17

Dieses Weihnachtsfest verläuft ein klein wenig anders als sonst. Vielleicht liegt es daran, was der Pfarrer bei der Mitternachtsmesse über Familie und Angehörige sagt, oder daran, dass plötzlich alle mehr Zeit füreinander haben. Vieles läuft genauso ab wie früher – zu viel Essen, zu viel Glühwein, Familienidylle, nur dass die Stimmung nicht ganz so ausgelassen ist wie sonst. Wenige Tage später feiern wir bei Rachael und Alan mit geradezu trotziger Zügellosigkeit ins neue Jahr. Schließlich geht Angus wieder zur Arbeit, ich fahre Grace nach Bristol, und dann bin ich zum ersten Mal seit fast einem Monat allein.

In gewisser Weise freue ich mich über die Ruhe und darauf, dass ich wieder ungeniert meinem eigenen Rhythmus folgen kann und lediglich für Angus und mich zu kochen brauche, wenn er abends nach Hause kommt. Dann fällt er ins Bett, steht früh auf und fährt ins Büro. Es ist still. Zu still.

Und noch bevor ich Gelegenheit habe, mich daran zu gewöhnen, ändert sich wieder alles.

»Sie wollen, dass ich für eine Weile nach York gehe«, verkündet Angus. Es ist wieder einmal spät geworden. Dunkle Ringe liegen unter seinen Augen, und er wirkt müde und ausgezehrt. »Der Zweigstellenleiter hat einfach hingeschmissen. Die stecken echt in der Klemme, Kate.«

»Und für wie lange?« Ich weiß ja, dass er mehr Arbeit hat als sonst, aber nicht, dass es so schlimm ist.

Er zuckt die Achseln und gähnt laut. »Sie können es noch nicht genau sagen. Wahrscheinlich für ein paar Wochen, vielleicht auch länger. Aber an den Wochenenden komme ich nach Hause.«

»Kann nicht jemand anderes gehen?« Die Aussicht auf eine Fernbeziehung behagt mir gar nicht. Viele Leute sind gezwungen, so zu leben, aber mit Ausnahme von ein paar Tagen waren Angus und ich noch nie voneinander getrennt.

Er zögert. »Es könnte ein ziemlicher Karriereschub für mich sein, Kate. Außerdem gibt es sonst keinen, der es übernehmen könnte.«

Innerhalb kürzester Zeit ist er fort. Ich fühle mich völlig verloren und vermisse ihn mehr, als ich mir jemals hätte vorstellen können. Deshalb gehe ich zu Rachael hinüber.

»Du hast keine Ahnung, was für ein Glück du hast!« Eine Portion ihrer nüchternen Sachlichkeit ist jetzt genau das Richtige. »Sieh dir mal diesen Schweinestall hier an, Kate. Nein, streich das. Selbst Schweine sind reinlicher als meine Sippschaft.«

Wir wissen beide, dass das eine Lüge ist. Wäschberge liegen herum, Briefe von der Schule, die Reste des Frühstücks kleben auf der Arbeitsplatte, aber in Wahrheit ist es das übliche Familienchaos, das in meiner eigenen Küche inzwischen vollständig fehlt.

»Laura hält Alex immer noch für den Täter«, sagt sie und wirft einen Blick über die Schulter, als fürchte sie, er komme jeden Moment zur Tür herein. »Verbrechen aus Leidenschaft. Alex will Rosie zurückgewinnen, sie erklärt sich bereit, sich mit ihm zu treffen, und als sie nicht mitspielt, verliert er die Beherrschung.« Sie zuckt die Achseln. »Klingt plausibel, finde ich. Sie haben nur keine Beweise dafür.«

»Wie sollen sie ihm das jemals nachweisen?«

»Mittels Spuren, vermute ich. Also müssen wir wieder abwarten, stimmt’s? Versprich mir, Kate, denn ich weiß genau, dass du auf kurz oder lang wieder in diese Gärtnerei fährst, dass du dich diesmal von ihm fernhältst, okay? Kaffee?« Sie durchsucht die Spülmaschine. »Sobald ich zwei Becher finde …«

Während sie mit dem Geschirr herumklappert, blicke ich zufällig zu dem angeschalteten kleinen Küchenfernseher hinüber und bin verblüfft, als ich ein bekanntes Gesicht entdecke.

