20

Das sandarische Militärhauptquartier war eine stumpfe Pyramide auf einer öden Felsinsel inmitten einer Eiswüste. Zuerst war das mit Tarnanstrich versehene Gebäude kaum von seiner Umgebung zu unterscheiden, ein schwarzbrauner Fleck kahler Felserhebungen in einem arktisch weißen Panorama. Dann, als die Maschine mit Commodore Bardak, Richard Drake und Argos Cristobal näher kam, wurde das Gebäude selbst sichtbar und enthüllte nach und nach seine wahren Abmessungen.

»Ein gewaltiger Bau«, sagte Drake zu Bardak.

»Groß genug«, erwiderte der sandarische Adlige. »Das Gebäude hat eine Seitenlänge von einem Kilometer und erhebt sich fünfhundert Meter über den Felsuntergrund. Die Flanken sind bis zu einer Tiefe von zwei Metern gepanzert und durch strahlungssichere Felder abgeschirmt.«

»Wäre es nicht praktischer, das Hauptquartier näher bei der Hauptstadt einzurichten?«, fragte Drake. Die Maschine war von der Hauptstadt zum Militärischen Hauptquartier drei Stunden geflogen, davon die meiste Zeit über scheinbar endlose Eisflächen.

»Praktischer schon, aber nicht sicherer. Das Militärische Hauptquartier fungiert außerdem als ein Planetarisches Verteidigungszentrum. Sicherlich werden Sie aus der Umlaufbahn viele von unseren PVZs gesehen haben.«

Drake nickte.

»Ein strategisches PVZ benötigt eine Menge Energie und erzeugt beträchtliche Mengen Abwärme. In einem längeren Gefecht kann die Abwärme eines einzigen fest installierten Lasers die Temperatur sogar eines mittleren Flusses um mehrere Grade ansteigen lassen. Würden wir unsere PVZs in der gemäßigten Zone errichten, so würden wir bei jeder Erprobung der Laserwaffen ein massives Fischsterben auslösen. Dagegen besitzt die polare Eiskappe eine Wärmeleitfähigkeit, die praktisch unbegrenzt ist. Sie können es nicht sehen, aber die Eisfelder im Umkreis des Militärischen Hauptquartiers sind durchzogen von Abwärmeleitungen. Theoretisch könnten wir jede fest installierte Laserkanone der Batterie tagelang ständig feuern lassen, bevor wir uns wegen Überhitzung sorgen müssten.

Hinzu kommen natürlich die strategischen Erwägungen. Indem wir unsere Installationen gleichmäßig über die Oberfläche verteilen, vermeiden wir Blößen und ziehen unser militärisches Potenzial auseinander. Schließlich, sollten die Ryall jemals so weit kommen, was in Anbetracht der Kampfkraft unserer Faltpunkt-Gefechtsstationen höchst unwahrscheinlich ist, hoffen wir, ihr Feuer auf die PVZs und von den Städten abzulenken.«

Während Bardak seine Erläuterung gab, umkreiste die Maschine das Militärische Hauptquartier, um den Altanern eine Gelegenheit zu bieten, den künstlichen Berg aus nächster Nähe zu sehen. Die Flanken der Pyramide waren bestückt mit stufenweise koordinierten Radaranlagen und verschiedenen anderen, weniger leicht identifizierbaren Sensoren. Von der Basis der stumpfen Pyramide reckten mehrere Dutzend fest installierte Laserkanonen ihre Mündungen himmelwärts. Die Maschine ging in einen flachen Landeanflug nieder und kam auf dem Dach des Militärischen Hauptquartiers zum Stillstand. Ein beißend kalter Wind fiel die Aussteigenden an, und sie beeilten sich, in den Schutz eines nahen Treppenhauses zu gelangen. Bardak führte sie ein Geschoss abwärts zu einem Raum voller Spinde. Dort wies er sie an, ihre schweren Mäntel, Handschuhe und Mützen abzulegen.

Als Nächstes führte er sie zu einer Transportstation, wo mehrere kleine Wagen wie Gondeln an einer unter der Decke angebrachten Schiene hingen. Sie bestiegen die erste Gondel in der Reihe, Bardak programmierte einen Bestimmungscode am Armaturenbrett des Fahrzeugs, das gleich darauf die Fahrt aufnahm und in einen langen Tunnel beschleunigte.

