9
Oktober
Wir haben die Beerdigung hinter uns gebracht, unsere Kinder sind im ganzen Land verstreut. Der erste Trennungsschmerz weicht der Erleichterung, dass sie fernab des Dorfes zumindest in Sicherheit sind, und allmählich kehrt der gewohnte, ruhigere Alltag ein. Ich treffe mich mit den anderen Müttern, um zu besprechen, wie wir uns abwechselnd um Jo kümmern könnten. Im Prinzip ist es eine gute Idee, darin sind wir uns einig, aber für die meisten ist es schlichtweg zu viel, Jo zu besuchen, wo Rosies Fehlen so übermächtig spürbar ist, weshalb die Besuche immer spärlicher werden, bis sie schließlich ganz ausbleiben.
»Du bist so nett zu mir«, sagt Jo, als sie mir, wie immer tadellos gekleidet in einer schmal geschnittenen Tunika über einer hellen Leinenhose und mit dem obligatorischen Schal um den Hals, die Tür öffnet. Vor der Beerdigung war sie beim Friseur, so dass von ihren grauen Ansätzen nichts mehr zu erkennen ist.
»Aber du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen, Kate. Es geht mir gut.«
Ich weiß, dass das nicht stimmt. Wie sollte es auch? Ich frage mich, ob es ihr jemals wieder gutgehen wird.
»Ich habe dir Kuchen mitgebracht.« Jo wird ihn zwar nicht essen, doch die Geste ist mir wichtig. »Schokoladenkuchen. Vielleicht möchte Delphine ja etwas davon haben.«
Schweigend nimmt sie ihn. Als ich ihr die Treppe hinunter in die Küche folge, läutet ihr Handy auf dem Tisch. Sie wirft einen Blick aufs Display.
»Du entschuldigst mich kurz? Vermutlich geht es um die Arbeit, die ich gerade für Neal erledige.«
»Natürlich. Ich setze so lange Wasser für den Tee auf.« Allmählich kenne ich mich in der blitzblanken, sorgsam aufgeräumten Küche, die so ganz anders ist als meine, besser aus und gebe Wasser aus dem mit einem eigenen Filtersystem ausgestatteten Hahn in den Kessel.
Dann nehme ich zwei Kaffeebecher – es gibt separate Regale für die Tee- und Kaffeebecher –, wobei mir ein paar nagelneue auffallen. Sie sind aus weißem Porzellan, mit raffiniert geschwungenen Henkeln. Jo telefoniert immer noch. Abwesend nehme ich einen der Becher heraus, drehe ihn hin und her und betrachte die außergewöhnliche Form, als er mir entgleitet und auf den Boden fällt. Jo fährt herum und starrt mich entgeistert an.
»Es tut mir wahnsinnig leid«, beteuere ich bestimmt zum zehnten Mal, weil sie völlig verstört zu sein scheint. »Darf ich ihn bitte ersetzen?«
»Ach, das macht doch nichts.« Sie zwingt sich zu einem Lachen. »Ehrlich. Keine Sorge, Kate, es ist doch nur ein Kaffeebecher. Außerdem war es meine Schuld. Ich hätte nicht so lange plaudern sollen.«
Übernimmt sie allen Ernstes die Verantwortung für meine Schusseligkeit? Mir fällt wieder ein, was ich früher manchmal zu Grace gesagt habe, als sie vier Jahre alt war: Es ist meine Schuld, dass du den Farbeimer umgekippt hast. Ich hätte besser auf dich aufpassen müssen.
Wir plaudern übers Wetter und dass es eigentlich viel zu warm für Oktober ist. Über ihre herrliche Küche, was ihr sichtlich gefällt, denn zu meinem Erstaunen erzählt sie mir angeregt und in aller Ausführlichkeit von der Küchenbaufirma, die sie eigens für die Andersons entworfen hat. Allerdings findet sie sie nicht perfekt, deshalb würden sie es beim nächsten Mal noch besser planen.
Dann kommen wir auf ihren Garten zu sprechen, der augenscheinlich von jemandem angelegt wurde, der sein Handwerk versteht. Im Gegensatz zu vielen anderen Gärten besitzt er eine klar erkennbare Struktur und ist so konzipiert, dass er seinen Besitzern das ganze Jahr über Freude bereitet. Außerdem wurde seit meinem letzten Besuch ein kleiner, gleichmäßig geformter Apfelbaum gepflanzt, wenn auch nicht von Jo, wie ihre perfekt lackierten Nägel zeigen.
