52

Bethany Drake lag im zurückgeklappten Beschleunigungssitz und sah die Discovery in dem am Schott angebrachten Bildschirm allmählich größer werden. Sie und die Psychotechnikerin Kirsten Moldare auf dem Nebensitz waren die einzigen Passagiere an Bord des kleinen Landungsbootes, das eine Stunde zuvor vom Raumhafen Mojave gestartet war.

»In dem Ding sind Sie durch einen explodierten Stern gekommen?«, fragte Kirsten mit einer Handbewegung zum Bildschirm, wo der altanische Schlachtkreuzer im Sonnenschein vor dem schwarzen Hintergrund schimmerte. Bethany nickte. »Mehr als einmal.«

»Meine Güte, das Ding muss mindestens hundert Jahre alt sein!«

»Eher hundertfünfzig. Aber die Discovery ist immer gut gepflegt und instand gehalten worden, also werden Sie ein gesundes Schiff vorfinden, denke ich.« Sie gab vor, nichts zu bemerken, als ihre Begleiterin unübersehbar schluckte. Offensichtlich hatte Kirsten sich gerade erinnert, dass sie bald an Bord dieser Antiquität in der Mitte des Bildschirms gehen würde.

Koordinator Blenham war Bethanys Bitte um einen ausgebildeten Vernehmungsspezialisten unverzüglich nachgekommen. Ein Anruf im Hauptquartier der Großen Flotte hatte dazu geführt, dass Lieutenant Kirsten Moldare, Doktor der Psychologie, beauftragt worden war, Varlans Motive und ihre wahre Einstellung ans Licht zu bringen. Annäherung und Andockmanöver im Hangar des Schlachtkreuzers wurden ohne Schwierigkeit bewerkstelligt. Der übliche Zustrom kalter Luft und wirbelnder Expansionsnebel kündete von ihrer sicheren Ankunft. Rorqual Marchant begrüßte die beiden Frauen, als sie die Luftschleuse verließen.

»Willkommen an Bord, Mrs. Drake. Und meine Glückwünsche zu Ihrer Hochzeit! Der Captain hätte keine bessere Wahl treffen können.«

»Hatten Sie Gelegenheit, die Zeremonie zu sehen, Mr. Marchant?«, fragte Bethany.

»Alle an Bord sahen sie, und inzwischen haben sie die Aufnahme mindestens zweimal wiederholt. Auch die Besatzung der City of Alexandria hat sie gesehen.«

»Bitte danken Sie der Besatzung in meinem Namen für ihr wunderschönes Hochzeitsgeschenk.« Ryssa Blenham hatte für die Besatzung der Discovery eine Statuette der aztekischen Fruchtbarkeitsgöttin besorgt und sie Richard und Bethany beim Empfang nach der Trauung überreicht.

»Sie können den Leuten selbst danken. Ich habe mir die Freiheit genommen, das Mittagessen in der Mannschaftsmesse zu bestellen. Hoffentlich macht es Ihnen nichts aus.«

»Ich fühle mich geehrt!« Bethany wandte sich an ihre Begleiterin. »Commander Marchant, ich möchte Ihnen Lieutenant Kirsten Moldare von der Großen Flotte vorstellen. Kirsten, Commander Marchant, Erster Offizier der Discovery

»Willkommen an Bord, Lieutenant.«

»Danke, Captain.«

»Kann ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein, während Sie an Bord der Discovery sind?«

»Sie können so rasch wie möglich die Schwerkraft wiederherstellen, Captain. Ich bin Psychologin, kein Bordoffizier, und seit wir in die Umlaufbahn gekommen sind, versucht mein Magen am Rückgrat hinaufzukriechen.«

»In ungefähr fünfzehn Minuten werden Sie sich besser fühlen«, versprach Marchant.

Bethany half Kirsten zu Drakes Kajüte, wo sie die Rückkehr der Schwerkraft abwarteten und die Zeit nutzten, um die bevorstehende Vernehmung zu besprechen.

»Ihre Technik wird Varlan nicht verletzen, nicht wahr?«, fragte Bethany.

