35
Richard Drake saß an seinem Platz auf der Brücke der Discovery und betrachtete die Wiedergabe des Antares-Pulsars, wie sie sich im großen Bordteleskop ausnahm. Außer dem Vergrößerungseffekt war das Bild elektronisch verstärkt, um Oberflächenstrukturen des Sterns und die umgebende – und normalerweise unsichtbare – Korona zu zeigen. Ungefähr einmal in der Minute ging eine dunkel getönte Welle über Antares' Gesicht, beinahe zu schnell, um gesehen zu werden. Bei jedem Durchgang wurde der Stern von einer heftigen Explosion erschüttert, und weiß glühendes Plasma wurde hoch hinausgeschleudert. Bevor sie die typischen langen Flammenzungen von Protuberanzen ausbilden konnten, wurden sie zu breiten, glühenden Flüssen umgebogen, die in ständiger spiraliger Bewegung von der Sternoberfläche fortstrebten, stummes Zeugnis der widerstreitenden Energien von Gravitation und Fliehkraft und des rasch rotierenden Magnetfeldes.
Ein anderer Bildschirm zeigte dieselbe Ansicht in geringerer Vergrößerung. Hier war der Reststern der Supernova ein winziger Ball pulsierenden Feuers, umgeben von fluoreszierenden gasförmigen Rückständen der hinausgeschleuderten Sternatmosphäre.
»Captain, Phoenix meldet, dass sie uns in Sicht haben«, sagte der Nachrichtenoffizier der Discovery.
Die Meldung lenkte Drakes Aufmerksamkeit wieder auf die unmittelbaren Aufgaben. Ein Monat war vergangen, seit die Discovery in den Bereich des Ringnebels eingetreten war, und die Treibstoffvorräte des Kreuzers hatten den kritischen Punkt erreicht. Es war Zeit, die schwierige Arbeit des Auftankens unter den Bedingungen des Strahlungssturms im Innern des Ringnebels in Angriff zu nehmen, eine Operation, die für beide beteiligten Schiffe gefährlich war.
»In Ordnung. Sagen Sie ihnen, dass sie das Annäherungsmanöver fahren können, und sagen Sie dem Chefingenieur, dass er anfangen kann, die Rotation anzuhalten.«
»Ja, Sir.«
Eine halbe Minute später drang die Stimme des Chefingenieurs aus den Bordlautsprechern: »Achtung, an alle!
Wir beginnen mit den Vorbereitungen zum Auftanken. Die Rotationsverlangsamung beginnt jetzt, in fünf Minuten ist Schwerelosigkeit. Ich wiederhole, das Schiff wird in fünf Minuten in Schwerelosigkeit sein. Sichern Sie alle losen Gegenstände und ergreifen Sie alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen.«
Noch während der Durchsage ließ Drake den großen Bildschirm auf eine der Außenkameras schalten, die das Annäherungsmanöver des Cryogentankers im Aufnahmewinkel hatte. Der rosig leuchtende Ringnebel nahm jetzt den Bildhintergrund ein. Drake suchte annähernd eine Minute vergeblich nach dem winzigen Umriss des Cryogentankers, bevor er auf einen einzelnen weißen Funken aufmerksam wurde. Dieser wuchs und wurde rasch zu einer kleinen Perle, die wie von einem inneren weißen Licht erfüllt war. Vor den rötlichen Tönen des Nebels war die Erscheinung von einer fast übernatürlichen Schönheit. In Wirklichkeit gab es natürlich eine viel prosaischere Erklärung für das Phänomen.