»Der ist ja schön. Weißt du, was für eine Sorte das ist?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich verstehe nicht das Geringste vom Gärtnern, fürchte ich.«
»Kümmert sich Neal um alles?«, frage ich mit einer Geste auf den gepflegten Rasen mit den elegant angelegten Rabatten und dem neu gepflanzten Bäumchen am hinteren Ende.
»Oh, nein, wir haben jemanden, der einmal die Woche kommt. Wo wir gerade dabei sind, ich muss ihn dringend anrufen. Die letzten zwei Wochen ist er nicht aufgetaucht.« Sie runzelt die Stirn. »Vielleicht kommt er auch gar nicht mehr. Ach, ich bin so konfus und bringe alles durcheinander, Kate.« Verzweifelt sieht sie mich an. »Er und Neal sind nicht gut miteinander zurechtgekommen.«
»Wo ist Neal denn?«
»Weg.«
»Wie lange?« Ich fasse es nicht, dass er sie so kurz nach Rosies Begräbnis bereits allein lässt.
»Eigentlich wollte er ja nicht gehen«, meint sie. »Er ist in Afghanistan, aber nicht, um zu arbeiten. Er und ein paar Kollegen haben dort ein Spendenprojekt für Kriegswaisen ins Leben gerufen.«
»Das wusste ich gar nicht« Laura hatte etwas in der Richtung erwähnt, aber nicht, dass er zu den Initiatoren gehört. Mit einem Mal steht Neal Anderson auf meiner persönlichen Liste der Menschen, die sich engagieren und etwas bewegen. Und vielleicht lenkt ihn diese Aufgabe auch von all dem Leid und dem Kummer ab. »Du musst sehr stolz auf ihn sein.«
Jo nickt. »Das ist einer der Gründe, weshalb ich keinen Job habe. Oh, ich weiß, dass einige der anderen Mütter denken, ich würde mein Leben verplempern, aber manchmal ist er wochenlang unterwegs. Außerdem helfe ich ihm, erledige die Büroarbeit, nehme Anrufe entgegen und organisiere seine Termine.«
Erst jetzt dämmert mir, wie wenig ich in Wahrheit über sie weiß. Und über Neal.
»Ich könnte dir ja mit dem Garten helfen. Nur für eine Weile, meine ich. Ein paar Stunden könnte ich erübrigen, wenn du willst.«
Jo antwortet nicht, sondern blickt nach draußen, auf einen Punkt jenseits der Bäume, jenseits des Himmels, irgendwohin, wo ich sie nicht erreichen kann.
Ich berühre ihren Arm. »Jo? Es muss sehr schwer sein …«
Ich spüre es mit jeder Faser meines Seins.
»Manchmal …«, sagt sie, ohne den Blick zu lösen, »frage ich mich, womit ich das eigentlich verdient habe.« Ihre Stimme klingt, als käme sie aus weiter Ferne. »Solange ich denken kann, habe ich mir immer nur eins gewünscht … eine glückliche Familie. Ich dachte immer, das sei das Einzige, worin ich wirklich gut wäre.«
Ich habe einen dicken Kloß im Hals, weil ich jedes einzelne Wort, jede Gefühlsregung in ihr so gut nachvollziehen kann. Für eine Mutter kann sich das Leben im Grunde auf nur eine einzige Aufgabe reduzieren: die Familie.
»Ich kann jetzt nicht darüber reden«, flüstert sie und blickt mich an, ihre Augen sind von einem quälenden Schmerz erfüllt.
Und ich erkenne, wie wenig nötig wäre, um sie in tausend Stücke zerbrechen zu lassen, wie den Kaffeebecher vorhin. Obwohl sie trauert, sieht sie in diesem Moment schlechter aus als je zuvor. Sie schiebt ihren Stuhl zurück und steht auf. Es fällt ihr sichtlich schwer, die Fassung nicht zu verlieren.
