die Arme in der Höhe, um ungesehene Schläge abzuwehren. Seine Ohren waren flach an den Schädel gelegt und die Zähne entblößt, bereit zu zerfleischen, wen oder was ihn bedrohte. Doch statt der verhassten angestammten Feinde sah er Dillatan von den Geschmeidigen Schwimmern in vorsichtigem Abstand und außer Reichweite von seinem Gemach stehen.

»Was gibt es?«, fragte er den Jungen, dessen Schuppen noch ihre erwachsene Färbung entwickelten. Die Verärgerung über die Störung mit dem Alarmsignal war in seinem Tonfall nicht zu überhören.

»Das Schiff meldet vielfache Kontakte im Tor zum Bösen Stern.«

»Ist die Expedition zurückgekehrt?«, fragte Periskay.

»Wenn sie es ist, wird sie von der gesamten Flotte der Ungeheuer gejagt. Die spektrographische Analyse hat die Raumfahrzeuge positiv als Kriegsschiffe der Zweibeiner identifiziert. Eine Flottille scheint sich mit hoher Geschwindigkeit vom Tor fortzubewegen.«

»Kommt sie hierher?«

Dillatan signalisierte Verneinung. »Nein, Storislan vom Sternwanderer meldet, dass sie mit hoher Beschleunigung Kurs auf das Tor nach Carratyl genommen hat. Er bittet um deine Anweisungen.«

»Eine Invasion?«, fragte Periskay ungläubig.

»Es sieht so aus.«

Obwohl er ein Ingenieur-Philosoph und kein Krieger war, zögerte Periskay keinen Augenblick. Diese Lage bedrohte das Überleben Der Rasse.

»Sag Storislan, er soll nach Carratyl schwimmen, so schnell er kann. Er ist autorisiert, die Maschinen seines Schiffes auszubrennen, wenn nötig. Er muss durch das Sterntor und den Alarm verbreiten, dass die Ungeheuer in unseren Raum eingedrungen sind!«

»Ja, Philosoph!«

Dillatan von den Geschmeidigen Schwimmern bewies, wie seine Sippe zu ihrem Namen gekommen war. Er vollführte ein Manöver, das sonst nur im Wasser ausgeführt wurde und »Rolle rückwärts« genannt worden wäre. Aber Dillatan schaffte es auch in der Luft mit einiger Eleganz und verschwand. Periskay lockerte die angespannten Muskeln seines Rumpfes und folgte dem jungen Assistenten in gemächlicherem Schritt, wie es seinem Rang geziemte. Der Befehl, den er soeben erteilt hatte, würde sie wahrscheinlich das Leben kosten. Er benötigte Zeit, um die Implikationen zu durchdenken.

Der Befehl an das Schiff, die Umlaufbahn zu verlassen und mit höchster Kraftanstrengung zu den Heimatsternen durchzustoßen, war die einzig mögliche Entscheidung, wenn eine feindliche Kriegsflotte im System Eulysta erschienen war. Er brauchte die Geschwindigkeitsberechnungen nicht zu sehen, um zu wissen, dass die Ungeheuer in einem Umfassungsangriff versuchen würden, das Tor nach Carratyl zu gewinnen. Jeder logische Verstand, der eine Invasion plante, würde es genauso machen. Was er nicht wissen konnte, war, ob er Storislan gerade zum Tod verurteilt hatte. Ob Sternwanderer das Portal vor den Zweibeinern erreichte, würde weitgehend von den relativen Positionen der beiden Portale im Himmel abhängen. Unglücklicherweise war Himmelsmechanik nicht eine seiner Spezialitäten, also hatte er keine Möglichkeit, den wahrscheinlichen Ausgang zu beurteilen.

In einer plötzlichen Eingebung begriff Periskay, dass dem vermissten Raumschwimmer etwas Ähnliches zugestoßen sein musste. Die Ungeheuer waren aus dem Bösen Stern erschienen und hatten den Erzfrachter abgefangen, bevor er Carratyl erreichen konnte. Kapitän Ossfil und seine Besatzung waren unzweifelhaft tapfer gefallen, als ihr Schiff getroffen wurde. Sternwanderer würde wahrscheinlich das gleiche Schicksal erleiden, wenn er das Rennen zum Sterntor verlor.