Eine Minute später erreichten sie eine weitere Station, die äußerlich mit der identisch war, die sie gerade verlassen hatten. Bardak führte sie weiter durch die Station und in einen Korridor. Nach mehreren Abzweigungen gelangten sie an eine Stahltür, die von zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Marinesoldaten bewacht wurde. Ein dritter saß an einem Schreibtisch und prüfte Commodore Bardaks Identifikation, bevor er einen verborgenen Knopf drückte. Die schwere Stahltür öffnete sich schwerfällig, und Bardak bedeutete Drake und Cristobal, vor ihm in den nächsten Raum zu gehen. Drake tat wie geheißen und sah sich zu seiner Überraschung auf einem Laufsteg zehn Meter über einer fremdartig anmutenden Ebene. Über ihm brannte eine rötliche Sonne aus einem dunstigen rosa Himmel; unter ihm erstreckte sich gelbe Vegetation bis zum Horizont, während in seiner Nähe ein Gehölz unbekannter Bäume stand, die einen stechenden Geruch ausströmten. Ein kleiner Bach floss am Rand der Baumgruppe dahin und verschwand in dichter, ins Violette spielender Vegetation.

Die seltsame Himmelsleuchte und die womöglich noch seltsameren Pflanzen waren nicht die einzigen Hinweise auf eine unbekannte Welt. Auf halbem Weg zum Horizont durchzog eine Tierherde die Ebene. Sie war zu weit entfernt, um eine Bestimmung der Art zu ermöglichen, aber auch sie hatte etwas eindeutig Fremdartiges.

Drake wandte sich stirnrunzelnd an Bardak. »Was ist das hier?«

»Dies ist der Käfig, wo wir unsere Gefangenen halten«, erwiderte der Commodore. »Die Wände sind natürlich durch die holographische Projektion verborgen. Wir gewannen die Szene aus einem als Wrack erbeuteten Kriegsschiff der Ryall. Die Gefangenen versichern uns, dass die Umgebung sie an ihre Heimat erinnere.«

»Wo sind sie?«, fragte Argos Cristobal. »Die Ryall, meine ich.«

»Gleich unter Ihnen, Lieutenant«, antwortete Bardak. Er zeigte zu der kleinen Baumgruppe hinunter. In ihrem Schatten saßen oder lagen vier Gestalten in einem Kreis.

Die Ryall ruhten mit den zwei Meter langen Rümpfen auf ihren eingezogenen sechs Beinen und hatten die Schwänze um sich gelegt. Der vertikale Teil des Rumpfes erhob sich fünfzig Zentimeter über die Rundung des Rückens. Zwei lange Arme entsprossen den Schultern in der Mitte des vertikalen Rumpfteils und endeten in Händen mit sechs biegsamen Fingern. Ein langer, geschmeidiger Hals hob den Kopf noch einmal sechzig Zentimeter höher.

Der Kopf war reptilienartig, mit einer langen, zähnestarrenden Schnauze; zwei kohlschwarze Augen spähten unter dicken, schützenden Knochenwülsten hervor. Die Ohren waren Hautlappen, die sich auf dem Schädel zwischen vier langen Stacheln spannten.

»Gott, ich hatte sie glatt übersehen!«, flüsterte Cristobal.

»Sie brauchen Ihre Stimmen nicht zu dämpfen«, erklärte Bardak in normalem Gesprächston. »Dieser ganze Bereich ist in ein schallschluckendes Feld eingebettet und von einem Einweghologramm abgedeckt. Sie können uns weder sehen noch hören.

Sie unterhalten sich. Möchten Sie zuhören?«

»Ja, gern!«

Bardak trat zu einem kleinen Kontrollpult, das am Geländer des Laufganges angebracht war, drückte eine Taste, und sie waren plötzlich umgeben von den verstärkten Stimmen der Ryall. Es wurde sofort erkennbar, dass die Variationsbreite der hervorgebrachten Töne erheblich größer war als die jeder menschlichen Sprache.

»Sprechen sie Standard?«

»Diejenigen, welche schon ein paar Jahre hier sind. Ihr Stimmapparat ist viel anpassungsfähiger als unserer. Glauben Sie mir, die Ryall sind sehr redegewandt, wenn sie es sein wollen.«

»Wäre es möglich, dass ich mit einem von ihnen spreche?«, fragte Drake.