»Wieso legst du dich nicht ein Weilchen hin und ruhst dich aus, Jo?«
Ich wünsche mir so sehr, ihr irgendwie helfen, ihr einen Teil des Kummers abnehmen zu können.
»Es ist so schrecklich«, sage ich an diesem Abend zu Angus. Es ist kühl geworden, und er hat das erste Mal in diesem Herbst den Kamin angezündet. Wir haben es uns auf dem Sofa gemütlich gemacht. Ich kuschle mich mit einem Glas Wein an ihn und blicke in die orangefarbenen Flammen.
»Wenn ich sie besuche, wahrt sie mit Müh und Not die Fassung. Ich habe keine Ahnung, wie sie das macht. Ich habe sie nur einmal weinen gesehen.«
»Vermutlich ist es ihre Methode, damit umzugehen«, meint er. »Und niemand kann sagen, wie man reagieren würde, wenn das eigene Kind ermordet wird.«
»Ich weiß.« Genau dasselbe habe ich auch gedacht. Und der Schmerz, den ich mir ausmale, reicht vermutlich kaum an die Qualen heran, die Jo empfindet.
Wir schweigen. Ich denke an Grace. Sie hat ein paar Mal angerufen – heitere Gespräche, bei denen mir jedes Mal die Tränen in die Augen schießen und mein Herz vor Stolz platzt. Sie lebt sich gut ein, nabelt sich immer mehr ab, entfaltet herrliche, schillernde Flügel.
»Es ist schön, findest du nicht?« Angus lehnt sich zurück und legt die Füße auf den Couchtisch. »Nur du und ich. Der Kühlschrank ist ausnahmsweise voll, es latscht nicht alle paar Minuten ein Teenager herein. Und Grace tut das, was wir uns immer für sie vorgestellt haben.«
Er hat recht. Ich kuschle mich enger an ihn, spüre seine Wärme und versuche, den Moment zu genießen, auch wenn es mir nicht recht gelingen will.
Allmählich rückt Rosies Tod ein klein wenig in den Hintergrund, und die letzten Blütenblätter von Jos Sträußen, die auch in den Wochen nach dem Begräbnis noch geliefert wurden, fallen ab. Als ich das nächste Mal bei ihr bin, sieht das Wohnzimmer verändert aus.
»Neues Sofa?« Offenbar ist Jo mein Erstaunen nicht entgangen, denn sie hebt abrupt den Kopf.
»Wir hatten vor, das Wohnzimmer neu zu machen … bevor … Ich hatte das völlig vergessen, bis gestern plötzlich das Sofa geliefert wurde.«
»Wie unangenehm. Das ist im Moment wahrscheinlich so ziemlich das Letzte, was du brauchst.«
»Ach, ist schon in Ordnung«, gibt sie knapp zurück. »Es ist ja nur ein Sofa. Möchtest du Tee?«
»Bitte. Hast du deinen Gärtner wiedergefunden?«, frage ich und folge ihr in die Küche. Wie bizarr diese scheinbar normale Unterhaltung über Banalitäten doch ist.
»Er kommt nicht mehr«, sagt sie vage. »Neal hat einen Jungen aus dem Dorf engagiert, der über den Winter die Blätter zusammenrecht. Ehrlich gesagt habe ich dafür jetzt keinen Kopf. Wir können ja im Frühling jemand Neues suchen.«
Das stimmt. Es gibt Wichtigeres als ihren Garten. »Wie geht es eigentlich Delphine? Jedes Mal, wenn ich hier bin, ist sie in der Schule. Ich bekomme sie überhaupt nie zu Gesicht.«
Sie zögert einen Moment, ehe sie antwortet. »Sie ist … ein erstaunliches Mädchen. Ganz anders als Rosanna. Die Polizei hat jemanden hergeschickt, der mit ihr reden sollte, einen Krisenbeamten. Aber es geht ihr gut. Für ein Mädchen ihres Alters ist sie erstaunlich stark.«
Aus Jos Mund klingt es eher wie eine distanzierte Einschätzung und nicht wie die liebevollen Worte einer Mutter. Ich sehe Jo prüfend an. Ihr Tonfall ist ausdruckslos, ihre Worte sachlich, und ich erkenne dieselbe dumpfe Betäubung wie unmittelbar nach dem Tag, als Rosie aufgefunden wurde, dieselbe Leere in ihrem Blick. Offenbar ist es so, wie Angus sagt – sie erträgt all das nur, indem sie sich innerlich komplett abschottet.
