3

Zappa ist unverletzt, ich dagegen sehe ziemlich ramponiert aus. Mein Gesicht ist zerschrammt, und als Angus abends nach Hause kommt, habe ich bereits ein hübsches Veilchen. Er starrt mich entsetzt an.

»Du lieber Gott, Kate, was ist denn passiert?«

»Zappa hat Angst vor dem Gewitter bekommen. Er ist einfach stehen geblieben, und ich bin runtergefallen.«

Ich beschließe, ihm lieber nichts von meiner Ohnmacht zu erzählen. Selbst nach vierundzwanzig Jahren Ehe hält Angus Pferde noch für gefährlich. Auch die unheimliche Gewissheit, dass Rosie hier, in unmittelbarer Umgebung, etwas Schreckliches zugestoßen ist, unterschlage ich vorsichtshalber.

Nach dem Sturz habe ich mich aufgerappelt und umgesehen – ich befand mich auf einer kleinen Lichtung, umgeben von uralten Buchen.

Ein Schnauben ließ mich zusammenzucken. Zappa stand, sichtlich belämmert, mit herabhängenden Zügeln direkt vor mir. Langsam kam er auf mich zu, noch immer in Alarmbereitschaft, wie mir seine geblähten Nüstern verrieten.

»Hey, mein Junge.« Ich griff nach den Zügeln. »Alles in Ordnung.« Beruhigend tätschelte ich ihm den Hals, dann traten wir vorsichtig den Heimweg an.

»Du siehst katastrophal aus«, sagt Angus.

»Danke. Immer ein nettes Kompliment auf den Lippen«, gebe ich zurück.

»So habe ich es nicht gemeint, Kate.« Behutsam streicht er über die Schwellung auf meiner Wange. Allein diese Berührung lässt mich vor Schmerz zusammenzucken.

Stirnrunzelnd lässt er die Hand sinken. »Bist du sicher, dass es keine Gehirnerschütterung ist?«

»Mir geht’s gut, Angus. Es sieht schlimmer aus, als es ist.«

»Vielleicht solltest du sicherheitshalber zum Arzt gehen.«

Ich schüttle den Kopf. Mir reicht’s für heute. Außerdem gibt es nichts Schlimmeres, als stundenlang in der Notaufnahme herumzuhocken.

»Ehrlich. Es ist alles in Ordnung.« Ich ringe mir ein Lächeln ab, ehe mir wieder einfällt, was mir unmittelbar vor dem Sturz durch den Kopf ging. Und dann dämmert es mir.

»O Gott, du weißt es ja noch gar nicht.«

»Grace hat wahrscheinlich recht«, sagt er, als ich geendet habe. »Teenager stellen die wildesten Sachen an, selbst die ganz braven. Und Rosie wusste vermutlich, dass ihre Mutter nicht gewollt hätte, dass sie zu Poppy geht.«

»Ich weiß«, seufze ich.

Ich will ihm so gern glauben. Normalerweise würde ich ihm zustimmen und keinen weiteren Gedanken daran verschwenden, sondern abwarten, bis Jo anruft und sagt, Rosie sei gerade nach Hause gekommen. Aber nach allem, was vorhin passiert ist, werde ich dieses Gefühl nicht los, dass ihr etwas zugestoßen ist, auch wenn es noch so unlogisch sein mag.

Wir essen im Haus zu Abend. In der Ferne grollt Donner, und in der Luft liegt eine Spannung, heraufbeschworen von den Gewittern, die sich heute noch entladen werden, aber auch von den Gerüchten, die im Dorf bereits die Runde machen. Grace ist mit ihren Freunden unterwegs. Offensichtlich rücken auch sie enger zusammen und halten auf ihre eigene Weise Wache, während sie auf Neuigkeiten von Rosie warten.