Vor dem Sprung von Napier nach Antares hatte jeder Captain die Strahlungsabschirmung seines Schiffes aktivieren lassen. Darauf hatten die acht Schiffsrümpfe einen spiegelähnlichen Glanz angenommen. Aber Napier war nicht Antares, und die strahlungsabweisenden Felder waren nicht vollkommen. Ein paar Milliarden Kilometer von Napier war die Energiemenge, die das Feld durchdrang, bedeutungslos. In einer vergleichbaren Entfernung vom Neutronenstern würden schon einige Zehntelprozent durchdringender Außenstrahlung binnen kurzem tödlich sein. Die Wissenschaftler und Ingenieure, die das strahlungsabweisende Feld entwickelten, hatten dies gewusst und Vorkehrungen getroffen, eindringende Energie in sichtbares Licht umzuwandeln, das dann in den Raum zurückgestrahlt wurde. Das Ergebnis war, dass jedes der Schiffe in weißem Licht leuchtete.
Bald nahm das Bild des Tankers den ganzen Bildschirm ein. In einigen hundert Metern Entfernung stoppte Phoenix die Annäherung. Fast gleichzeitig verlangsamte die Rotationsrate des Kreuzers zum Stillstand. Es folgten mehrere Minuten sorgfältiger Datenabstimmung, bevor der Tanker seine Steuertriebwerke zündete und sich langsam zwischen die Discovery und den Antares-Pulsar schob. Zweck des Manövers war nicht die Abschirmung des Kreuzers, sondern der Treibstoffleitung, die zwischen den beiden Schiffen verlaufen sollte. Sogar bei ihrer gegenwärtigen Entfernung vom Zentralgestirn war die energiereiche Strahlung so stark, dass selbst eine gut isolierte Treibstoffleitung innerhalb von Minuten schmelzen würde, wenn sie die Strahlungsabschirmung der Phoenix verließe. Plötzlich erschien die ferngesteuerte Treibstoffleitung aus der einförmig perlweißen Oberfläche des Tankers und kam zielstrebig auf den Schlachtkreuzer zu. Rasch bewegte sie sich aus dem Aufnahmebereich der Außenkamera und verschwand unter dem Rand des Habitatringes. Dreißig Sekunden später hallte das Schiff von der Durchsage des Ersten Ingenieurs wider, dass die Treibstoffübernahme beginnen könne. Auf dem Bildschirm versteifte sich die Leitung, als der mit Deuterium angereicherte flüssige Wasserstoff in die Tanks der Discovery zu fließen begann.
An diesem Tag nahm Bethany Lindquist ein verspätetes Frühstück in der Offiziersmesse ein. Sie hatte lange geschlafen, nachdem sie am Vorabend bis zum Beginn der Frühwache am Computer gesessen und für die Astronomen Daten abgeglichen hatte. Als die Warnung vor der erwarteten Schwerelosigkeit kam, hatte sie gerade die Hälfte einer tropischen Frucht verzehrt. Seufzend legte sie den Löffel aus der Hand und griff nach den Haltegurten ihres Stuhls. In diesem Augenblick schob jemand ein zugedecktes Tablett in die Halteklammern des Tisches ihr gegenüber.
»Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich hier für eine Weile Anker werfe, Miss Lindquist?«
Sie blickte auf und sah in Phillip Walkirks lächelndes Gesicht. »Es wäre mir ein Vergnügen, Hoheit.«
Walkirk verzog das Gesicht. »Bitte, ich versuche mich hier als guter Republikaner zu tarnen. An Bord dieses Schiffes bin ich bloß Fähnrich Walkirk oder einfach Phillip, für meine Freunde.«
»In diesem Fall wird es mir eine Ehre sein, wenn Sie sich zu mir setzen ... Phillip.«
Der Kronprinz schnallte sich an und nahm vorsichtig den Deckel von seinem Tablett. Unangenehme Empfindungen im Innenohr verrieten Bethany, dass die Rotationsverlangsamung eingesetzt hatte.