Nachdem er alles getan hatte, was er konnte, wandte Periskay sich dem Problem der Sicherheit seiner Leute zu. Was konnten sie gegen eine Flotte von Ungeheuern tun, gefangen in der Falle dieser fremden Welt?

Wieder hatte er eine Intuition, dass er nicht der erste seiner Kaste sei, der sich diesem Problem gegenübersah. Die Leiterin der hiesigen Anlage, Varlan, musste vor dem gleichen Dilemma gestanden haben. Offensichtlich hatte sie versucht, das Bergwerk zu befestigen und in den Stollen gegen die Eindringlinge Widerstand geleistet. Der Zustand des gesamten Komplexes zeigte, dass diese Entscheidung falsch gewesen war.

Nein, wenn die Ungeheuer es der Mühe wert fanden, überhaupt zu landen, lag Sicherheit in den weglosen Wäldern und Sümpfen. Die einheimische Fauna und Flora war allerdings ein Gegenstand, den zu studieren er sich nicht die Mühe gemacht hatte. Welche gefräßigen Räuber warteten in diesen Wäldern, um die Unachtsamen zu verschlingen?

Welche Pflanzen waren für den Stoffwechsel Der Rasse giftig, welche waren nahrhaft? Welche Nahrungsergänzungen würden sie benötigen, um aus dem Land zu leben?

Im Gehen versuchte Periskay sich auf alles zu besinnen, was er über Corlis und Eulysta wusste. Seine Unwissenheit der lokalen Verhältnisse war groß, doch unwissend oder nicht, er hatte keine Wahl. Die früheren Bewohner hatten durch ihr Schicksal bewiesen, was geschehen würde, sollten sie versuchen, die Trümmer der Erzaufbereitungsanlage zu verteidigen. Er hatte kein Verlangen, eine Wiederholung der Geschichte zu sehen, wenigstens nicht in dieser Weise. Nein, ihre einzige Chance bestand darin, dass sie sich in die Wildnis zerstreuten, und sie würden nicht einmal imstande sein, sich sehr weit zu zerstreuen. Die einzigen Fahrzeuge, die sie besaßen, waren schwere Erdbewegungsmaschinen, die eine Spur durch die Wildnis legen würden, der ein Blinder folgen konnte. Eine Hoffnung auf Entkommen gab es nur zu Fuß, und während Die Rasse für das Leben in ihren Sümpfen und Gewässern hervorragend ausgestattet war, hatten ihre kurzen Beine den Nachteil, dass sie sich nicht für lange Märsche über Land eigneten.

Als er das Zelt erreichte, wo sie ihre Mahlzeiten einnahmen, fand er die Hälfte seiner Untergebenen vor einem Kommunikationsgerät. Thossital, der Vorarbeiter, sprach mit dem Schiff.

»Das ist Philosoph Periskays Befehl«, sagte er gerade. »So schnell ihr könnt ...«

Storislan starrte sie aus den Tiefen des Bildschirms an. Er war dem Aufnahmegerät zu nahe, wodurch seine Schnauze komisch verlängert wirkte. »Ich kann euch im zehnten Teil einer Umdrehung einen Lander schicken und heraufholen.«

Periskay drängte sich in die Menge. Als er die Zone erreichte, wo Storislan ihn sehen konnte, hatten seine Leute ihm eine Gasse freigemacht.

Der Schiffskapitän sah ihn. »Ah, Philosoph. Ich habe deinen Arbeitern gesagt, dass ich ein Boot hinabschicken werde, euch zu evakuieren.«

»Nein. Schwimmt zum Carratyl-Portal. Ihr müsst es vor den Ungeheuern erreichen.«

»Du verstehst nicht. Wir haben eine zweite Gruppe von Schiffen geortet, die das Portal vom Bösen Stern verlassen. Sie scheinen hierher zu kommen.«

»Wir sind nicht wichtig. Du musst Denen Die Herrschen Nachricht von dieser Invasion bringen.«

»Ich gehorche deinem Befehl, Philosoph«, erwiderte Storislan. »Ein Dutzend Herzschläge, und Sternwanderer wird auf und davon sein.«

Damit verließ der Schiffskapitän die Frequenz.