Kirsten schüttelte den Kopf. »Die Suppressivdroge, die ich verwende, ist als pharmakologisch unbedenklich für die Biochemie der Ryall eingestuft. Was die Möglichkeit betrifft, dass die Versuchsperson sich selbst verletzt, so werde ich sie vorsichtshalber ruhig stellen.«

»Rechnen Sie damit, dass sie gewalttätig wird?«

»Solche Reaktionen sind recht häufig, Mrs. Drake. Sie müssen wissen, dass die Droge ihre höheren Hirnfunktionen unterdrückt, ohne ihre Emotionen zu beeinflussen. Sobald sie unter dem Einfluss der Droge steht, wird Varlan sich wie ein menschliches Wesen unter der Wirkung einer starken Psychodroge verhalten. Ließe man sie in ihren Bewegungen unbehindert, könnte sie sehr leicht sich selbst oder uns verletzen.«

»Und wenn sie sich weigert, auf unser Vorhaben einzugehen? Sie ist stark wie zwei Männer, müssen Sie wissen.«

»Ich denke, das wird kein Problem sein. Die Ryall sind ziemlich stoische Geschöpfe, wenn sie erst einmal wissen, dass etwas unvermeidlich ist.« Kirsten verzog das Gesicht und hob eine Hand an den Magen. »Endlich! Ich würde sagen, Commander Marchant ist dabei, sein Wort einzulösen. Die Schwerkraft scheint zurückzukehren.«

Bethany nickte. »Ich spüre es auch; ungefähr ein Zehntel Standard. Sie wird jetzt ziemlich rasch zunehmen.«

»Schon jetzt reicht sie aus, um meinen Magen daran zu hindern, dass er Purzelbäume schlägt. Wollen wir unsere Versuchsperson aufsuchen?«

Bethany führte Kirsten zu Varlans Kabine. Sie nickte dem Dienst tuenden Marinesoldaten im Korridor zu und trat ein.

»Ich begrüße Sie, Bethany von den Lindquists!«, rief Varlans pfeifende hohe Stimme, als sie ihre Besucherinnen erblickte.

»Hallo, Varlan. Haben Sie mich vermisst?«

»Sehr. Ich beobachtete Ihr Paarungsritual auf meinem Unterhaltungsbildschirm. Der Symbolismus scheint recht komplex. Ich würde später einmal gern mit Ihnen darüber sprechen.«

»Dazu bin ich jederzeit gern bereit, Varlan. Hat die Besatzung Sie gut behandelt?«

»Sie füttert mich regelmäßig, aber ich vermisse unsere täglichen Diskussionen.«

Bethany nickte. »Darin stehen Sie nicht allein. Varlan, ich möchte Sie mit Kirsten Moldare bekannt machen. Sie arbeitet für die Herrschenden auf der Erde. Kirsten, ich habe die Ehre, Ihnen Varlan von den Duftenden Wassern vorzustellen, Betriebsleiterin des Corlis-Bergbaukomplexes und meine Freundin.«

»Ich begrüße Sie, Varlan«, sagte die Psychologin und imitierte die Ryallgeste der Ehrerbietung. »Es ist mir eine Ehre, eine so vollendete Vertreterin Ihrer Art kennen zu lernen.«

Varlan stellte ihre Schlappohren auf und musterte diesen neuen Menschen mit einem obsidianschwarzen Auge. »Ich grüße Sie, Kirsten von den Moldares. Auch ich bin geehrt, dass Sie sich die Zeit nehmen, mich zu begrüßen. Darf ich fragen, zu welchem Zweck es geschieht?«

»Bethany hat mir von Ihren Gesprächen mit ihr erzählt. Ich habe mit verschiedenen Ihrer Artgenossen gesprochen und keinen gefunden, der Ihrer großen Weisheit gleichkäme.«

»Es ist wahr, dass Bethany mich veranlasst hat, tief in meine eigene Seele zu blicken.«

»Es ist immer schwierig, Konzepte zu begreifen, die normalen Denkmustern fremd sind«, sagte Kirsten. »Dass es Ihnen gelungen ist, macht der Sippe von den Duftenden Wassern Ehre.«

»Ich danke der Tochter von den Moldares für ihre freundlichen Worte.«

»Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten, Varlan.«

»Von welcher Art?«

»Ich studiere Ihre bewundernswerte Art von Berufs wegen.«

»Sie sind eine Vernehmerin von Gefangenen?«

»Ja«, antwortete Kirsten mit mehr Aufrichtigkeit, als sie einem Menschen gegenüber gezeigt hätte.