»Du bist mit den Gedanken ganz woanders«, bemerkt Angus. »Hör auf, dir Sorgen zu machen, Kate. Bestimmt geht es ihr gut.«

»Ich weiß«, sage ich und lege das Besteck beiseite. »Aber was, wenn nicht? Entschuldige, aber ich mache mir große Sorgen. Bei Sophie könnte ich mir das ja noch eher vorstellen, aber …« Grace’ Freundin Sophie ist ein rebellischer Freigeist mit einem ausgeprägten Unabhängigkeitsdrang, den meine Tochter beneidenswert und zugleich absolut nervtötend findet (eher Ersteres). Die beiden sind ein Herz und eine Seele. »Aber nicht Rosie. So etwas würde sie nie tun.«

Ich blicke auf den gedünsteten Lachs und die Salatblätter auf meinem Teller und wünsche inbrünstig, ich wüsste, wo sie steckt.

Auch am nächsten Tag gibt es nichts Neues, und wir müssen weiter warten. Die Mehrzahl der vermissten Teenager taucht wieder auf und ist in aller Regel unversehrt.

Aber was ist mit denjenigen, die sich mit jeder Sekunde immer weiter entfernen, wobei die Spuren verwischen und die Erinnerungen verblassen, bis keiner mehr sagen kann, wo sie abgeblieben sind?

Die schlimmsten Szenarien kommen mir in den Sinn – Entführung, Vergewaltigung, Menschenhandel und noch Schlimmeres, bis ich das Alleinsein nicht länger aushalte und zu Rachael fahre.

Sie lädt gerade ihre Einkäufe aus dem Pick-up, mit dem sie auch den Schulfahrdienst übernimmt und der Alan die restliche Zeit als Transportmittel für die Farm dient.

»Tiere, kleine Jungs … ist im Grunde doch sowieso dasselbe«, sagt sie immer. Rachael und Alan haben rund tausend Schafe und vier Söhne.

»Hier. Für euch.« Ich reiche ihr einen Kopfsalat und eine Tüte voll Kartoffeln, an denen noch die Erde klebt.

»O Gott, ich wünschte, du hättest das nicht getan. Jetzt fängt Alan bloß wieder mit dem Garten an, dabei habe ich absolut keine Zeit.«

Ich kenne Rachael zu lange, um ihre Unverblümtheit persönlich zu nehmen. Sie war die Erste, mit der ich mich angefreundet habe, als Angus und ich vor zwanzig Jahren hergezogen sind. Außerdem hat sie sämtliche ländlichen Traditionen eiskalt über den Haufen geworfen – erstens wollte sie Alan nicht heiraten, zweitens weigerte sie sich, ihren Job in der Stadt aufzugeben, auch wenn sie inzwischen meistens von zu Hause aus arbeitet.

»Das ist mir klar, und genau deshalb habe ich es ja getan. Ich wasche sie für dich ab, und Alan wird nie davon erfahren.« Ich schnappe mir einige ihrer Einkaufstaschen.

»Du bist ein Engel. Und setz Wasser auf, ja? Ich brauche dringend einen Kaffee.«

Ich folge ihr durch die kläffende Meute Drahthaarterrier, die uns freudig begrüßen, ins Haus. »Hast du’s schon gehört? Das von Rosie Anderson?«

»Was soll mit ihr sein?« Rachaels Stimme hallt durch das weitläufige, kühle Farmhaus.

»Sie wird vermisst.«

»Ach, bestimmt ist sie mit einem Jungen losgezogen oder feiert irgendwo«, ruft Rachael. »Ich hab das auch mal gemacht. Drei Tage am Stück. Ich glaube, ich habe es mit diesem Typen getrieben, auf den ich damals so stand. O Gott, nicht zu fassen! Meine arme Mutter, hat nie ein Wort darüber verloren. Aber vielleicht war sie ja auch froh, weil sie dachte, sie wäre mich endlich los.«