Sie wendet sich ab. »Die Polizei hat mir erzählt, dass Rosanna häufiger bei dir und den Pferden war.«
Ich registriere einen Anflug von Verärgerung in ihrer Stimme.
»Ja, wenn sie zufällig vorbeikam. Manchmal ist sie einfach übers Feld gegangen und hat eine Weile mit ihnen geredet. Aber nie sehr lange.« Es ist mir ein wenig peinlich, dass sie es von Fremden erfahren hat. »Sie hat Pferde geliebt. Natürlich hätte ich es dir erzählt, aber ich dachte, du wüsstest Bescheid.«
Es ist einfacher, ihr eine Lüge aufzutischen. Selbst jetzt würde es mir wie ein Verrat an Rosie vorkommen.
Jo nickt langsam. »Nein.« Ihre Stimme ist tränenerstickt. »Ich hatte ja auch keine Ahnung, dass sie mit Poppy befreundet war. Was ich sonst wohl noch alles nicht über sie wusste?«
Schuldgefühle überkommen mich, weil ich ihr zusätzlichen Kummer bereite. »Ich hätte es dir sagen müssen. Aber eigentlich gab es da nichts zu erzählen, Jo. Es war nie verabredet oder so etwas. Sie kam einfach die Straße herunter und redete eine Weile mit ihnen. Das ist alles.«
Sie tupft sich die Tränen ab.
»Bitte entschuldige, Kate. Ich reagiere ein bisschen über. Ich bin froh, dass sie bei deinen Pferden vorbeigeschaut hat, und bei dir …«
Sie dreht sich um und macht sich wieder an die Zubereitung des Tees. »Hat Delphine viele Freundinnen?«, lenke ich das Gespräch auf Jos andere Tochter, die bestimmt ebenfalls schrecklich unter Rosies Tod leidet.
»Ein oder zwei. Eine Zeitlang hat sie mit diesem grässlichen Mädchen gespielt, aber wir haben versucht, es zu unterbinden. Es war nicht der richtige Umgang für sie.«
Noch eine Poppy. Ich muss wieder an das eine Mädchen denken, mit dem Grace vor ein paar Jahren häufiger zusammen war. Cleo. Laut, zu kurze Röcke und immer nach Zigarettenrauch stinkend. Eigentlich wollte ich die beiden auseinanderbringen, aber Angus überredete mich damals, es lieber nicht zu tun. Grace passiere schon nichts, sagte er, solange wir sie im Auge behalten würden. Und er sollte recht behalten.
»Irgendein merkwürdiges Mädchen gibt es immer, stimmt’s?«, sage ich. »Aber sie müssen ihre Fehler selbst machen.«
»Neal ist da nicht so nachsichtig«, erwidert sie. »Er hat sehr hohe Ansprüche und will immer nur das Beste für die beiden, für sie …«
Der Singular will ihr nicht so recht über die Lippen kommen. Wir alle wollen nur das Beste für unsere Kinder. Trotzdem kann Delphine nicht so stark sein, wie Jo behauptet, wenn ihre Eltern bestimmen, mit wem sie befreundet sein darf und mit wem nicht.
»Sie vermisst Rosanna schrecklich«, fährt Jo fort, schenkt den Tee ein und setzt sich. »Und die Zeitungsartikel haben ein Übriges getan.«
Ich schüttle den Kopf. »Das muss absolut grauenvoll sein. Für euch alle. Vor allem …« Ich unterbreche mich, weil ich es nicht über mich bringe, von den Gerüchten zu erzählen, die immer noch im Dorf kursieren.
»Was wolltest du sagen?«, fragt Jo und sieht auf.
Wieder muss ich einen Eiertanz aufführen. »Ach, nichts.«
Doch dann ändere ich meine Meinung, weil Jo ein Recht darauf hat, es zu erfahren.