»Rachael! Schnell! Sieh nur!«

Sie hält inne und dreht sich um, und ich stelle den Ton lauter. Diesmal ist es kein Appell wegen seiner verschwundenen Tochter, sondern eine sachliche, trotzdem zutiefst aufrüttelnde Schilderung darüber, wie man in einem Kriegsgebiet überlebt.

Ungläubig lausche ich seiner Stimme. Weder sein Tonfall noch seine Miene lassen auch nur ansatzweise ahnen, welchen tragischen Verlust er vor kurzem erlitten hat.

»Wahnsinn«, sagt Rachael, als er endet. »Wenn man ihn so sieht, würde man nie im Leben darauf kommen, oder?«

Allmählich merke ich wieder, wie tröstlich normale Alltagsdinge sein können – ein schönes Buch lesen, eine Fernsehsendung ansehen, bei der Angus sofort wegschalten würde, meinen Schreibtisch aufräumen. Und Zeit für all diese Dinge zu haben, ohne ständig auf die Uhr schauen und schon die nächste Mahlzeit planen zu müssen, fühlt sich wie ein Geschenk an. Als es regnet, mache ich mich an den Frühjahrsputz, und als die Sonne wieder zum Vorschein kommt, ziehe ich mir die Gummistiefel an und stürze mich auf den Gemüsegarten, jäte Unkraut und verteile Kompost auf den Beeten, um das Erdreich auf die ersten Pflanzen vorzubereiten. Gleichzeitig muss ich mich um meine Kunden und deren Gärten und die Pferde kümmern. Und so geht das Leben seinen Gang.

An einem Samstag laufe ich Laura auf dem Wochenmarkt in die Arme. Sie hat die Feiertage zu Hause in New York verbracht, ist aber vor ein paar Tagen zurückgekehrt, um weiter an Rosies Fall zu arbeiten, obwohl die Beweislage auch nach fast fünf Monaten immer noch dünn und die Fortschritte, zumindest auf den ersten Blick, reichlich überschaubar sind.

»Ob Rachael wohl etwas dagegen hat, wenn ich ein paar Blumen pflanze, was meinst du?«, fragt sie und beäugt die Töpfe mit den knospenden Narzissen und Hyazinthen.

»Die Zwiebeln sind schon gepflanzt«, antworte ich, weil ich weiß, dass Rachael links und rechts von der Haustür welche gesetzt hat, die bereits austreiben. »Aber wir haben erst Ende Januar. Warte noch einen Monat, dann bekommst du deine Blumen.«

Falls der Mörder bis dahin immer noch auf freiem Fuß und sie noch hier ist.

Wir schlendern zum Parkplatz. »Ich denke die ganze Zeit, dass es doch irgendwo einen Beweis geben muss. Jemand muss etwas wissen und schweigt einfach«, sagt sie seufzend.

»Du glaubst immer noch, dass es Alex war, stimmt’s?«

Laura nickt. »Du musst zugeben, dass einiges darauf hindeutet.«

Ich runzle die Stirn. »Aber falls er es war, muss es jemand mitbekommen haben, und dann würde er es der Polizei sagen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das Opfer ein unschuldiger Teenager war.«

»Glaub mir, Kate, es gibt massenhaft Leute, die den Mund nie im Leben aufmachen würden. Stell dir nur mal vor, Angus hätte etwas Schreckliches getan, und du wärst die Einzige, die darüber Bescheid weiß.«

Ich starre sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Tut mir leid, aber das ist völlig ausgeschlossen. Nicht Angus.«

»Okay, er ist vielleicht kein gutes Beispiel.« Sie zögert. »Fest steht allerdings, dass Menschen, die über einen langen Zeitraum Gewalt ausgesetzt waren, irgendwann die Sensibilität dafür verlieren. Das Schockierende wird im Lauf der Zeit weniger schockierend. Und natürlich findet man immer Ausreden, wenn man nur will. ›Er kann nichts dafür, sein Onkel hat ihn als Kind missbraucht‹ oder ›Ihre Mutter hat sie regelmäßig halb zu Tode geprügelt und dann eingesperrt‹.«

Ich erschaudere.