Bardak lächelte. »Das ist gewöhnlich die erste Frage, die von Besuchern gestellt wird. Alles ist für ein Interview vorbereitet. Folgen Sie mir ins Sprechzimmer.«

Das Sprechzimmer war ein kahler Raum mit einem Tisch, einem einzigen Stuhl und verschiedenen Bewachungsmechanismen, die hinter Panzerglasplatten in die Decke eingelassen waren. Richard Drake setzte sich auf den Stuhl und wartete, bis die schwere Stahltür am anderen Ende des Raums geöffnet wurde. Er brauchte nicht lange zu warten. Die Tür wurde in die Wand zurückgezogen, und einer der Ryall kam herein, bewacht von zwei Marinesoldaten.

Als er näher kam und auf der anderen Seite des Tisches stehen blieb, gemahnte der Ryall Drake an Bilder, die er von frühen Experimenten mit geländegängigen Gehmaschinen gesehen hatte. Die Gangart war eine Abfolge von Bewegungen, denen das ungeübte Auge schwer folgen konnte. Drake spielte mit dem Gedanken, den Ryall zu bitten, dass er im Raum umhergehe, ließ es aber sein. Lange Sekunden betrachteten die beiden einander schweigend. Wenn der Ryall in der Lage war, ein Mienenspiel zu zeigen, so ersparte er sich die Mühe – oder Drake achtete nicht auf die richtigen Signale.

Nach fast einer Minute Stillschweigen öffnete sich die lange Schnauze, und zwischen zwei Reihen konischer Zähne drang in überraschend klarer Diktion menschliche Sprache hervor.

»Man sagt mir, dass Sie mit mir zu sprechen wünschen, mein Herr oder meine Dame.« Die Sprechweise des Ryall betonte alle Zischlaute, war aber sonst akzentfrei.

»Wie lange sind Sie schon hier gefangen?«, fragte Drake.

»Fünf Standardjahre«, antwortete der Ryall.

»Und Sie können noch immer nicht den Unterschied zwischen den zwei menschlichen Geschlechtern erkennen?«

»Das Geschlecht eines bestimmten Menschen ist für einen von meiner Art nicht von Belang. Ich würde vermuten, dass Sie männlichen Geschlechts sind, weil das für die allermeisten meiner Besucher gilt.«

»Sie haben Recht. Und was sind Sie, wenn die Frage nicht zu indiskret ist?«

»Keines von beiden«, antwortete der Ryall. »Ich bin ungeschlechtlich, das, was Sie eine Drohne nennen, glaube ich.«

»Haben Sie einen Namen?«

Es kam ein kurzes Geräusch, das mit einem scharfen Einatmen begann und mit einem Geräusch wie einem plötzlich abgebrochenen Niesen endete. »Eine ungefähre Übersetzung würde lauten: ›Treuer Diener des Eies, das uns alle gebar‹. Sie können mich aber ›John‹ nennen. Das ist der Name, den meine Bewacher mir gegeben haben.«

»Gut, John, mein Name ist Richard Drake. Haben die Sandarer Ihnen gesagt, wer ich bin?«

Der Ryall machte ein undeutbare Geste mit den Händen, und eine dreifach gegabelte Zungenspitze zuckte hervor.

»Einem Zootier werden keine Erklärungen gegeben, Richard Drake. Es fragt auch nicht danach.«

»Zootier? Halten Sie diesen Ort für einen Zoo?«

Diesmal war die Geste umfassender. Die Arme wurden ganz ausgestreckt, und die sechs langen Finger spreizten sich weit.

»Ist das nicht Ihre Bezeichnung für einen Ort, wo die Menschen zu ihrer Unterhaltung die Possen anderer Arten beobachten?«

»Das ist richtig. Aber eine zutreffendere Bezeichnung für diesen Ort wäre ›Gefängnis‹. Sie sind ein Kriegsgefangener.«

»Das ist eine weitere Unterscheidung, mit der wir nichts anfangen können, Richard Drake. Offenbar sehen wir die Wirklichkeit nicht genauso, wie Sie es tun.«

»Ich fürchte, ich verstehe nicht, John. Wollen Sie damit sagen, dass Sie nicht wissen, was ein Gefängnis ist oder was es bedeutet, ein Gefangener zu sein?«

