Rosie
Selbst wenn Alex nicht aufgetaucht wäre, wäre es passiert. Alex. Dass er hier ist, in ihrem Garten arbeitet, Neals Geld verdient, während sein wissender, gieriger Blick über den Körper ihrer Tochter wandert, ist die reinste Tortur für sie.
Unaufhörlich kreisen ihre Gedanken um ihn. Wann kommt er? Manchmal gibt sie vor, das Haus zu verlassen, nur um heimlich zurückzukehren, durchs Wohnzimmer zu schleichen und durch die vorgezogene Gardine zu beobachten, wie er gräbt, jätet und all die Pflanzen setzt, die er ausgesucht hat. Pflanzen, die ihren Ansprüchen bei weitem nicht genügen. Schließlich sind sie die Andersons.
Aber sie muss sich auf den jungen Mann konzentrieren, nicht auf die Pflanzen. Er wendet den Kopf, und sein Blick verweilt auf mir, als ich ihm einen Becher Tee reiche. Nichts entgeht ihr: seine lässige Art, wenn er mit mir redet – ich muss jedes Mal grinsen –, seine aufmerksamen, aber dennoch vorsichtigen Fragen, um mich besser kennenzulernen, mich zu verstehen. Sie beobachtet jede Bewegung, als ich von meiner Vergangenheit geradewegs in meine Zukunft hineingleite.
Er ist so unverfroren, denkt Joanna. Er macht keine Anstalten, sein Interesse zu verhehlen, nicht mal hier, auf meinem eigenen Grund und Boden. Aber weshalb sollte er auch, schließlich weiß er ja nicht, dass da jemand ist, vor dem er sich tunlichst verstecken sollte. Nicht wie sie, die hinter dem Vorhang steht und spürt, wie all die Wut, die sich ihr ganzes Leben angestaut hat, beim Anblick seiner Vertraulichkeiten in ihr aufzusteigen droht. Aber irgendwie gelingt es ihr, sich zu beherrschen, weil sie eines weiß: Wenn sie ihn wegschickt, wird es anderswo passieren. An einem anderen Ort, mit einem anderen jungen Mann. Und schlimmstenfalls hinter ihrem Rücken.
Also reißt sie sich zusammen, schafft es, die glühende Lava in ihrem Innern zu unterdrücken, weil von außen alles perfekt wirken muss.
Aber es verlangt ihr all ihre Willenskraft ab. Sie ist nicht wie Neal, besitzt nicht jenen eisernen Willen oder seine Gabe, sein Mienenspiel zu kontrollieren. Sie braucht die Hilfe eines Chirurgen, um sich hinter einer Maske zu verbergen. Andere Menschen sind das A und O. Mit dem richtigen Menschen, der das Richtige tut, sind all ihre Probleme auf einen Schlag gelöst.
War es erst letzte Woche, dass Neal angekündigt hat, die Gala ohne sie zu besuchen? Sie brauche sich nicht die Mühe zu machen, sich wie eine alte abgehalfterte Möchtegernschlampe aufzubrezeln, weil er eine passendere Begleiterin hätte. Jemanden, der wüsste, wie er ihm eine Freude mache, der sich nicht beschwere, keine Forderungen stelle, sondern ihn verstünde und von Herzen liebe.
Genau das hat er ihr vorgeworfen, oder nicht? War es letzte Woche, letzten Monat oder letztes Jahr? Oder hat sie es nur geträumt? Sie weiß es nicht mehr, weil Realität und Fantasie zu einer angenehmen, romantischen Scheinwelt verschmelzen. Und Rosanna und dieser Junge … war das auch nur ein Traum?
Und jetzt hat er ihr vor den Latz geknallt, dass er sie verlassen wird. Das ist kein Traum. Sie erinnert sich ganz genau, wie ihr bei seinen Worten plötzlich eiskalt wurde. Wie sie ihn angebettelt hat, zu bleiben, immer wieder beteuert hat, dass sie ihn doch liebt.
»Wie solltest du, wo du hier drin doch nicht mal ein Herz hast?«, sagt er. »Da drinnen …« Er deutet auf ihre Brust, »ist doch bloß eine Kreditkarte, die ihr Limit erreicht hat, Joanna.«
Bei jedem seiner Worte zuckt sie zurück, als würde er sie schlagen.
»Und alles, was ich im Gegenzug von dir bekommen habe, sind Wut, Schmerzen und zwei hässliche, dumme Kinder, die keine Ahnung haben, was für Glückspilze sie sind. Und jetzt ist es so weit, und du bekommst die Rechnung präsentiert.«
Aber noch ist er hier. Vielleicht ist es ja doch noch nicht zu spät. Sie klammert sich an jeden noch so dünnen Strohhalm.
Sie kann dafür sorgen, dass die Mädchen dünner und hübscher sind, dass sie viel lernen. Sie kann ihnen neue Sachen kaufen, das Haus umgestalten, sich eine neue Frisur zulegen, ihm schmeicheln, ihm sagen, dass sie sich nun doch auf den Dreier einlassen würde, den er sich so gewünscht hat. Sie würde alles tun, was er von ihr verlangt, damit alles perfekt ist.
Es ist genau so, wie sie zu Kate gesagt hat:
Alles hat seinen Preis.