Periskay wandte sich zu seinen Leuten um. Zwei Dutzend Köpfe bewegten sich kaum merklich, um ihn ins Auge zu fassen.

»Was sollen wir tun, Philosoph?«

»Bereitet unsere Vorräte für den Transport vor. Wir werden uns in den Busch zerstreuen.«

»Zu Fuß? Was wissen wir von den Gefahren im Wald?«

»Wir wissen nichts von den Gefahren dieser Welt«, erwiderte Periskay und blickte zu dem blauen Zeltstoff über ihm auf.

»Aber wir wissen, welche Gefahren im Himmel lauern. Wir werden eine planetarische Umdrehung warten, um zu beobachten und Vorbereitungen zu treffen. Dann werden wir wie Tiere in den Wäldern verschwinden. Unsere Aufgabe ist es, weit zerstreut in der Wildnis zu sein, wenn die Ungeheuer hierher kommen.«

So machten sie es. Nach der nächsten planetarischen Umdrehung empfingen sie Nachricht vom Sternwanderer, die sie über die Entwicklung informierte. Wie Periskay befürchtet hatte, war Sternwanderer den Kriegsschiffen, die auf das Tor nach Carratyl zujagten, nicht gewachsen. Angesichts dieser Lage musste er an einen Schwarm Schneller Esser denken, die einer schwerfälligen Mutter auf dem Weg zur Eiablage in den Sümpfen nachstellten. Der Ausgang schien unzweifelhaft, und er war nicht gut für Die Rasse.

Noch nie war Periskay so schwer ums Herz gewesen wie jetzt, als er das Kommunikationsgerät ausschaltete und sich mit fünf seiner Untergebenen in die Wildnis aufmachte. Zwei Umdrehungen später erschrak er über den Donner eines Überschallknalls. Er blickte auf und sah gerade noch eine kleine fremde Flugmaschine sehr schnell in niedriger Höhe über den Baumwipfeln. Sie blieb nur für einen Herzschlag in Sicht, aber für Periskay lange genug, um zu sehen, dass sie nicht von Der Rasse hergestellt war.

Der Anblick dieser einzelnen Flugmaschine hatte einen kalten Stachel in Periskays Gehirn getrieben. Wenn Sternwanderer nicht hatte entkommen können und die Ungeheuer Eulysta besetzten, war Die Rasse wahrhaftig in ernster Gefahr.

Sergeant Matt Cunningham vom königlich sandarischen Marinekorps schritt durch die gelbgrüne Vegetation und lauschte durch das auf maximalen Empfang eingestellte Horchgerät seines Helms dem Summen von Insekten. Mit einem Teil seiner Aufmerksamkeit verglich er die eigene Position auf dem Orientierungsfeld im oberen Visierbereich mit dem, was seine Augen ihm zeigten, und verglich das mit den Positionen der anderen Männer seiner Gruppe. Die taktische Situation war nicht anders, als sie in den letzten zwei Tagen gewesen war – frustrierend!

Der Angriff der Marinesoldaten des Truppentransporters TSNS Mozart auf Corlis im System Eulysta hatte im Morgengrauen einige vierzig Stunden früher begonnen. Nach einer Annäherung unter hohem Bremsdruck war der Angriff wie nach dem Lehrbuch abgelaufen. Cunninghams Kompanie war mit ihren Raumtransportern in die Atmosphäre eingetreten, noch ehe die Mozart ihre erste Umlaufbahn vollendet hatte. Sie stießen hinab auf den Schlammstrom, wo das Bergwerk der Ryall gewesen war, und hatten das Gelände in einer klassischen vertikalen Einschließung genommen. Doch was vom Bergwerk und der Erzaufbereitungsanlage übrig geblieben war, lag verlassen. Nur einige blaue Zelte verrieten, dass vor kurzem noch jemand dagewesen war. Die Zeichen waren eindeutig. Die Echsenleute hatten nach der Zerstörung der Anlage durch die Flutwelle den Schlamm aufgegraben und nach Hinweisen darauf gesucht, was hier geschehen war. Das Ausmaß der Grabungsarbeiten ließ auf eine große Zahl von Arbeitern schließen. Einige Männer in seiner Kompanie spekulierten, dass sie zu ihrem Schiff evakuiert worden waren, sobald die Flotte im Faltpunkt erschienen war. Dies bezweifelte Cunningham allerdings. Seine Intuition, unterstützt durch taktische Analyse, ging dahin, dass die Zeit zu einer Flucht mit dem Schiff nicht ausgereicht hatte. Das Schiff der Ryall hatte die Umlaufbahn nach dem Ausbruch der Flotte aus dem Faltpunkt zu kurzfristig verlassen, als dass die Ausgrabungsmannschaft an Bord sein konnte.