»Eigentlich ist es gar nichts. Ich musste nur an die Gerüchte denken, die die Zeitungen in die Welt gesetzt haben. Darüber, dass Rosie … Rosanna eine Art Doppelleben geführt haben soll. Es war einfach entwürdigend.«
Sie erstarrt. »Das ist nicht wahr. Rosanna war ein braves Mädchen, das sich in der Schule sehr angestrengt hat. Es waren nur Gerüchte, Kate. Die Zeitungen sind voll von diesem Unsinn.« Sie rührt in ihrer Teetasse, ehe sie erneut aufsieht. »Du weißt doch, wie sie sind. Meistens drucken sie diesen Unsinn sowieso nur, um Auflage zu machen. Man darf das nicht an sich heranlassen.«
Ich weiß nicht, ob ich so gut damit zurechtkäme wie sie. »Wie geht Neal denn mit all dem um?«, frage ich behutsam, um nicht den Eindruck zu erwecken, als wäre ich bloß neugierig, aber der Verlust eines Kindes kann selbst sehr enge Familienbande zerstören. Ein bekümmerter Ausdruck tritt in Jos Augen.
»Er ist am Boden zerstört, kompensiert es aber, indem er sich in seine Arbeit stürzt. Wir versuchen, stark zu sein und uns gegenseitig zu unterstützen, aber im Grunde ist er genau wie ich. Er kaschiert es nur besser. Er ist ein sehr bemerkenswerter Mann, Kate.«
»Das seid ihr alle, Jo, stark. Und bemerkenswert.«
Sie schüttelt den Kopf, und ihre Augen glänzen. »Danke, aber das bin ich überhaupt nicht.«
Zwei Tage später klopft es nach dem Frühstück an der Tür.
Leicht verärgert, weil ich mich für die Arbeit fertig machen muss, reiße ich die Tür auf und sehe Laura vor mir stehen.
»Kate! Ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich einfach so vorbeischaue, aber ich habe deine Nummer nicht. Beth Van Sutton hat mir gesagt, wo du wohnst.«
»Hi, entschuldige, wenn ich dich nicht hereinbitte, aber ich bin gerade auf dem Sprung zur Arbeit.«
Laura sieht mich an, als wäre sie nicht sicher, ob ich sie abwimmeln will.
Ich halte inne. Rachael hat recht. Zumindest sollte ich mit ihr darüber reden. »Aber komm doch einfach später noch mal vorbei. Sagen wir, gegen eins? Zum Mittagessen?«
Sie scheint erleichtert zu sein. »Danke. Das wäre toll.«
In den folgenden Stunden bringe ich den Garten eines Kunden auf Vordermann, was mir Gelegenheit gibt, meine Gedanken zu sortieren und meine Vorurteile gegenüber Journalisten zu überdenken, denn im Grunde genommen will ich genauso wie alle anderen Eltern im Dorf wissen, was geschehen ist. Und vielleicht hat es ja einen Sinn, dass Laura aufgetaucht ist. Als sie um die Mittagszeit erscheint, bin ich zu einem Entschluss gelangt.
»Komm rein. Bitte entschuldige das Chaos, aber ich bin gerade erst nach Hause gekommen.«
»Ich bitte dich. Du solltest mal meine Bude sehen. Und ich lebe allein.« Sie folgt mir hinein.
»Setz dich. Ich koche uns schnell was, dann können wir draußen essen.«
»Wunderbar.« Laura setzt sich auf einen unserer alten ramponierten Holzstühle, schlägt ihre gebräunten Beine übereinander und zupft ihren bis knapp zu den Knien reichenden Rock zurecht.
»Und wie kommst du voran? Kriegst du die Informationen, die du brauchst?«
»Sehr langsam … Natürlich gibt es immer Leute, die erzählen wollen und endlos faseln, aber etwas Relevantes zu Rosie haben sie nicht zu sagen. Andere wiederum meiden mich tunlichst.«
So wie ich, denke ich.
»Es ist nichts Persönliches«, fährt sie fort. »Es liegt daran, dass ich Reporterin bin. Manche halten einen für die Ausgeburt der Hölle.«
Mein Löffel entgleitet mir und landet klappernd auf dem Boden.
Doch als wir unter der alten Eiche sitzen und unsere alte Freundschaft wieder neu auflebt, entspanne ich mich allmählich.
»Erzähl mir von dir. Wieso bist du aus England weggegangen?«, frage ich.