»Du würdest dich wundern«, fährt Laura fort, »womit die Leute sich arrangieren. Das Problem ist, dass es für viele, vor allem für die besonders Wehrlosen, leichter ist, alles so zu lassen, wie es ist, auch wenn sie noch so brutal behandelt werden, als etwas zu ändern oder einfach zu gehen, so wie du und ich es tun würden. Am Ende ist es immer nur eine Frage des kleineren Übels.«

»Aber die wahrscheinlichste Erklärung ist doch wohl, dass Rosie von einem Wildfremden angegriffen und getötet wurde.«

»Möglich«, sagt Laura nachdenklich. »Trotzdem bleibt die Frage, weshalb sie so weit vom Weg entfernt getötet wurde, und man hat keine Kampfspuren gefunden.«

Das kann nur eines bedeuten.

Diesen Punkt habe ich bislang nie ernsthaft in Betracht gezogen, und allein die Vorstellung jagt mir einen Schauder über den Rücken. Wenn Laura recht hat, muss Rosie ihren Mörder gekannt haben. Womit wir wieder am Anfang wären.

Bei Alex.

»Laura hat heute etwas erwähnt, das mir zu denken gibt«, sagte ich zu Angus, als wir nach dem Abendessen bei einer Flasche Wein vor dem Kamin sitzen. »Rosie wurde ja ein Stück vom Weg entfernt gefunden, und sie glaubt, dass sie ihren Mörder gekannt haben muss.«

»Bestimmt ist die Polizei dran.« Angus lässt sich aufs Sofa fallen, schlüpft aus den Schuhen und legt die Beine auf den Couchtisch. »Wie mir dieses Kaminfeuer gefehlt hat.«

»Mmm.« Trotzdem geht mir der Gedanke nicht mehr aus dem Kopf, dass Rosie ihren Mörder gekannt haben könnte. All das deutet mehr und mehr auf Alex als Täter hin.

»Ich habe ganz vergessen zu erzählen, dass wir jetzt, wo Ally und Nick auch da sind, gemeinsam eine Wohnung beziehen«, sagt Angus.

»Wie bitte?« Ich stutze.

»Ich werde mir mit Ally und Nick eine riesige Luxuswohnung teilen.«

»Teilen?«, wiederhole ich, während ich in mich hineinhorche und herauszufinden versuche, welches Gefühl seine Ankündigung in mir auslöst.

Er nickt. »Die Wohnung ist riesig. Sie würde dir gefallen. Toller Ausblick auf die Stadt.«

»Klingt gut«, sage ich, obwohl ich das ganz und gar nicht finde. Ally ist jung und weltgewandt und sehr ehrgeizig. Dagegen gibt es grundsätzlich nichts einzuwenden, nur habe ich mitbekommen, wie sie Angus ansieht und sich in seiner Gegenwart gibt. Und auch wenn er es vermutlich noch nicht einmal bemerkt hat, traue ich ihr nicht über den Weg.

»Ich kann es kaum erwarten, bis du mich endlich besuchen kommst«, fügt er gutgelaunt hinzu.

Laura bittet mich, weiter die Ohren offenzuhalten. Aber als ich Alex das nächste Mal beim Einkaufen in der Gärtnerei sehe, bleibe ich auf Abstand. Es ärgert mich, dass er bei der Arbeit ist, obwohl er doch nach wie vor als Verdächtiger gilt, und wechsle kein Wort mit ihm. Wenn ich ganz ehrlich sein soll, ist sogar er derjenige, der mir aus dem Weg geht.

