Rosie
Die Liebe ist ein trügerisches, hinterhältiges und irreführendes Wesen. In Joannas Schwarzweißwelt zeigt sie sich in Gestalt eines neuen Kleides oder hübscher neuer Schuhe, wenn man die Augen halb schließt und nicht so genau hinsieht. Bei ihr ist die Liebe gleichbedeutend mit Kontrolle.
Die dreizehnjährige Joanna betrachtet ihr Spiegelbild und sieht einen ungelenken Teenager mit pausbäckigem Gesicht. Sie trägt ein Samtkleidchen mit einer aufgenähten Schleife und Kinderschuhe aus schwarzem Wildleder, die sie sich früher als Zehnjährige gewünscht hat.
Hinter ihr steht ihre Mutter und mustert ihre Tochter, allerdings ohne zu erkennen, dass sie aus dem Kleidchen längst herausgewachsen ist und dass die Schuhe nicht länger Gegenstand ihrer Träume sind.
»Du wächst so schnell«, sagt sie. »Bald schon bist du größer als ich.« Sie streicht den Spitzenkragen glatt und rückt das farblich passende Haarband ihrer Tochter zurecht. »Sieh dich nur an, wie hübsch du bist.«
Sie blickt in den Spiegel, in die Gesichter dieser beiden Fremden – das Kind, das so gern das kleine Mädchen wäre, und die Mutter mit den großen runden Augen und den gemeinen, vergifteten Gedanken, die alles kontrolliert und bestimmt. Ihre Leckereien sind voll Blausäure, die Limonade mit Ammoniak verseucht.
Ihre Eltern haben Besuch, es ist eher eine Cocktailparty als eine Teegesellschaft. Freunde und Nachbarn in Twinsets und Freizeitanzügen sitzen auf dem Sofa und trinken Sherry – perlendes Lachen, umherschweifende Blicke voller Lüsternheit. Joanna gesellt sich zu ihnen, und es fängt wieder von vorn an.
»Na, sieh mal einer an, wie du gewachsen bist.«
»Was für ein großes Mädchen.«
Groß, groß, groß … Das Wort schwillt in ihrem Kopf an, bis es in ihren Ohren explodiert und sie taub wird, während sie sich nichts sehnlicher wünscht, als unsichtbar zu sein.
Eigentlich ist es ganz einfach, nachdem sie erst einmal damit angefangen hat. »Ich habe keinen großen Hunger«, »Ich habe in der Schule schon ein großes Mittagessen gehabt« – schon wieder dieses Wort – oder »Ich hab Bauchweh«. Und währenddessen knurrt ihr der Magen, ihre Sandwiches landen im Mülleimer. Aber all das ist völlig egal, wenn sie sieht, wie flach ihr Bauch ist, wie ihre Sachen an ihr schlottern und ihr ausgemergeltes Gesicht ohne den Babyspeck eine ganz eigene Schönheit entwickelt.
Als man sie zwingt, aufzuessen, obwohl sie nicht will, weil die Portion viel zu üppig ist und ihr wie ein Stein im Magen liegt, lernt sie schnell, Abhilfe zu schaffen. Es gelingt ihr, ihren Würgereflex innerhalb kurzer Zeit zu stimulieren. Nur sie kann das kontrollieren und sonst niemand. Und die hervorstehenden Knochen und der kindliche Körperbau, auf den sie so stolz ist, sind nicht das einzig Positive daran.
»Sie ist ja so schön schlank!«
»Du siehst wunderschön aus, Liebes.«
»Sie hat eine sehr hübsche Figur …«
»Dieses Kleid steht dir fantastisch.«
Bewundert zu werden, Lob zu ernten, hübsch auszusehen, bewundernswerte Selbstkontrolle an den Tag zu legen, das Beste aus sich selbst herauszuholen, auch wenn sie dafür hungern muss, wärmt ihr Inneres – ein Gefühl, das Liebe am nächsten kommt.