»Sie haben gestern Abend lange gearbeitet?«, fragte Phillip. Bethany nickte und erzählte von ihrem nächtlichen Ringen mit dem Computer. Zwei Wochen waren vergangen, seit die Discovery mit den übrigen Schiffen der Expedition die Region erreicht hatte, wo Dagger eine deutliche Zusammenballung der Isogravitationslinien festgestellt hatte. Während dieser Zeit hatten sie die Region systematisch abgesucht und die Daten gesammelt, um die genaue Position des neuen Faltpunktes zu bestimmen. Die Datenmenge hatte sich für das halbe Dutzend Astronomen an Bord als zu groß erwiesen, und Bethany hatte sich freiwillig gemeldet, um bei der Analyse und Abgleichung der Daten zu helfen.
Sie aßen schweigend, während die Schwerkraft langsam verschwand. Schließlich erkundigte sich Bethany nach seiner Schwester Lara, die ihr auf Sandar Gesellschaft geleistet und Sehenswürdigkeiten gezeigt hatte.
»Ich denke, sie ist sehr beschäftigt«, antwortete Phillip.
»Hochzeitsvorbereitungen, wissen Sie.«
»Welche Hochzeit?«
»Lara wird bei der nächsten Gletscherschmelze verheiratet.«
»Wirklich? Seit wann ist sie denn verlobt?«
»Ach, seit ungefähr fünfzehn Jahren«, erwiderte Phillip.
»Sie scherzen!«
»Keineswegs. Lara wurde mit sechs Jahren versprochen. Hat sie es Ihnen nicht erzählt?«
»Ich glaube, das Thema kam nicht zur Sprache.«
»Das überrascht mich. Das offizielle Heiratsdatum wurde vor fünf Jahren von meinem Vater und den Eltern des Bräutigams im Rahmen einer Ratssitzung festgelegt.«
»Hatte Lara nicht darüber zu befinden?«
»Nein, natürlich nicht. Warum sollte sie?«
»Die zukünftigen Ehepartner sollten in solchen Angelegenheiten doch das letzte Wort haben.«
»Nicht, wenn die Braut eine sandarische Prinzessin ist, Bethany. Solche Eheschließungen sind eine Frage der Staatspolitik.«
»Wer ist der Glückliche?«
»Hauptfreier ist der Graf von Claremore.«
»Hauptfreier?«
Phillip überlegte, wie er die heimischen Heiratsbräuche am besten erklären konnte. Dann sagte er: »Es gibt viele Gründe, königliche Eheschließungen ein Jahrzehnt oder länger im Voraus zu planen. Solch ein Bund ist immer Gegenstand schwieriger politischer Verhandlungen, deshalb ist es zweckmäßig, sie frühzeitig abzuschließen. Auch besteht die Notwendigkeit, der Bevölkerung ein Gefühl von Stabilität zu geben. Sie muss sich an die Vorstellung gewöhnen und verstehen, dass die Kontinuität gewahrt bleibt. Vor allem aber ist es wichtig, dass die künftige Braut oder der künftige Bräutigam über eine längere Zeitspanne geprüft und gewertet wird, um Gewissheit zu erhalten, dass er oder sie für die hohe Stellung geeignet ist.«
Bethany nickte. »In den verschiedenen Kulturkreisen der Erde wurden aus den gleichen oder ähnlichen Gründen Kinderehen geschlossen.«
»Wir Sandarer haben jedoch ein ziemlich einzigartiges Problem«, fuhr Phillip fort. »Während der gesamten Dauer unserer Geschichte haben wir im Kriegszustand mit den Ryall gelebt, und es ist bei uns der Brauch, auch die Kinder unserer herrschenden Kreise zum Kriegsdienst zu erziehen und in der Flotte dienen zu lassen. Daraus ergibt sich eine nicht zu vernachlässigende Wahrscheinlichkeit, dass ein in Aussicht genommener Bräutigam oder die Braut im Kampf fallen. Das würde die Stabilität und Kontinuität, nach denen wir streben, zunichte machen. Um solche Störungen zu vermeiden, benennen wir einen Hauptfreier für eine königliche Prinzessin, und mindestens einen Reservefreier. Laras Reservefreier ist der Herzog von Rodeston. Sollte Claremore etwas zustoßen, wird Rodeston Lara heiraten.«
Bethany fragte sich, wie ihr zumute sein würde, wenn sie wie eine preisgekrönte Kuh an den Meistbietenden versteigert würde. Sie erschauerte bei dem Gedanken, dann kam ihr ein anderer in den Sinn. Sie hob den Blick zu Phillip, der gerade seinen Kaffee aus der Tasse mit Schraubverschluss saugte, und sagte: »Gerade ist mir eingefallen Phillip, dass auch Sie verlobt sein müssen!«
Er nickte. »Seit meinem dritten Lebensjahr. Möchten Sie ihr Bild sehen?«
»Sehr gern.«
Der Prinz zog eine kleine Holographie aus der Tasche und reichte sie ihr über den Tisch. Bethany betrachtete sie eingehend. Eine blonde junge Frau schnitt der Kamera ein Gesicht. Trotzdem war die Schönheit der Frau offensichtlich.