Als Nächstes besuche ich Jo.

Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass das neue Jahr angefangen und sie das Weihnachtsfest überstanden hat, oder an den übermenschlichen Kräften, die in ihr zu schlummern scheinen, jedenfalls wirkt sie gelassener, so als hätte sie eine Seite umgeschlagen und ein neues Lebenskapitel begonnen.

»Ich muss mehr aus mir machen«, erklärt sie. »Ich sollte mein Potenzial nicht einfach verkümmern lassen, oder? Deshalb habe ich mich zu einem Kurs angemeldet.«

Ja, sie hat völlig recht, und ihr Leben zu vergeuden macht Rosie auch nicht wieder lebendig. Das Leben ist viel zu kurz und unvorhersehbar. Trotzdem finde ich es zu früh, schließlich läuft ihr Mörder immer noch frei herum. Ich hoffe nur, dass Jo sich nicht zu schnell zu viel zumutet.

»Das ist toll, Jo, ehrlich. Hast du schon etwas Konkretes im Auge?«

Bekümmert schaut sie mich an. »Ja, ich habe mich für einen IT-Kurs eingeschrieben. Sieh mich nicht so an! Ich rede nur ungern darüber, weil es beschämend ist, aber ich stehe mit Computern auf Kriegsfuß. Abgesehen von ein paar Schreibarbeiten für Neal hatte ich nie damit zu tun. Es ist ein Vollzeitkurs mit Unterbringung. Er dauert eine ganze Woche und kann um eine Woche verlängert werden. Den Rest lerne ich dann von zu Hause aus. Was denkst du?«

Ich denke an Delphine, die schon wieder ohne ihre Mutter auskommen muss.

Sie spürt, dass ich zögere. »Ich weiß, was du denkst. Natürlich hätte ich auch einen Kurs in der Nähe aussuchen können, aber ich … ich brauche das einfach, Kate. Einen Tapetenwechsel. Zur Abwechslung mal an etwas völlig anderes denken.«

Um Verständnis heischend blickt sie mich an.

»Klingt doch perfekt.« Ich schiebe meine Befürchtungen beiseite, weil ich einsehe, dass sie keine andere Wahl hat. »Und wenn du dann Expertin bist, kannst du mir etwas beibringen!«

Ein Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht, das jedoch nach ein paar Momenten verblasst und der gewohnten tiefen, niederschmetternden Traurigkeit weicht.

»Du kannst ruhig ehrlich sein, Kate. Findest du es schlimm, dass ich das tue? Jetzt? So kurz nach …« Ihre Stimme versagt.

»Jo, natürlich nicht …« Ich berühre ihren Arm. »Außerdem steht es weder mir noch sonst jemandem zu, dir zu sagen, was richtig ist. Und selbst wenn es nur dazu dient, dass du eine Zeit lang an etwas anderes denkst, ist es völlig in Ordnung.«

»Es ist so schwer, eine Entscheidung zu treffen«, erwidert sie leise. »Jeder sagt einem, was man zu tun und zu lassen hat, bis man am liebsten nur noch laut schreien würde. Und wenn ich noch länger in diesem Haus bleibe, werde ich irgendwann verrückt.« Ein Anflug von Panik schwingt in ihrer Stimme mit. »Ich kämpfe, Kate. Dieser Kurs hilft mir, eine weitere grauenvolle Woche zu überstehen und auf andere Gedanken zu kommen. Es mag noch zu früh sein, aber ich muss es trotzdem versuchen.«

Sie holt tief Luft, und ich spüre, wie sich mein Herz zusammenzieht.