»Und Sie wünschen mich zu vernehmen?«

»Ich möchte die Weisheit eingehender studieren, die Sie zu Ihrer neuen Einsicht führte. Ich habe eine Droge, die mir bei der Untersuchung helfen wird.«

»Droge?« Das Übersetzungsgerät signalisierte den plötzlichen Schrecken, den die Ryall empfand, indem es die Lautstärke erhöhte.

»Es wird Ihre Gliedmaßen schwer machen und vielleicht verursachen, dass Ihre Augen sich heiß fühlen. Aber Sie werden in keiner Weise Schaden davontragen.«

Varlan legte die Ohren an und wandte sich an Bethany. »Ist dies Ihr Wunsch, Bethany von den Lindquists?«

»Es würde sehr hilfreich sein, Varlan.«

Die Ryall zögerte lange Sekunden, dann machte sie eine Geste, die widerwillige Akzeptanz einer Situation signalisierte.

»Bitte nehmen Sie Ruhestellung ein«, sagte Kirsten.

Varlan zog die sechs Beine unter den Rumpf und legte den Schwanz um sich, dann ließ sie den Kopf auf den Teppichboden niedersinken. Kirsten zog eine Injektionspistole aus ihrer Arzttasche und trat näher.

Sie kniete nieder und fuhr mit den Fingerspitzen über Varlans Rücken, um nach einem bestimmten Wirbel zu suchen. Als sie ihn fand, hielt sie die Mündung der Pistole an das Gelenk und injizierte eine Dosis der Droge.

»Das Mittel wird erst nach einigen Augenblicken wirksam, Varlan. Ängstigen Sie sich nicht über die begleitenden Empfindungen. Es ist harmlos.«

Die beiden Frauen beobachteten aufmerksam, wie Varlan sich langsam entspannte. Weniger als eine Minute nach der Injektion lag sie ausgestreckt wie ein schlafender Drache. Nur die Augen zeigten, dass sie wach und bei Besinnung war.

»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Kirsten aus ihrer knienden Haltung neben dem Zentauren.

»Schläfrig, aber nicht schläfrig«, antwortete das Übersetzungsgerät am Hals der Ryall. Die Diktion des Computers war unverändert klar, aber Bethany glaubte eine Ungenauigkeit in der Sprechweise der Ryall auszumachen. Sie sagte es Kirsten.

»Das ist normal«, meinte die Psychologin. Sie machte sich daran, Varlans Herzschlag, Temperatur und Atmung mit Hilfe eines komplizierten Geräts zu kontrollieren, dann nickte sie befriedigt. »Sie ist unzweifelhaft in Narkose. Fangen Sie einfach an, wie wir besprochen haben.«

Bethany ließ sich neben der liegenden Gestalt nieder, dass Varlan sie besser sehen konnte. »Wie ist Ihr voller Name, bitte?«

»Ich bin Varlan von der Sippe der Duftenden Wasser.«

»Und Ihre Heimatwelt?«

»Das schöne Darthan!«

»Und welche Position bekleideten Sie auf Corlis?«

»Ich war die Betriebsleiterin der Mineralgewinnungsanlage.«

»Wissen Sie, wer ich bin?«

»Sie sind Bethany von den Lindquists, Mensch und meine Gefängniswärterin.«

»Bedeute ich Ihnen sonst nichts?«

»Sie erleichtern mir die Langeweile und belehren mich über Ihre Art, die von meinesgleichen ›Ungeheuer‹ genannt wird.«

»Sicherlich denken Sie nicht, dass ich ein Ungeheuer bin, Varlan.«

Die Ryall antwortete nicht. Kirsten bedeutete Bethany, dass sie die Frage wiederholen solle, was diese tat. Es folgte eine weitere Verzögerung, und Bethany bemerkte, dass Varlans Atmung von einem langsam rhythmischen Ruhezustand zu einem kurzen, schnellen Keuchen beschleunigte. Die Herrschaft der Droge über sie war offensichtlich nicht vollständig. Irgendwo unter dieser graugrünen Haut, die sich über den birnenförmigen Schädel spannte, tobte ein Kampf. Dann, ganz plötzlich, als hätte irgendwo im Bewusstsein der Ryall eine Barriere nachgegeben, stieß Varlan eine Reihe von quietschenden Lauten aus, beinahe zu schnell, als dass das Übersetzungsgerät ihr folgen konnte.