Der Ryall klappte mit einem flatternden Geräusch die Ohren auf. »Ich lache, Richard Drake. Nach fünf Standardjahren sind die Begriffe Gefangenschaft und Gefängnis etwas, das ich sehr wohl verstehe. Meine Gefährten und ich sprechen kaum von etwas anderem.«

»Worin besteht dann ...«

»Sie nannten mich einen Kriegsgefangenen. Ich finde es schwierig, unseren Begriff von Krieg mit der unklaren Interpretation zu vereinbaren, die Sie mit dem Wort in Verbindung zu bringen scheinen.«

»Welches ist dann der Begriff, den die Ryall dafür verwenden?«

»Krieg ist ein Kampf der Ehre zwischen zwei Gegnern, wie wenn ein Mann seine Drohnen aussendet, um sich einen Nistplatz oder eine bestimmte Frau von einem anderen zu sichern. Krieg ist der Zusammenstoß von Sippen, um zu sehen, welche den Ehrenplatz für ihre Eier gewinnen wird. Krieg ist das Ringen um Herrschaft zwischen ganzen Zivilisationen, wodurch eine ihr Recht begründet, die andere zu führen.«

»Ist das nicht, was jetzt zwischen Ihrer und meiner Art geschieht?«, fragte Drake.

»Keineswegs«, antwortete der Ryall.

»Wie nennen Sie es dann?«

»Um es in Ihrer Sprache so auszudrücken, dass es der Sache am ehesten entspricht, müsste es mit einem Wettstreit zwischen rivalisierenden Schädlingsbekämpfern verglichen werden, von denen jeder versucht, den Kosmos von des anderen Gegenwart zu befreien.«

Bethany Lindquist saß in der Passagierkabine einer königlichen Privatmaschine und sah die grüne Landschaft rasch unter sich vorübergleiten. An ihrer Seite saß Prinzessin Lara, die zweite Tochter des Königs und der Königin von Sandar. Lara war eine dunkelhaarige Schönheit von ungefähr zwanzig Jahren. Sie war Bethanys inoffizielle Fremdenführerin, seit sie einander beim Tee der Königin eine Woche zuvor kennen gelernt hatten. Seitdem hatten sie die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt besichtigt, Wasserfälle besucht und die Eishöhlen von Arda erforscht. Lara hatte Bethany über die Geschichte von Sandar unterrichtet, und Bethany hatte sich mit Geschichten von Alta und der Erde revanchiert.

»Regnet es hier nie, Lara?«, fragte Bethany, als wieder ein wolkenloser Tag angebrochen war.

»Nicht in dieser Dekade«, antwortete die Prinzessin. »Und das ist gut so. Zur Zeit der Gletscherschmelze im Perihel ertrinken wir auch so schon beinahe. Wenn es in der Zeit zusätzlich regnen würde – nicht auszudenken, was für Probleme wir haben würden.«

»Es kommt mir seltsam vor, dass ohne Regen überall so viel Grün ist.«

»Uns nicht«, sagte Lara lachend. »Das ganze Land ist von großen und kleinen Wasserläufen und Bewässerungskanälen durchzogen.« Sie beugte sich zum Fenster und spähte hinab.

»Ich glaube, wir sind am Ziel.«

Die Maschine legte sich auf die Seite und zog niedergehend einen Kreis um ein großes weißes Gebäude, das allein in einem grünen Park lag. Nach einer weiteren Schleife verlangsamte die Maschine bis zum Schwebeflug und ging auf einen von hohen Bäumen umstandenen Landeplatz nieder. Sobald die Räder aufgesetzt hatten, nahm Bethany die Aktentasche mit den Sendungen ihres Onkels an sich und wartete, dass Lara die Kabinentür öffnete.

Am Rand des Landeplatzes erwartete sie ein weißhaariger, dunkelhäutiger Mann. Da ihr Besuch angekündigt war, trug er eine Diplomatenuniform mit Schärpe.

»Ich begrüße Eure königliche Hoheit«, sagte er, dann ergänzte er, an Bethany gewandt: »Hallo, Miss Lindquist.« Er verbeugte sich und küsste ihnen die Hände. »Mein Name ist Ambrose Cartier. Ich bin der Botschafter der Erde auf Sandar. Sie müssen die Dame von der verlorenen Kolonie im Valeria-System sein.«

Bethany bejahte dies, und Cartier bat sie, mit ihm ins Haus zu kommen. »Ich fürchte, selbst ein milder Tag wie der heutige ist für bahamisches Blut zu kalt, um im Freien zu sitzen.«

»Sie kommen von den Bahamas? Das ist in der Nähe von Nordamerika, nicht wahr?«, erkundigte sich Bethany.