»Sag mir einfach, wenn ich dir helfen soll. Brauchst du Unterstützung bei Delphine? Oder sonst bei etwas … Das tust du doch, oder?«

»Danke, Kate«, antwortet sie, »aber wir kriegen das hin. Neal nimmt sich eine kleine Auszeit.« Einen Moment lang wirkt sie verängstigt. »Es wird auch allmählich Zeit. Er braucht eine Pause … nach, du weißt schon, allem …«

»Ich bin froh, Jo. Vielleicht tut es euch gut. Und sag ihm Bescheid, ja? Wegen nächster Woche? Er braucht nur zu fragen …«

Ich bin so mit meiner Arbeit beschäftigt, dass ich Jo und mein Angebot völlig vergesse, bis Neal eines Vormittags an der Hintertür steht. Ich spreche gerade mit einer neuen Kundin am Telefon, der ich behutsam beizubringen versuche, was das Beste für ihren Garten wäre. Ich bedeute ihm, hereinzukommen.

»Zwei Minuten«, forme ich lautlos mit den Lippen und kritzle weiter, während er mit vor der Brust gekreuzten Armen am Fenster steht.

»Entschuldige«, sage ich, als ich aufgelegt habe. »Das war eine Kundin, die ich schon seit Tagen an die Strippe zu bekommen versucht habe. Wie geht es dir?«

»Gut. Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so beschäftigt bist. Es ist nichts Dringendes, ich kann auch wieder …«

»Nein! Trink doch einen Kaffee mit mir. Ist alles in Ordnung?« Ich setze den Kessel auf und hole Tassen aus dem Schrank, während ich die ganze Zeit Neals bohrenden Blick in meinen Rücken spüre.

Ich höre, wie er einen Stuhl heranzieht und sich setzt. »Danke, ich laviere mich so durch, könnte man sagen.«

»Milch und Zucker?«

»Nur Milch. Ich bin nicht sicher, ob meine Wohltätigkeitsarbeit tatsächlich so eine gute Idee ist.« Er klingt nicht gerade begeistert.

»Meinst du das Waisenhaus?«

»Ich trete gerade ein bisschen kürzer.« Er hält inne. »Ich weiß nicht, was sie dir erzählt hat, Kate, aber im Moment kann ich Joanna kaum noch allein lassen.«

Ich sauge scharf den Atem ein. »Ich dachte, es ginge ihr besser. Vor allem jetzt, wo sie den Kurs macht.«

»Meinst du? Ich weiß nicht recht. Vielleicht stimmt es ja, trotzdem finde ich das Timing nicht besonders passend. Wir müssen doch auch an Delphine denken.«

»Ich dachte, es würde ihr helfen, wenn du zu Hause bist.«

Er sieht mich mit zusammengekniffenen Augen an – es ist ein sehr direkter Blick, der mich aus irgendeinem Grund verunsichert. »Wahrscheinlich hältst du mich für altmodisch, aber ich habe hunderte Waisen gesehen, Kate, die die schlimmsten Gräuel erlebt haben. Ihre Häuser wurden zerstört, ihre Herzen gebrochen, ihre Familien ausgelöscht. Egal, ob sie drei, neun oder fünfzehn Jahre alt sind. Es spielt keine Rolle, weil sie absolut nichts mehr haben. Du solltest sie hören, Kate. Sie rufen nach ihren Müttern. Immer nur nach ihren Müttern.«

Er senkt den Blick. »Aber du hast recht, was Delphine angeht. Es ist nicht dasselbe.«

»Ich finde es unglaublich, was du vollbringst, Neal.« Ich, die so gut wie keinen Fuß aus ihrer eigenen, sehr kleinen Welt setzt, bin zutiefst beeindruckt, wie selbstlos er sich dem Krieg und der Armut entgegenstellt und dabei sein eigenes Leben im Interesse der Menschheit aufs Spiel setzt.

»Eigentlich sollte ich viel mehr tun«, sagt er. »Ganz ehrlich – wenn Joanna und Delphine nicht wären, würde ich sofort gehen und diesem Projekt mein Leben widmen.«

Er klingt, als würde er es ernst meinen, jedes einzelne Wort. Ich stelle die Becher auf den Tisch und setze mich.