»Du bist schlimmer als ein Ungeheuer! Deine Gattung ist die Brut des Bösen Sterns, und ihr würdet euch an unseren Jungen mästen, wenn wir euch die Gelegenheit gäben. Ihr seid Geschöpfe, die vernichtet werden müssen, selbst wenn eure Vernichtung das Werk von tausend Generationen sein sollte!«

Etwa sechzehn Stunden später entließ die Maschine vom Raumhafen Mojave eine zutiefst niedergeschlagene und entmutigte Bethany Drake in die Arme ihres wartenden Gemahls.

»Wie ist es gegangen?«, fragte er nach einem Begrüßungskuss. Die Frage war rein rhetorisch. Er sah ihrem Gesichtsausdruck an, wie es gegangen war.

»Ach, Richard, es war furchtbar!«, schluchzte sie. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr Varlan uns hasst.«

»Und ihre Bekehrung zu unserer Sicht?«

»Alles Heuchelei und Verstellung. Sie hatte einen unausgegorenen Plan, dem Oberkommando der Ryall die Position der Erde mitzuteilen. Während ich glaubte, wirklich voranzukommen, plante sie die ganze Zeit einen Angriff auf die Erde.«

Drake zog seine Frau in die Arme und hielt sie umfangen. So standen sie lange Minuten, ohne auf die Blicke Vorübergehender zu achten. Schließlich schnupfte Bethany, nahm den Kopf von seiner Schulter und zwang sich zu einem Lächeln. »Und wie war dein Tag, Liebster?«

»Verglichen mit deinem?«, fragte er. »Nicht gut. Ich werde dir davon erzählen, wenn wir zum Hotel kommen.«

Später, in der Zurückgezogenheit ihres Zimmers, berichtete er von der Sitzung im Amtszimmer des Ersten Koordinators. Sie lauschte mit wachsendem Entsetzen, als er auf die Schlussfolgerung ihrer irdischen Gastgeber zu sprechen kam.

»Evakuierung? Das kann nicht ihr Ernst sein!«

»Ich fürchte, sie meinen es verdammt ernst«, versetzte Drake. »Sie haben Valeria und Hellsgate abgeschrieben. Ihre Computersimulationen geben uns keine strategische Chance, die Ryall von Aezer zu vertreiben.«

»Dann werden wir die Verbindung durch den Ringnebel aufrechterhalten.«

Drake schüttelte den Kopf. »Auch das haben sie überprüft. Die Anstrengungen, die nötig wären, den Verkehr mit unseren Welten aufrecht und die Ryall in Schach zu halten, würde zu viele Kräfte binden und Ressourcen beanspruchen, die anderswo fehlen würden. Die Zentralregierung und der Interstellare Rat würden die Verantwortung nicht auf sich nehmen.«

»Und doch sind sie bereit, die weitaus umfangreichere Aufgabe zu übernehmen, die Bewohner zweier Welten durch den Ringnebel zu evakuieren. Woher wollen sie die dazu benötigten Schiffe nehmen?«

»Man braucht nicht allzu viele, mein Liebes. Ich habe ihre Berechnungen gesehen.«

»Es geht um sechs Milliarden Menschen, Richard, vier Milliarden Sandarer und zwei Milliarden der unsrigen. Wenn wir unsere Habseligkeiten dazurechnen, würde jedes Schiff im Bereich der menschlichen Hegemonie herangezogen werden müssen.«