»Donna Elisabeth Cerendale, meine zukünftige Königin. Ich machte diese Aufnahme vor drei Jahren bei einem Picknick. Sie sagt immer wieder, ich solle das Bild vernichten, aber ich finde es wirklichkeitsnäher als alle offiziellen Porträts, die von ihr gemacht worden sind.«
»Sie ist reizend«, sagte Bethany. »Ich nehme an, dass auch sie eine Ersatzperson hat.«
»Zwei«, erwiderte Phillip mit einem Lächeln. »Allerdings bezweifle ich, dass ich sie brauchen werde.«
»Wann ist der große Tag?«
»Irgendwann nach unserer Rückkehr von dieser Expedition. Würden Sie gern zu der Hochzeit kommen?«
Bethany lächelte. »Es würde mir eine Ehre sein, Phillip.«
»In diesem Fall betrachten Sie sich als eingeladen.«
»Vielleicht werden Sie mir dann ihrerseits die Ehre erweisen«, sagte Bethany. Und sie erzählte ihm von ihren und Richard Drakes Plänen, auf der Erde zu heiraten.
»Das ist wunderbar«, meinte Phillip. »Wie kommt es, dass ich noch nicht davon gehört hatte?«
»Wir wollten nicht, dass es allgemein bekannt wird«, sagte sie. »Es ist uns unangenehm, wenn die Leute unseretwegen ein Aufhebens machen.«
»Nun, von mir werden sie nichts darüber hören«, meinte er. Er hob die Hand und machte ein Zeichen mit den Fingern, das Bethany nicht erkannte. »Wie ich höre, haben Sie sich seit Ihrem Aufenthalt auf Sandar sehr eingehend mit unseren Feinden beschäftigt.«
Bethany nickte. »Alta benötigte Xenologen mit genaueren Kenntnissen über die Ryall, und mir schien es eine naheliegende Ergänzung zu meinem Fachgebiet als vergleichende Historikerin zu sein.«
»Haben Sie Buckmans Sozialverhalten der Ryall und Adamsons Sitten und Bräuche bei den Ryall gelesen?«
Bethany nickte. »Allerdings bin ich nicht sicher, dass ich Buckmans Überlegungen folgen kann. Meine eigenen Studien haben mich vielmehr in der Auffassung bestärkt, dass wir die Ryall möglicherweise nicht so gut verstehen, wie wir es uns einbilden.«
»Mit diesem Gefühl stehen Sie nicht allein da«, erwiderte Phillip. »Ich kenne Männer, die Jahrzehnte mit dem Studium der Zentauroiden verbracht haben und sich die gleiche Frage stellen.«
»Besonders merkwürdig mutet die Mythologie der Ryall im Zusammenhang mit Novae an. In jeder anderen Hinsicht scheinen sie völlig rational zu denken, aber sobald es um Sternexplosionen geht, sind sie so abergläubisch wie die Zigeuner der alten Tage.«
»Wenn man ihre Geschichte betrachtet«, erwiderte Phillip, »kann man es ihnen nachempfinden.«
In dem kriegerischen Jahrhundert, seit die Flüchtlinge von New Providence Sandar besiedelt hatten, war es zu Dutzenden Feldzügen und Hunderten von Schlachten und Zusammenstößen mit den Ryall gekommen. Wurde ein Schiff im Verlauf eines solchen Kampfes getroffen, musste es in den meisten Fällen als Totalverlust abgeschrieben werden. Gelegentlich kam es jedoch vor, dass Schiffe der Zerstörung entgingen, aber so stark beschädigt wurden, dass sie aus eigener Kraft nicht zu ihrem Stützpunkt zurückkehren konnten. In solchen Fällen nahmen beide Seiten erhebliche Mühen auf sich, um die überlebende Mannschaft zu retten. Denn in einem Krieg zwischen fremden Spezies waren Gefangene ihr Gewicht in Gold wert.