»Danke«, sagt er. »Außerdem bin ich ein miserabler Koch.«

»Wieso kommt ihr beide nicht zum Abendessen rüber? Ich koche neuerdings sowieso nur für mich allein, zumindest während der Woche.«

»So?«

»Ja, Angus arbeitet zur Zeit in York. Von Montag bis Freitag. Deshalb seid ihr beide mir mehr als willkommen.«

Forschend sieht er mich an. »Und er hätte nichts dagegen?«

»Angus?«, frage ich ungläubig, als ich begreife, was er damit andeutet – dass ich ihn soeben zum Abendessen eingeladen habe, obwohl mein Ehemann nicht zu Hause ist. »Natürlich nicht.«

Neal schenkt mir sein typisch strahlendes, herzliches Lächeln. »Wenn das so ist, danke. Darüber würden wir uns beide freuen.«

Der Einfachheit halber gare ich ein Hühnchen im Ofen, mit Kartoffeln und Kräutern aus dem Garten, und gebe für die letzte Stunde noch Gemüse dazu. Dann schenke ich mir ein Glas Wein ein, räume die Küche auf und decke den Tisch für drei. Ich habe mich nicht extra in Schale geworfen, sondern lediglich frisch gewaschene Jeans angezogen, einen Hauch Make-up aufgelegt und mir Parfum hinters Ohr getupft, weil es ja nur ein kleines Abendessen für Freunde in meiner Küche ist.

Als ich die Tür aufmache, stelle ich erstaunt fest, dass Neal allein gekommen ist.

»Delphine ist beschäftigt«, sagt er. »Das habe ich völlig vergessen. Aber wir können es auch gern verschieben, wenn dir das lieber ist. Ich würde es verstehen.«

»Natürlich nicht, komm rein. Ich habe schon alles fertig«, rufe ich eine Spur zu enthusiastisch, um zu kaschieren, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Offen gestanden fühle ich mich ein bisschen überrumpelt, dass wir nur zu zweit sind. Ich kann zwar nicht genau sagen, weshalb, aber für mein Empfinden fühlt sich das Ganze eine Spur zu intim an. Mit einem Mal bin ich mir auch nicht mehr sicher, was Angus dazu sagen würde, oder Jo. Doch dann gewinnt meine gewohnte Vernunft die Oberhand. Du liebe Güte, ist doch bloß ein Abendessen. Außerdem ist Angus nach York gegangen, oder? Und ich weiß zufällig, dass auch er nicht jeden Tag allein zu Abend isst.

»Cool. Dann mache ich die hier mal auf.« Er holt eine Flasche Wein heraus. »Du magst doch roten, oder?«

»Rot ist prima, danke.«

Während ich in der Schublade nach einem Korkenzieher krame, breitet sich eine verlegene Stille aus. War es naiv von mir, ihn einzuladen? Aber das habe ich doch gar nicht getan, sage ich mir, die Einladung galt ja für ihn und seine Tochter.

»Und was macht Delphine?«, frage ich.

»Sie ist bei einer Freundin«, antwortet er knapp. »Ich kenne allerdings ihren Namen nicht. Da ich so selten zu Hause bin, habe ich all diese Dinge immer Jo überlassen.«

»Du bist genauso schlimm wie Angus.« Ich nehme ihm das Glas aus der Hand, das er mir hinhält.

Seine Augen funkeln. »Wir Männer, was? Ich weiß, wir sind alle gleich. Prost.« Er stößt mit mir an.

»Prost. Na ja, eigentlich seid ihr gar nicht so übel«, erwidere ich leichthin und trinke eilig einen großen Schluck. Seine Gegenwart bringt mich leicht aus dem Konzept. »Wollen wir essen?«

»Gute Idee. Es riecht übrigens fantastisch. Du würdest lieber nicht sehen wollen, was ich in der Küche so fabriziere. Und du musst mir alles von deiner Tochter erzählen.«

»Grace? Ach, der geht’s gut. Sie ist ganz begeistert von ihrem Studium. Natürlich vermisse ich sie sehr …« Ich gebe eine Portion Hühnchen auf Neals Teller.