»Von Habseligkeiten ist nicht die Rede. Sie wollen die Leute in Kältetiefschlaf versetzen und wie Brennholz stapeln. In einen der großen Frachter gehen viele hinein, wenn man sich nicht um Kleinigkeiten wie Essen, Ellbogenraum und andere Bedürfnisse sorgen muss.«

»Sicherlich werden sie uns nicht zwingen, alles aufzugeben, Richard. So grausam können sie nicht sein.«

»Das Angebot lautet, die Bevölkerung zu evakuieren, Punktum! Keine Hunde, keine Katzen, keine Topfpflanzen, keine Gemälde, keine Besitztümer irgendwelcher Art. Wenn man bedenkt, dass du nackt in einen Kälteschlaftank kommst, werden wir vielleicht nicht mal unsere Kleider haben, wenn wir dort ankommen, wo immer sie uns wieder ansiedeln wollen. Das ist der andere Teil der guten Nachricht. Wir werden nicht zu einer einzigen Welt geschickt, sondern sie wollen uns über den ganzen von Menschen bewohnten Raum verteilen.«

»Du sagtest ihnen natürlich nein.«

Er grinste. »Wir sagten ihnen: ›Zum Teufel, nein!‹«

»Gut. Was sagten sie darauf?«

»Sie legten uns nahe, dass wir übereilte Entschlüsse vermeiden und eine Weile darüber nachdenken sollten. Sie erinnerten uns, dass wir entweder jetzt evakuieren oder bereit sein müssen, irgendwann in den nächsten zwanzig Jahren von den Ryall überrannt zu werden.«

»Es muss doch eine andere Wahl geben!«, sagte Bethany.

»Wenn es eine gibt, ist sie mir noch nicht eingefallen.«

Sie schob ihre Hand in die seine, und sie saßen lange Minuten still, während sie versuchte, diesen neuen Schock zu verarbeiten. Endlich wandte sie sich wieder an Drake. »Was werden wir tun, Richard?«

Er zeigte ihr das hilflose Lächeln eines Mannes, der sich überfordert sieht. »Ich weiß nicht, wie es mit dir ist, aber ich glaube, ich werde mich betrinken! Machst du mit?«

Sie zuckte die Achseln. »Warum nicht? Dadurch kann es auch nicht schlimmer werden, als es ohnehin schon ist!«

Das Besäufnis erwies sich als eine Fehlentscheidung. Drake hatte ein Glas getrunken und mit dem zweiten angefangen, als er zu der Einsicht kam, dass Alkohol keine Lösung war. Er blickte auf und sah, dass Bethany ihr erstes Glas noch nicht geleert hatte. In beiderseitigem Einvernehmen gingen sie auf den Balkon und setzten sich nebeneinander auf die Bank und blickten über die Stadt hin.

Die Sonne war längst untergegangen und hatte das Feld den Lichtern von Mexico City überlassen, die sich als ein Teppich glitzernder Juwelen weit über das trockengelegte Bett des früheren Sees erstreckten, wo vor mehr als elfhundert Jahren Hernan Cortes den aztekischen Priesterkönig Montezuma II. besiegt hatte. Am Himmel waren nur die hellsten Sterne sichtbar; alle anderen wurden vom Lichterglanz der Stadt überstrahlt. Dennoch versuchte Drake die Sternbilder zu identifizieren und spähte zum Südhimmel, um vielleicht einen rötlichen Funken am Himmel zu sehen. Nach einer Weile beteiligte sich Bethany an der Suche.

»Ist er das?«, fragte sie und zeigte zu einem Stern über dem Horizont, wo die Berge der Sierra Nevada einen schwarzen Wall bildeten.

Drake schüttelte den Kopf. »Die Richtung stimmt nicht. Das ist Osten. Was du siehst, ist wahrscheinlich der Mars. Ich bin nicht sicher, ob Antares zu dieser Jahreszeit am nördlichen Sternhimmel der Erde sichtbar ist.«

Bethany schmiegte sich an ihn. »Macht nichts. Wir könnten die Heimat sowieso nicht sehen.«

Drake steckte die Nase in ihr duftendes Haar und lächelte.