Im Laufe der Jahre war es den Sandarern gelungen, auf diese Art und Weise ein paar hundert Gefangene zu machen. Sie hatten auch die Leichen Gefallener aus den Wracks zerstörter Schiffe geborgen. Die Autopsien der Toten hatten ihnen zu eingehender Kenntnis der Ryallphysiologie verholfen. Durch Verhöre und die Beobachtung der Gefangenen hatten sie versucht, auch in die Psyche der Ryall einzudringen, doch mit sehr viel weniger Erfolg.
Eine der ersten Entdeckungen der Sandarer war der Umstand, dass die Ryall wie die Menschen eine rassisch und kulturell vielgestaltige Art waren. Weltanschauung und Lebenseinstellung jedes einzelnen Ryall waren weitgehend abhängig von Herkunft und Umfeld. So konnte es geschehen, dass Gefangene der Rasse von Avadon, wie die Menschen eine der bedeutenden Welten der Ryall-Hegemonie nannten, das Fleisch bestimmter Tierarten aus Gründen der Religion und des Brauchtums verschmähten, während die in Belaston ansässigen Stammesgruppen anderer Rassen gerade diese Tiere als Fleischlieferanten bevorzugten. Gefangene aus Caarel bauten Schilfhütten, wenn ihnen nichts Besseres gegeben wurde, während jene aus Darthan unterirdische Höhlen und Gänge gruben. Aber allen Ryall war ungeachtet ihrer Herkunft die Legende von den Schnellen Essern gemeinsam.
Vor ungefähr dreißigtausend Jahren hatten Menschen und Ryall sich ungefähr im kulturellen Gleichstand befunden. In einer Zeit, als die Menschen in kleinen Sippenverbänden lebten und als Jäger und Sammler ihren Lebensunterhalt fanden, hatten auch die Ryall in kleinen Familienverbänden gelebt. Ihre Siedlungen hatten sie an den Ufern seichter Seen und Flüsse angelegt. Sie waren einfache Fischer, die einen guten Teil ihrer Zeit mit dem Fang aquatischer Lebensformen in und auf dem Wasser verbrachten. Die Flüsse und Seen ihrer Heimatwelt boten so reiche Ausbeute, dass kein Fischer Hunger leiden musste. Und wenn es bisweilen auch wegen der Ausbeutung besonders reicher Fischgründe zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Dörfern kam, waren die Ryall insgesamt doch von friedlicher und glücklicher Wesensart.