»Man hat mir einen Job angeboten. Vor zehn Jahren.« Sie gibt etwas Salat und Schinken auf ihren Teller. »Ich konnte nicht ablehnen. Ich bin noch mal an die Uni und habe Psychologie studiert. Lifetime suchte jemanden, der über psychologische Themen schreibt. Damals wollte ich einfach nur weg von hier. Es war das richtige Angebot zum richtigen Zeitpunkt, ein echter Glücksfall.«
»Keine Kinder?« Mir ist aufgefallen, dass sie keinen Ehering trägt.
Sie schüttelt den Kopf. »Es gab da einen Mann. Lange Geschichte … jedenfalls habe ich festgestellt, dass ich ohne ihn besser dran bin. Ich habe wunderbare Freunde und liebe meine Arbeit.«
»Also …« Ich muss sie fragen, zögere aber, weil ich nicht recht weiß, wie ich mich ausdrücken soll. »Inwiefern unterscheidet sich dein Artikel von all den anderen?«
»Nun ja.« Ihre Stimme nimmt einen nüchternen Tonfall an. »Vergiss am besten deine Meinung über diese ganzen Schundblätter. Schlagzeilen interessieren mich nicht. Es gibt immer eine Story zu erzählen, aber ich möchte mehr als das. Ich denke, in Rosies Fall werde ich die Geschichte aus dem Blickwinkel der Eltern aufziehen. Ich will nicht nur in Erfahrung bringen, was passiert ist, sondern auch, warum. War Rosie gewissermaßen schon vorher ein Opfer, vor ihrem Tod? Man könnte wohl sagen, mich fesselt eher die Geschichte hinter der Geschichte.«
Plötzlich bekomme ich eine Gänsehaut – auch mich interessiert diese Frage.
»Okay«, sage ich leise. »Frag mich alles, was du wissen willst.«
Sie sieht mich überrascht an. »Sicher? Ich würde es vollkommen verstehen, wenn du lieber nichts sagen möchtest.«
»Nein, nein, es ist in Ordnung. Ich habe es mir überlegt. Und ich vertraue dir. Außerdem wird es Jo nichts ausmachen, vielleicht kann ich sogar helfen.«
»Ich danke dir. Hast du ein bisschen Zeit? Wollen wir sofort loslegen?«
Ich nicke. Sie zieht ein ledergebundenes Notizbuch aus ihrer Tasche.
»Also, wieso erzählst du mir nicht als Erstes, woher du die Andersons kennst?«
Ich erzähle Laura alles, was ich auch der Polizei gesagt habe, auch von der Halskette. Die ganze Zeit macht sie sich Notizen, ehe sie am Ende innehält und mich fragt:
»Hast du nicht auch eine Tochter in diesem Alter?«
»Ja«, antworte ich. Laura hat ihre Hausaufgaben gemacht, das muss man ihr lassen, aber habe ich etwas anderes erwartet?
»Waren die beiden befreundet?«
»Nicht direkt. Sie haben sich schon verstanden … sie waren nur sehr verschieden.«
»Aber sie waren nicht gemeinsam reiten?«
»Nein.«
»Hat dich das nicht gewundert?«
»Ich habe nie darüber nachgedacht. Es war Sommer, und Grace ist immer frühmorgens geritten und abends mit ihren Freunden losgezogen.«
Grace’ Worte kommen mir wieder in den Sinn. Wenn Rosie herkommt, bin ich nie hier, oder? Fast so, als würde sie nicht nur wegen der Pferde kommen … sondern wegen dir.«
Ich runzle die Stirn.
»Aber Grace ist es aufgefallen. Sie hat mal erwähnt, dass Rosie immer nur dann herkäme, wenn sie nicht da sei.«
Laura macht sich eine Notiz, dann sieht sie mich nachdenklich an.
»Ich habe mit einigen Leuten gesprochen«, sagt sie leise, »aber niemand scheint sie so gut gekannt zu haben wie du. Ich versuche, mir ein Bild von den Menschen in ihrem Umfeld zu machen. Von ihren Beziehungen. Davon, was sie gemacht hat, wohin sie gegangen ist und wer sie gesehen haben könnte. Ein oder zwei Leute meinten, sie hätten sie mit einem Jungen beobachtet. Keiner spricht schlecht über sie – oder über den Rest ihrer Familie. Vielleicht die ein oder andere Gemeinheit über Jo, aber sie ist bildschön, und darauf sind die Leute neidisch.«
»Grace hat erzählt, ein paar Jungs hätten sich hier herumgetrieben, die einer ihrer Freundinnen Gras verkauft hätten.«
Laura sieht mich fragend an.