Wenn die Ryall aber nicht mit dem Schiff entkommen waren, dann mussten sie sich in die Büsche geschlagen haben, denn in den zumeist abgesoffenen Bergwerksstollen waren sie nicht versteckt. Cunningham und zwei Kompanien Marinesoldaten hatten Auftrag erhalten, die Umgebung nach Flüchtlingen zu durchkämmen. In den vergangenen zwei Tagen hatten sie ein knappes Dutzend Echsenleute gefangengenommen und zusammengetrieben.

Keiner der bisher gefangenen Ryall war von der Kriegerkaste. Das hatte sie nicht daran gehindert, sich energisch zur Wehr zu setzen. Glücklicherweise waren die schussfesten Kampfanzüge auch gegen Zähne unempfindlich, obwohl ein kräftiger Gefangener im Handgemenge einem Marinesoldaten den Arm gebrochen hatte.

Es wäre leichter gewesen, sie zu erschießen, aber sie hatten Befehl, so viele Gefangene wie möglich zu machen, um sie zu vernehmen. Und obwohl das anstrengende Stapfen durch diesen weglosen fremden Urwald schweißtreibende, unangenehme Arbeit war, zog Cunningham sie noch immer dem an die Nieren gehenden Bremsdruck vor, den sie während der Annäherung an Corlis hatten ertragen müssen.

»Sergeant!«, erklang die bekannte Stimme in seinen Kopfhörern und übertönte momentan das Hintergrundgeräusch der Insekten.

»Ja, Suharo?«

»Ich glaube, ich sehe einen.«

»Wo?«

»Ungefähr fünfzig Meter voraus. Die Analyse brachte eben eine Zielfigur in mein Orientierungsfeld.«

»Das kann alles sein, Suharo. Du weißt, wie schlecht die Analytik auf einer fremden Welt ist. Sie hatte noch nicht Zeit zu lernen, was sie wissen muss.«

»Soll ich es ignorieren?«

»Nein. Geh vorsichtig näher und nimm dich in acht. Dass die anderen unbewaffnet waren, bedeutet nicht, dass dieser es auch ist.«

»Verstanden, Sergeant. Ich arbeite mich jetzt näher heran.«

»Murphy und Gleason, ihr gebt Suharo Flankenschutz und Unterstützung.«

»Verstanden, Sergeant. Wird gemacht.«

Cunningham spitzte die Lippen und begann tonlos zu pfeifen. Die Dinge entwickelten sich nicht schlecht, wie es schien.

Lieutenant Mirabel Fortura lag angeschnallt im zurückgeklappten Sitz und ließ ihren Blick über die Bildschirme gleiten. Bis auf die Begleitung ihres Schiffes und eine expandierende Wolke von Plasma fünfzigtausend Kilometer entfernt war nichts zu sehen. Das goldene Symbol, das die Javelin darstellte, ihren schnellen bewaffneten Aufklärer, lag genau jenseits des blassroten Ovals, das den Faltpunkt zum nächsten System der Ryall verkörperte. Um das Oval formierten sich die übrigen bewaffneten Aufklärer der Merkur-Klasse. Die starke und anhaltende Beschleunigung hatte ihre Triebwerke überbeansprucht, und man würde sie zu einer Reparaturwerft im System Eulysta schleppen müssen, sobald eine errichtet werden konnte, aber ihre Mission war ein Erfolg gewesen, zumindest bisher.