Diese ruhige Lebensweise hatte ungefähr zur gleichen Zeit ein abruptes Ende gefunden, als die Menschen anfingen, Werkzeuge und Waffen aus Stein und Elfenbein herzustellen, noch lange bevor auf Erden die Ära des Ackerbaus und der Sesshaftwerdung begann. Ursache der Veränderung war ein einzelner Stern gewesen, der plötzlich hell am Himmel der Heimatwelt brannte. Die primitiven Ryall hatten nicht gewusst, was sie von dem neuen Stern halten sollten, der hell genug war, um sogar bei Tageslicht gesehen zu werden. Wie die meisten primitiven Völker, betrachteten sie jede Veränderung am Himmel als ein schlechtes Omen und wandten sich an ihre Zauberärzte und Schamanen um Rat. Diese Würdenträger rieten ihnen, sich nicht unnötig im Freien aufzuhalten und nach Möglichkeit in ihren unterirdischen Höhlen zu bleiben, bis der Stern verschwinden würde. Und tatsächlich verschwand er nach ein paar Jahren, verblasste wieder zu der kaum sichtbaren Bedeutungslosigkeit, aus der er gekommen war. Wahrscheinlich wäre er bald ganz in Vergessenheit geraten, hätte das tägliche Leben der Ryall nicht gerade in der Zeit, als der neue Stern verschwand, eine unerwartete und tief greifende Veränderung erfahren. Wie die Antares-Supernova dreißigtausend Jahre später, hatte die nahe Nova die Heimatwelt der Ryall mit harter Strahlung überschüttet. Die Intensität war nicht hoch genug, um die Ryall-Welten zu sterilisieren, aber sie war schlimm genug. Der Regen von primärer und sekundärer Strahlung hatte die genetischen Lebensreserven völlig durcheinander gebracht und die Mutationsrate steil ansteigen lassen. Mit jeder neuen Generation waren groteske neue Formen und Wesenszüge zum Vorschein gekommen. Die meisten waren schädlich gewesen und hatten zum Tode ihrer Träger noch im Ei geführt. Andere waren von begrenzter Brauchbarkeit und wurden entweder durch natürliche Selektion oder die Stammesältesten rasch ausgesondert und beseitigt. Einige Mutationen aber erwiesen sich als vorteilhaft und wurden in die rasche stammesgeschichtliche Entwicklung der Art integriert.
Die Ryall waren nicht die einzige Art, deren Entwicklung beschleunigt wurde. Etwa fünftausend Jahre nach dem ersten Aufleuchten der Nova am Himmel trat auf der Heimatwelt der Ryall eine weitere intelligente Art in Erscheinung. Die gefangenen Ryall hatten verschiedene Namen für diese Wesen, aber in den meisten Fällen ließen sie sich als »Schnelle Esser« übersetzen.
Die Schnellen Esser waren Amphibien und stammten von einem nicht intelligenten räuberischen Meeresbewohner der Ryall-Welt ab. Sie waren schnell, wie der Name sagte, schlau und gefräßig. Sie griffen die Brutgebiete der Ryall an und mästeten sich mit Ryalleiern. Infolgedessen ging die Ryallpopulation rapide zurück. Es kam eine Zeit, als die Schnellen Esser sogar den Fortbestand der älteren Art bedrohten.
Nach generationenlangen Versuchen hatten die Ryall endlich eine erfolgreiche Abwehr gegen die verheerenden Angriffe der Schnellen Esser entwickelt. Sie zogen sich ganz vom Wasser zurück und wurden zu Landbewohnern, deren Sippen weit genug von der Küste entfernt lebten, um vor Angriffen sicher zu sein. Ihre Eier legten sie in künstlichen, von Bächen und Flüssen genährten Teichen ab und lernten andere Landtiere zu jagen und zu zähmen. Sie entwickelten eine Landwirtschaft, um Futter für ihre Herden anzubauen, lernten den Gebrauch von Feuer und die Herstellung von Metallen. Schließlich entwickelten sie Städte und eine echte Zivilisation. Während ihrer Bronzezeit entwickelten sie auch wirksame Methoden zur Jagd auf die Schnellen Esser. Es begann ein Ausrottungskampf, der sich über fünfzehntausend Jahre hinzog. Generation folgte auf Generation, und der Hass auf die Schnellen Esser wurde zu einem ausgeprägten Wesenszug der Ryall, einem Instinkt.