»Erinnerst du dich, wie wir uns das erste Mal begegneten?«

»Bei Mrs. Mortridges Abendempfang? Wie könnte ich es vergessen? Du erzähltest allen von der Conqueror-Mission, und jemand machte die alberne Bemerkung, wie überraschend es sei, dass einige der toten Besatzungsmitglieder Frauen waren ...«

»Worauf du dich energisch einmischtest und ihn über die Geschichte weiblicher Raumfahrer aufklärtest.«

Sie lächelte. »Onkel Clarence sagt immer, dass ich eine Neigung zum Predigerhaften hätte. Warst du böse auf mich, weil ich deine Geschichte unterbrach?«

»Ganz im Gegenteil. Ich hatte dieselbe Geschichte schon ein Dutzend Male erzählt. Du warst sozusagen ein frischer Lufthauch. Außerdem warst du die schönste Frau, die ich je gesehen hatte.«

Bethany seufzte. »Und ich fand dich in deiner Uniform besonders schneidig. Ich fühlte mich geschmeichelt, dass du dir überhaupt die Mühe machtest, mit mir zu sprechen.«

Wieder schwiegen sie lange Minuten. Schließlich sagte Bethany: »Weißt du, was ich am meisten vermissen werde, wenn wir uns evakuieren lassen müssen, Richard?«

»Das werden wir nicht.«

»Ich weiß«, antwortete sie. »Aber wenn wir unsere Heimat verlassen müssten, weißt du, was mir am meisten fehlen würde?«

»Was?«

»Der Geruch in der Luft nach einem Frühlingsregen im Hochland, wenn die Xanthrobüsche alle gleichzeitig aufblühen.«

Drake nickte. Der Duft der Xanthrosamen wurde auf Alta zu einem beliebten Parfüm verarbeitet. Vor dem Novaausbruch war Xanthroextrakt ein wichtiger Exportartikel gewesen.

»Ich glaube, ich würde den Aufstieg zur Clearetherspitze am meisten vermissen«, sagte er. »Es ist anstrengend und mühsam, bis zum Gipfel aufzusteigen, aber wenn du oben bist, kannst du bei klarem Wetter dreihundert Kilometer in jeder Richtung sehen.«

»Das hört sich gut an.«

»Nächstes Mal werde ich dich mitnehmen.« Verspätet fiel ihm ein, dass die Gelegenheit dazu sich vielleicht nie mehr bieten würde.

Bethany schien seine Gedanken zu erraten. Tränen traten ihr in die Augen.

»Verdammt, Richard, es ist einfach nicht gerecht!«

»Was ist nicht gerecht?«

»Diese ganze Situation. Wir sollen unsere Heimat an die Ryall verlieren, und warum? Sind wir weniger intelligent als sie? Sind sie bessere Krieger? Bauen sie bessere Schiffe? Nichts davon! Wir verlieren diesen Krieg, weil der falsche Stern zur falschen Zeit sein Leben beendete. Warum konnte nicht Spica zur Nova geworden sein? Wo wären die Ryall dann?« Bethany fühlte, wie sein Körper sich plötzlich spannte. Sie wandte den Kopf und sah an seinem Ausdruck, dass er tief in Gedanken war. »Richard, was hast du?«

»Nichts«, antwortete er und stand auf. »Ich hatte gerade einen unheimlichen Gedanken.«

»Was?«

»Es ist besser, ich mache dir jetzt noch keine Hoffnungen«, sagte er, dann ging er mit langen Schritten hinein zum Telefon. Bethany folgte ihm neugierig. »Wen willst du anrufen?«

»Das Hauptquartier der Großen Flotte.«

»Warum?«

»Ich brauche Zugang zu ihren taktischen Computerprogrammen. Es ist zweifelhaft, ob meine Idee einer Analyse standhalten wird. Und selbst wenn sie sich als theoretisch möglich erweisen sollte, könnte sie praktisch ungeeignet sein.«

»Ich verstehe nicht, Richard.«

Er sah sie an und lächelte breit. »Ich auch noch nicht. Aber wenn ich es richtig sehe, könnten wir finden, dass die Ryall in einer nicht annähernd so unverwundbaren Position sind, wie wir denken. Tatsächlich könnte die Antares-Supernova das Schlimmste sein, was ihnen je geschehen ist!«