»Ich dachte nur …« Ich zögere.
»Irgendjemanden gibt es immer, der das Zeug verhökert.«
»Darum geht es nicht, sondern … keine Ahnung. Ich frage mich bloß, ob Rosie sie gekannt hat oder über jemand mit ihnen in Kontakt gekommen ist. Über ihre Freundin Poppy zum Beispiel.«
»Das ist auch so ein Punkt. Es gibt zwar jede Menge Gerüchte über einen Freund, aber niemand scheint zu wissen, wer er war.«
»Jo hat gesagt, sie hätte keinen Freund gehabt.«
Laura runzelt die Stirn. »Möglicherweise wusste sie nichts von ihm. Ich sollte mit Poppy reden. Weißt du, wo sie wohnt?«
»Grace kann es mir bestimmt sagen. Aber ich würde mir an deiner Stelle keine allzu großen Hoffnungen machen. Und du musst vorsichtig sein. Ihre Familie … kann einem ziemliche Angst einjagen. So könnte man es wohl bezeichnen.«
»Oh, verstehe.«
Laura zieht eine Visitenkarte aus ihrer Tasche. »Würdest du mich anrufen, wenn dir noch etwas einfällt?«
Kurz nachdem sie weg ist, klopft es an der Tür.
»Mrs. McKay?« Es ist PC Beauman. Ich mache einen zweiten uniformierten Polizisten im Wagen aus. »Bitte entschuldigen Sie die Störung, aber könnten wir uns vielleicht in Ihrem Stall umschauen?«
»Natürlich. Jetzt sofort?«
Sie nickt.
»Okay. Ich hole nur meine Gummistiefel.«
Wonach sie wohl suchen? Allein bei dem Gedenken wird mir ein wenig mulmig.
Zu allem Übel höre ich an diesem Abend einen weiteren Wagen vorfahren. Es nähern sich Schritte, ehe jemand an die Tür hämmert. Durchs Küchenfenster erkenne ich Jo.
Ich laufe zur Tür und zucke vor Schreck zusammen. Sie sieht fürchterlich aus. Ihre Augen sind verquollen und gerötet, ihr Haar ist zerzaust, und ihr Körper wird von heftigen Schluchzern geschüttelt.
»Jo! Was ist los?«
Sie sinkt in meine Arme, und ein grauenhafter animalischer Schrei dringt aus ihrer Kehle, als sie ihren Gefühlen freien Lauf lässt.
Nachdem sie sich ein wenig gefangen hat, bugsiere ich sie auf einen Stuhl, während sie sich immer noch verzweifelt an mich klammert.
»Es tut mir so leid«, schluchzt sie. »Ich wusste nicht, zu wem ich sonst gehen könnte.«
»Ist doch in Ordnung, Jo. Ehrlich.«
Sie hebt den Kopf und sieht mich mit tränenüberströmtem Gesicht an. »Ist es nicht, Kate. Und das wird es auch nie wieder sein.«
»Was ist denn? Hat die Polizei Rosies Mörder geschnappt?«
Sie schüttelt den Kopf. »Neal«, flüstert sie.
Eine große Angst erfasst mich. Diese Familie hat schon mehr als genug mitgemacht. »Ist ihm etwas passiert?«
Ihre Züge sind verzerrt, und ich habe Mühe, die Worte zu verstehen. »… Streit. Neal hat gesagt … ich sei eine schlechte Mutter …«
Ich bin entsetzt. Die beiden leiden Höllenqualen. Wie kann er so grausam sein?
»Oh Jo, das ist ja schrecklich. Natürlich bist du keine schlechte Mutter. Du hast sie geliebt. Sie war deine Tochter.«
Sie befreit sich aus meiner Umarmung.
»Du verstehst nicht.« Hektisch sieht sie sich im Zimmer um, als suche sie nach etwas. »Ich hätte sie beschützen müssen.«