Cartier nickte. »Vor der Küste Floridas im Atlantischen Ozean. Das Klima ist die meiste Zeit des Jahres tropisch, obwohl manche von unseren Winterstürmen wirklich etwas frisch sein können. Aber lange nicht so kalt wie hier. Nicht wahr, Prinzessin?«

»Wenn Sie es sagen, Exzellenz.«

»Und ob ich das sage!« Cartier führte sie in das große Haus. Es war ursprünglich eine Residenz gewesen, aber ein Flügel enthielt jetzt die Amtsräume, wo Botschaftsangestellte an Datenanschlüssen arbeiteten.

»Ist dies die Botschaft?«, fragte Bethany.

»Offiziell ist es die Residenz des Botschafters«, sagte Cartier.

»Ich finde es aber angenehmer, meine Amtsgeschäfte von hier aus zu führen als in diesem großen Büroklotz in Gosslaw.«

»Gosslaw?«

»Die nächste Großstadt«, erläuterte Lara, »und eine der ersten Bergbausiedlungen.«

Cartier führte die beiden Frauen in ein Arbeitszimmer, dessen Wände mit Regalen voller gedruckter und gebundener Bücher bedeckt waren. Er ließ Tee und einen Imbiss servieren, und als sie vor ihren dampfenden Tassen saßen, sagte er:

»Meine Spione berichten mir, dass Sie sich als eine komparative Historikerin bezeichnen, Miss Lindquist.«

»Ja, Exzellenz.«

»Ich habe zu meiner Zeit von allen Arten von Historikern gehört, aber das ist mir etwas Neues. Bitte, erklären Sie mir, was ein komparativer Historiker ist?«

Bethany erklärte ihren Beruf und seinen Platz in der Gesellschaft von Alta. Cartier hörte ihr zu, ohne sie zu unterbrechen, und als sie geendet hatte, nickte er. »Also sind Sie eine Spezialistin für die Geschichte der Erde! Ich muss gestehen, dass es auch eine meiner Leidenschaften ist. Wenn wir den geschäftlichen Teil beendet haben, können wir vielleicht ein wenig fachsimpeln. Ich werde Sie über die Ereignisse des vergangenen Jahrhunderts unterrichten.«

»Das würde mir gefallen, Exzellenz. Ich hoffe, eines Tages in der Lage zu sein, die Erde zu besuchen.«

»Das müssen Sie tun! Neapel sehen und sterben, wie die alte Redensart geht. Zurückkehren zu unseren Wurzeln. Nun, junge Dame, wie kann ich Ihnen helfen?«

Bethany erzählte die Geschichte von Granville Whitlow und seinem lebenslangen Bemühen, eine irdische Vertretung auf Alta zu erhalten. »Seitdem ist das Amt des Botschafters der Erde als Erbe in meiner Familie weitergegeben worden. Mein Onkel ist der gegenwärtige Inhaber des Titels. Als er hörte, dass Regierung und Parlament eine Expedition aussenden, um mit dem Rest der Menschheit wieder in Verbindung zu treten, sorgte er dafür, dass ich daran teilnehmen konnte. Ich habe Depeschen von einhundertfünfundzwanzig Jahren bei mir, um sie zur Erde weiterzuleiten.«

Cartier klatschte in die Hände und lachte laut auf. »Wie herrlich, meine Liebe! Der diplomatische Dienst muss von der Geschichte Ihrer Familie erfahren. So viel Pflichtbewusstsein sollte geehrt werden, gerade zu diesem späten Zeitpunkt.«

»Danke, Sir«, sagte Bethany. »Ich habe die Depeschen bei mir und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sie an sich nehmen und durch Ihren Kurierdienst zur Erde senden würden.« Sie öffnete ihre Aktentasche und nahm ein versiegeltes Paket heraus, das sie Cartier übergab. »Würden Sie die Güte haben, die Umstände, wie ich sie Ihnen darlegte, in Ihrem nächsten Bericht zur Erde zu erläutern?«

Cartier nahm das Paket, wendete es in den Händen und betrachtete es lange Sekunden, dann gab er es Bethany zurück.