Das Merkur-Geschwader hatte das Rennen um die erste Ankunft am Faltpunkt gewonnen, wenn auch nur knapp. Trotz hoffnungsloser Unterlegenheit hatten die Ryall nicht aufgegeben und aus ihrem schwerfälligen Frachter herausgeholt, was die Triebwerke hergaben, als sie alle am Faltpunkt zusammenkamen. Es war ein leichtes Manöver gewesen, den großen Ryall-Frachter kurz vor dem Ziel mit einer Rakete abzuschießen. Nun brauchten sie nur noch die nächsten vier Tage auszuhalten, während der Rest der Flotte vom Faltpunkt Eulysta/Antares nachfolgte. Der militärische Geheimdienst hatte das Handstreichunternehmen der Vorhut als »wahrscheinlich ohne Feindberührung« eingestuft – eine gute Einschätzung, da die Ryall dieses System für eine Sackgasse hielten. Mirabel hoffte, dass es sich so verhielt. So oder so, ihr Auftrag lautete, den Faltpunkt zu halten und alles zu zerstören, was von der anderen Seite durchkam, bis das Gros der Flotte den Faltpunkt erreichte. Diese Befehle galten uneingeschränkt, ob der Eindringling das Ryall-Aquivalent einer Jacht oder das größte Schlachtschiff ihrer Flotte war. Im letzteren Fall würde das Merkur- Geschwader wie ein Rudel Hunde sein, die nach den Fersen eines Bären schnappten. Ganz gleich, wie viele Angehörige des Geschwaders im Kampf fielen, wie viele Schiffe verloren gingen, kein Eindringling durfte entkommen und die Nachricht von der Invasion zurück nach Carratyl tragen.

Mirabel hustete noch immer den Geschmack nach gebrauchtem Turnschuh, den die Ausgleichsflüssigkeit für hohe Beschleunigungen in ihren Lungen hinterlassen hatte. Dieses Zeug zu inhalieren war eine unangenehme Begleiterscheinung, doch der Erfolg rechtfertigte sie. Die Eroberung des Systems Eulysta war eine Operation wie aus dem Lehrbuch gewesen. Wenn nur der Rest der Invasion genauso gut verliefe.

Was hatten sie den Offiziersanwärtern an der Akademie beigebracht? Kein Plan überlebt den Feindkontakt. So weit hatte dieser Plan alle Erwartungen erfüllt, was nach den Gesetzmäßigkeiten von militärischen Operationen der Zeitpunkt war, wo man sich die größten Sorgen machen musste ...

Richard Drake saß an seiner Konsole an Bord der Conqueror II und machte sich Sorgen. Das schien in diesen Tagen seine normale Geistesverfassung zu sein. Nicht nur lastete die Verantwortung für das Gelingen der Invasion auf seinen Schultern, was mehr als genug Sorgen für einen einzelnen Mann mit sich brachte, sondern es gab noch eine andere Sorge. Das vorausberechnete Datum von Bethanys Niederkunft war verstrichen, während die Flotte ihren Überraschungsangriff durch das System Eulysta geflogen hatte. Wahrscheinlich war er inzwischen stolzer Vater eines gesunden kleinen Jungen. Wahrscheinlich war alles für Mutter und Kind gut gegangen. WAHRSCHEINLICH sollte er überglücklich sein. Warum also fühlte er sich nicht überglücklich?

Trotz runder tausend Jahre wissenschaftlicher Obstetrik gab es keine Garantien, wenn es um Geburten ging. Selbst wenn Bethany die Geburt gut überstanden hatte, wie sah es mit dem Kind aus? Gewiss, die Aufnahmen und genetischen Tests hatten gezeigt, dass alles in Ordnung war, als er Alta verlassen hatte, aber was wussten die Genetiker wirklich? Konnten sie sagen, ob ein Kind im Alter von zwei Jahren ein quengelnder Plagegeist sein würde, oder wie es in der Schule zurechtkommen würde, oder ob der Junge als Heranwachsender schüchtern und linkisch im Umgang mit Mädchen sein würde? Wenn man die Komplexität des menschlichen Genoms betrachtete, war es ein Wunder, dass sie überhaupt irgendwelche Eigenschaften des ungeborenen Kindes glaubten voraussagen zu können.