»Ist schon okay« sagt er leise. »Ich habe gefragt, und es ist nichts Schlimmes daran, über sie zu sprechen. Sie ist deine Tochter. Du solltest von ihr erzählen.«

»Du weißt, wieso ich es vermeide?« Ich frage mich, wieso ich ihm all das sagen kann, Jo dagegen nicht. »Allein wenn ich nur ihren Namen erwähne, habe ich ein schlechtes Gewissen.«

Er schüttelt den Kopf. »Das brauchst du nicht«, sagt er sanft. »Es ist doch nicht deine Schuld, dass Rosanna gestorben ist. Genauso wenig wie unsere. Und das Leben geht weiter. Das muss es, Kate. Ich muss daran glauben. Es ist das Einzige, das mich aufrecht hält.«

»Die Ungewissheit muss dich doch in den Wahnsinn treiben«, sage ich leise.

Es dauert einen Moment, ehe er antwortet. »Ja.«

Wir essen schweigend. Als ich ihn über den Tisch hinweg anblicke, spüre ich eine Art Verbindung, empfinde echtes Mitgefühl für ihn, weil er so tapfer ist. Er hat niemanden, der ihn unterstützt.

Als hätte er meine Gedanken gelesen, legt er sein Besteck beiseite. Mein Herz beginnt zu hämmern. Mit einem Mal berühren sich unsere Hände.

»Wie machst du das?«

»Was? Deine Hand berühren? Ganz einfach, Kate. Ich strecke meine Hand aus und lege sie auf deine und …«

Sein Tonfall ist unbeschwert, seine Stimme hypnotisch, seine kräftigen und warmen Finger umschließen meine. Wie kann sich eine Berührung so anfühlen?

Was tue ich hier eigentlich?

»Das hatte ich nicht beabsichtigt.« Ich will meine Hand wegziehen, doch es ist, als würde eine unsichtbare Kraft es verhindern. Meine Fingerspitzen kribbeln, mein Puls rast, und in meinem Magen flattert es. Ich versuche, mich zu konzentrieren, die Signale zu ignorieren. »Zu überleben und stark zu bleiben, nach allem, was passiert ist, meine ich.«

Er seufzt. »Oh, das. Manchmal, Kate, hat man einfach keine andere Wahl.«

Als ich nicht auf seine neckische Bemerkung reagiere, macht er dicht. Er löst seine Hand von meiner, steht auf und bietet mir an, beim Aufräumen zu helfen. Dann sieht er auf seine Uhr.

»Danke, aber das schaffe ich schon«, sage ich. »Das ist kaum der Rede wert.«

Sein Blick schweift durch die Küche, und ein paar Sekunden lang betrachte ich sie aus seiner Perspektive – klein und unaufgeräumt statt makellos sauber, Holz anstelle von schimmerndem Chrom. Im Spülbecken stapelt sich das schmutzige Geschirr, auf der Arbeitsplatte liegen noch die Zutaten herum. Doch dann rufe ich mich zur Ordnung. Dies ist mein Zuhause, und ich liebe jeden unaufgeräumten Zentimeter davon.

»Es war ein sehr schönes Essen«, sagt er.

»Entschuldige, ich hätte ein Dessert vorbereiten sollen, aber wenn du möchtest, kann ich gern Kaffee machen«, sage ich, wenn auch halbherzig.

Wieder breitet sich Stille aus, erfüllt von unausgesprochenen Worten. »Es ist wohl das Beste, wenn ich jetzt gehe«, sagt er. »Danke für den Abend, Kate.«

Er tritt einen Schritt auf mich zu, und ich spüre, wie mein verräterisches Herz kurz aussetzt.

»Ach, nicht der Rede wert. Das habe ich gern getan.«

Ich sage nicht: »Das müssen wir dringend bald wiederholen«, denn die körperliche Anziehung, die er auf mich ausübt, ist zu stark, als dass ich auch nur einen Ton herauszubringe. Und bevor ich ihn daran hindern kann, beugt er sich vor und legt die Lippen auf meinen Mund.

Mein Tod ist dein
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