»Behalten Sie es einstweilen, meine Liebe.«

»Sie wollen es nicht?«, fragte Bethany. Ihre Verwirrung spiegelte sich in ihren Zügen.

»Oh, ich will es, sicherlich! Aber wie die Dinge liegen, besteht kein Grund zur Eile. Die Ryall haben die Routen zwischen hier und der Erde unsicher gemacht, und der Verkehr ist in letzter Zeit ein wenig unregelmäßig gewesen. Ich werde Sie rechtzeitig benachrichtigen, wenn der nächste diplomatische Kurier abgeht.«

Bethany runzelte die Stirn. »Vielleicht wird in nächster Zeit eine Einheit der Großen Flotte zur Erde zurückkehren. Sie könnte meine Depeschen mitnehmen.«

Cartier und Lara tauschten einen Blick, dann wandten beide ihre Aufmerksamkeit Bethany zu. Cartier räusperte sich und sagte: »Ich fürchte, dass sich gegenwärtig keine Einheiten der Großen Flotte im System aufhalten, Miss Lindquist. Taktische Überlegungen erfordern ihre Anwesenheit anderswo. Nein, wir werden ein Handelsschiff abwarten müssen, um Ihre wichtigen Dokumente zu ihrem Bestimmungsort zu bringen.«

»Verzeihen Sie mir meine Hartnäckigkeit, Exzellenz, aber die Erde bekämpft doch die Ryall, nicht wahr?«

»Mein liebes Kind, die gesamte menschliche Rasse bekämpft die Ryall. Sie haben uns in der Angelegenheit keine andere Wahl gelassen.« Der Botschafter stellte seine Teetasse ab und beugte sich vor. »Als Historikerin werden Sie die Geschichte äußerst interessant finden. Wie es scheint, liegt die eigentliche Ursache unserer gegenwärtigen Schwierigkeiten nicht in uns selbst, sondern in unseren Sternen – und in den undurchsichtigen Nebeln der Ryall-Geschichte.«

Er lehnte sich zurück und faltete die Hände im Schoß.

»Was ich Ihnen jetzt erzähle«, fuhr er fort, »ist eine Legende der Ryall. Sie ist rekonstruiert aus Tausenden von Vernehmungen Gefangener aus den verschiedensten Bereichen der Ryall-Hegemonie. Alle Gefangenen haben die Legende in der gleichen Weise wiedergegeben, ungeachtet der eingesetzten Vernehmungstechniken – und ich muss zugeben, dass wir uns nicht immer an den Geist der alten Genfer Konvention gehalten haben.

Vor dreißigtausend Jahren waren die Ryall ein einfaches Fischervolk, das an den Flussufern und Flachküsten ihrer Meere lebte. Sie verbrachten einen großen Teil ihrer Zeit im Wasser, wo sie sich von anderen Meereslebewesen ernährten. Diese Lebensweise hatten sie geführt, so weit ihre Überlieferungen zurückreichten. Dann glühte eines Tages ein Stern am Himmel auf, bis seine Helligkeit der des Zentralgestirns gleichkam.«

»Eine andere Nova in der Nähe?«, fragte Bethany.

»So scheint es. Mit dem Licht der Nova kamen natürlich Strahlungsstürme. Sie waren nicht stark genug, um ihre Welt zu sterilisieren, richteten aber nichtsdestoweniger großen Schaden an. Die Mutationsrate stieg Schwindel erregend. Einige Arten starben aus, andere nahmen ihren Platz ein. Auch die Ryall waren nicht immun gegen die Strahlung. Mit jeder neuen Generation, die den Eiern entschlüpfte, erblickten neue groteske Formen, aber auch neue Fähigkeiten das Licht der Welt. Die meisten dieser mutativ entstandenen Veränderungen waren schädlich und machten die jungen Ryall, wenn sie nicht schon in den Eiern zugrunde gingen, lebensunfähig. Andere waren von begrenzter Brauchbarkeit und verschwanden wieder, entweder durch natürliche Auslese oder durch die Maßnahmen der Stammesältesten, die nur gesunde junge Ryall aufwachsen ließen. Einige Mutationen erwiesen sich als vorteilhaft und wurden in die sich rasch entwickelnde Art integriert.