Und was war mit Krankheiten?

Mit einer bewussten Anstrengung unterdrückte Drake seine Nervosität über die Unwägbarkeiten dessen, was daheim geschah, und konzentrierte sich stattdessen auf die Unwägbarkeiten des Geschehens um ihn.

Tatsächlich ließ die Invasion sich gut an, und das bereitete ihm ebenfalls Sorgen. Wie erwartet, hatte es eine geringe Ryall-Aktivität um Corlis gegeben, als die Flotte aus dem Nebel im System Eulysta aufgetaucht war. Die Ryall hatten sie ziemlich rasch ausgemacht, nach der Schnelligkeit zu urteilen, mit der ein Schiff die Umlaufbahn um Corlis verlassen hatte. Die zwei darauf folgenden Stunden waren die längsten in Drakes Leben gewesen. Er erinnerte sich der Erleichterung, als endlich Vektor und Richtung des Flüchtlings festgestellt waren. Wenn das Ryall-Schiff nicht mit unbekannten Besonderheiten aufwartete, würden die schnellen bewaffneten Aufklärer des Merkur-Geschwaders ihn vor dem Faltpunkt abfangen.

Ging alles gut, würden die ersten Einheiten der Flotte das Tor zum System Carratyl acht Tage nach dem Verlassen des Nebels erreichen. In zwei weiteren Tagen würde die Flotte den Faltpunkt einschließen, während Nachzügler das Gros einholten, und dann würde der Prozess noch einmal von vorn beginnen.

Carratyl war kein bloßer Vorposten der Ryall-Hegemonie. Es war eine landwirtschaftlich geprägte Welt mit einem Faltpunkt, der direkt nach Spica führte. Auf einem der Monde hatten die Echsenleute einen Militärstützpunkt, und zwischen dem Planeten und dem Faltpunkt herrschte reger Verkehr. Das nächste Mal, wenn eine menschliche Flotte aus dem Faltraum hervorbrach, würde sie eine Streitmacht der Ryall vorfinden, die imstande wäre, ihr weiteres Vordringen zu verhindern. Es würde notwendig sein, sich zum Faltpunkt Carratyl/Spica durchzukämpfen und ihn einzuschließen. Mit etwas Glück könnten sie dorthin gelangen, bevor ein Raumfahrzeug der Ryall den Transit durch den Faltpunkt nach Spica bewerkstelligte. Wenn nicht, würden sie den Vorteil der Überraschung verlieren, und die Invasion würde sich in ein interstellares Gemetzel verwandeln.

Drake verzog schmerzlich das Gesicht, als er sich vorstellte, wie seine Flotte aussehen würde, nachdem sie Spica einer voll mobilisierten Ryall-Hegemonie entrissen haben würde. Selbst wenn sie das Überraschungsmoment ein zweites Mal mit Erfolg einsetzten, würden die Verluste hoch sein, sobald sie das Zentralsystem des Machtbereiches der Ryall erreichten. Es war einfach nicht möglich, im Voraus eine Schätzung abzugeben, die als realistische Grundlage für die richtige Kräfteverteilung dienen konnte. Er hatte den Ausdruck »Krieg im Nebel«, gehört, aber nie wirklich verstanden, was damit gemeint war ... bis jetzt. Die einzige Gewissheit, mit der er rechnen konnte, war die, dass es ihm beschieden war, für den Rest der Reise von Kaffee und Magensäure zu leben.

Während er nachdachte, überflog er den täglichen Lagebericht. Das System Eulysta war gegenwärtig der einzige Lichtblick in seinem Leben. Das System war fest in menschlicher Hand, und schon jetzt hatte Großadmiral Belton mit den Vorbereitungen zum Bau einer militärischen Basis begonnen, die bald die größte außerhalb des Sonnensystems sein würde. Auf Corlis sollten beschädigte Schiffe repariert und Vorratslager von allen Verbrauchsgütern angelegt werden, die von einer Flotte im Krieg benötigt wurden. Eins war jedenfalls gewiss: Spica würde nicht der rechte Ort sein, um an Munitionsmangel zu leiden.