Als der Kampf endlich entschieden und die Jagd beendet war, hatten die Ryall eine wichtige Lektion gelernt. Die Geschichte hatte sie gelehrt, dass es auf das Auftreten einer anderen, potenziell rivalisierenden Art nur eine mögliche Antwort gab: die Ausrottung. Und als knapp jenseits der Hegemonie der Ryall eine neue Nova aufflammte, entdeckten die Ryall eine noch tödlichere Bedrohung ihrer Art. Sie ging von warmblütigen Zweifüßlern aus, die in mehreren, durch ihre Farbe unterscheidbaren Rassen vorkamen. Sie waren Raumfahrer, deren Schiffe eine gewisse Vorliebe für die technischen Künste zeigten. Soweit es die Ryall betraf, würde kein Junges sicher sein, solange auch nur ein einziges Mitglied dieser seltsamen neuen Art irgendwo in der Galaxis am Leben blieb!
Bethany saugte Kaffee aus ihrer der Schwerelosigkeit angepassten Deckeltasse und dachte über Phillip Walkirks Darstellung der Stammesgeschichte der Ryall nach. Oder vielmehr, was Menschen sich unter der Geschichte der Ryall vorstellten.
»Ich habe mich oft gefragt, ob die Geschichte von den Schnellen Essern mündlich überlieferte Wahrheit oder bloß eine Legende ist«, sagte Bethany. »Glauben Sie, dass es die Schnellen Esser wirklich gegeben hat?«
Phillip zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, ob wir für diese oder jene Auslegung handfeste Beweise haben. Es hat aber tatsächlich nichts zu sagen. Solange die Ryall an die Schnellen Esser glauben und nach diesem Glauben handeln, ist die Frage müßig.«
»Sind Sie sicher, dass sie wirklich daran glauben?«
»Ohne Zweifel! Das ist der Hauptgrund für den fremdenfeindlichen Zug in der Psyche der Ryall. Solange sie uns vernichten wollen, sind ihre Beweggründe nebensächlich.«
»Wenn sie uns aber vernichten wollen, können wir überhaupt mit Aussicht auf Erfolg Friedensverhandlungen führen?«
Phillip Walkirk blickte überrascht auf. Er überlegte eine Weile, als fiele es ihm schwer, die Bedeutung der Worte zu erkennen. Endlich sagte er: »Es kann niemals Frieden zwischen uns geben, bis wir sie zu ihren Heimatwelten zurücktreiben. Und was Verhandlungen angeht, wie verhandelt man mit einem tollwütigen Hund?«
»Ich bin nicht sicher, ob ich bereit bin, tollwütige Hunde in ihnen zu sehen, Phillip.«
»Das steht Ihnen frei. Wir Sandarer haben ein Jahrhundert Zeit gehabt, unsere Gegner zu studieren. So können wir kaum erwarten, dass Sie in nur zwei Jahren unsere Betrachtungsweise übernehmen.«
Bethany spürte die Spannung hinter Phillips Worten und beschloß, das Thema zu wechseln. Sie gingen dazu über, einander Geschichten über ihre jeweilige Heimat zu erzählen und ihre Steckenpferde zu vergleichen, als ein Deckenlautsprecher die Nachricht ausgab, dass die Treibstoffübernahme beendet und die rotationsbedingte Schwerkraft in fünf Minuten wiederhergestellt sein würde. Kurz nach der Durchsage kam Commander Marchant, der Erste Offizier, in die Offiziersmesse. »Ah, da sind Sie ja!«, rief er aus.
Phillip Walkirk blickte auf. »Haben Sie uns gesucht, Sir?«
Marchant nickte. »Der Captain hat eine Besprechung aller Offiziere anberaumt. Sie sollen auch kommen, Miss Lindquist.«
»Was gibt es denn?«, fragte Bethany.
»Professor St. Cyr hat soeben gemeldet, dass sie den Faltpunkt geortet haben!«, erwiderte Marchant. »Der Kapitän hat Befehl gegeben, das Schiff für den Faltraumübergang bereit zu machen. Wie es aussieht, werden wir bald den Sprung machen.«