Die Ryall waren nicht die einzige Spezies, die erzwungener Evolution unterworfen wurde. Vor etwa fünfundzwanzigtausend Jahren entstand auf der Heimatwelt der Ryall eine andere intelligente Art. Die Ryall haben verschiedene Namen für diese Wesen, aber am verbreitetsten ist die Bezeichnung ›Schnelle Esser‹.

Die Schnellen Esser waren Amphibien, Abkömmlinge räuberischer Meeresbewohner. Sie waren intelligent, schlau und gefräßig. Diese Schnellen Esser griffen die Brutgebiete der Ryall an und fraßen ihre Eier. Die Folge davon war ein drastisches Absinken der Bevölkerungszahlen. Es gab sogar eine Zeit, da es schien, als würden die Schnellen Esser die ältere Lebensform ausrotten.

Schließlich erfanden die Ryall eine erfolgreiche Abwehr gegen die räuberischen Überfälle der Schnellen Esser. Sie zogen sich ganz vom Wasser zurück und wurden reine Landbewohner, die in Gruppen weit genug landeinwärts lebten, um Angriffen der Schnellen Esser zu entgehen. Sie begannen andere Landtiere zu jagen und in Herden zu halten. Sie lernten den Gebrauch des Feuers und der Metallbearbeitung. Sie lernten landwirtschaftliche Techniken, um Futter für ihre Herden und Nahrung für sich selbst zu beschaffen. Und schließlich entwickelten sie die Städte und eine echte Zivilisation.

Irgendwann in ihrer Bronzezeit begannen sie die Schnellen Esser zu jagen. Es war eine lange Jagd. Die Gefangenen sagen übereinstimmend aus, dass sie etwa fünfzehntausend Jahre dauerte. Wir sind geneigt, ihnen zu glauben.«

»Warum?«, fragte Bethany.

»Wegen der tiefen Narbe, Miss Lindquist, die ihr Wettbewerb mit den Schnellen Essern in der Psyche der Ryall hinterlassen hatte. Zehntausend Jahre sind vergangen, seit sie die Letzten der Schnellen Esser ausrotteten – das Doppelte der Zeitspanne, seit auf Erden die frühen Hochkulturen entstanden. Doch wenn wir einzelnen Gefangenen Zeichnungen von Schnellen Essern zeigen, die nach den Beschreibungen anderer Gefangener angefertigt wurden, beobachten wir einen starken Kampf-oder-Flucht-Reflex. Sagen Sie, Miss Lindquist, fürchten Sie sich vor Schlangen oder Spinnen?«

»Ich weiß es wirklich nicht, Sir. Ich habe niemals welche gesehen, außer natürlich als Abbildungen in Büchern.«

»Nun, es ist eine dokumentierte Tatsache, dass ein bestimmter Prozentsatz der Menschen eine irrationale Furcht vor diesen Tieren hat. In dieser Hinsicht sind wir und die Ryall gleich. Der Unterschied ist der, dass alle Ryall die Schnellen Esser fürchten. Bei ihnen ist es weniger eine Phobie als ein Instinkt. Und darum mag dieser Krieg zwischen der Menschheit und den Ryall durchaus ein Kampf auf Leben und Tod sein.«

»Ich fürchte, das verstehe ich nicht«, sagte Bethany.

»Die Geschichte lehrt die Ryall, sich vor explodierenden Sternen am Himmel in acht zu nehmen. Für sie war die Antares-Supernova das schlimmste Omen, das es geben konnte. Obendrein sahen sie ihre Befürchtungen bestätigt, als kurz danach ein Raumschiff mit fremden Lebewesen am Himmel einer ihrer Welten erschien.

Im Gegensatz zur Menschheit haben die Ryall Erfahrung im Umgang mit einer rivalisierenden intelligenten Spezies, Miss Lindquist. Ihre Methode zur Behandlung des Problems hat sich in fünfzehntausend Jahren der Schmerzen und Leiden ihrer Vorfahren als gültig erwiesen. Es ist eine einfache und wirksame Methode. Und sie funktioniert immer.

Kurz gesagt, die Geschichte hat die Ryall gelehrt, dass die einzig mögliche Antwort auf eine Spezies, die als ein potenzieller Konkurrent erkannt ist, ihre Ausrottung ist. Sie geben kein Pardon und verlangen kein Pardon. Es ist unter den Ryall ein Glaubensbekenntnis, dass die Jungen niemals sicher sein werden, solange irgendwo in der Galaxis ein menschliches Wesen am Leben bleibt!«