»Jo ist völlig außer sich vor Sorge. Rosie ist nicht wie die anderen Mädchen.«

»Die Stillen sind oft die Allerschlimmsten. Aber im Ernst, ich halte die Augen offen.« Als Rachael die Küche betritt, drücke ich ihr einen Becher Kaffee in die Hand. »Um halb habe ich eine Telefonkonferenz.« Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. Es ist schon zwanzig nach. »Du meine Güte, wo ist der Vormittag bloß geblieben? Wie geht’s denn der süßen Grace? Genießt sie den Sommer? Du hast ja keine Ahnung, wie froh du sein kannst, eine Tochter zu haben. In diesem Haus dringt das Testosteron förmlich aus sämtlichen Ritzen.«

Das ist typisch für Rachael – einem eine ganze Fragensalve an den Kopf zu werfen, die jedoch nicht zwangsläufig beantwortet werden muss. Bevor ich Luft holen kann, läutet ihr Telefon.

»Mist, er ist echt früh dran. Ich muss rangehen, Kate, entschuldige. Aber sag Bescheid, wenn du etwas hörst.«

Begleitet von Rachaels forscher Stimme verlasse ich das Haus. Bin ich eigentlich die Einzige?, frage ich mich.

Abgesehen von Jo scheint sich keiner Sorgen um Rosie zu machen.

Ich finde Grace und Sophie in der Küche, wo die beiden systematisch zuerst den Kühlschrank und dann die Vorratskammer durchforsten, ehe sie sich über die Obstschale hermachen. Zero-Carb anstelle des gewohnten Low-Carb ist Grace’ neuester Diätfimmel, was wie üblich auf kurz oder lang in einer regelrechten Kohlehydrat-Orgie enden wird.

»Hallo Mädels. Habt ihr etwas gehört?«

Grace beißt in ihren Apfel und schüttelt den Kopf. »Nein, keiner. Echt seltsam.«

»Könntest du vielleicht mal mit Poppy reden?« Ich weiß, dass die beiden eigentlich nicht befreundet sind, aber lässt so ein Ereignis die Menschen nicht automatisch enger zusammenrücken? »Vielleicht weiß sie ja etwas. Ich überlege die ganze Zeit … Wisst ihr, ob Rosie einen Freund hat?«

Auch wenn Jo meine Frage verneint hat, bin ich nicht hundertprozentig überzeugt. Schließlich haben alle Teenager ihre Geheimnisse.

Grace schaut in den Kühlschrank. »Kann schon sein, aber das wird Poppy mir garantiert nicht auf die Nase binden. Mir am allerwenigsten. Und ich verstehe auch nicht, wieso die Polizei nicht nach ihr sucht. Ich meine, es könnte ihr doch etwas zugestoßen sein, oder?«

»Bestimmt tun sie das inzwischen«, versuche ich mich und Grace zu beruhigen, doch stattdessen verstärkt sich mein mulmiges Gefühl, als mir aufgeht, dass auch sie das Undenkbare nicht länger ausschließt.

Erst als ich es nicht länger aushalte, rufe ich Jo an, obwohl es schon ziemlich spät ist.

»Hallo?« Sie klingt atemlos, als wäre sie die Treppe heraufgelaufen, und die Verzweiflung in ihrer Stimme lässt mich erahnen, dass es immer noch keine Neuigkeiten gibt.

»Entschuldige, Jo, ich bin’s nur, Kate. Ich will dich gar nicht stören, sondern nur fragen, ob es etwas Neues gibt.«

»Kate … Nein … Jedes Mal, wenn das Telefon läutet, denke ich …«, stammelt sie. »Ich mache mir solche Sorgen. Ich kann jetzt nicht reden. Die Polizei ist gerade gekommen.«

»Natürlich.« Mein Magen zieht sich zusammen. »Geh nur. Wir sprechen uns bald.«

Obwohl ich weiß, dass die Polizei eingeschaltet werden muss und nichts unversucht gelassen wird, ist mir eiskalt.

»Wir gehen eine Weile raus, Mum.« Grace erscheint, in Shorts und einem Beatles-Shirt, mit Sophie im Schlepptau in der Tür, die es mit ihren langen Armen und Beinen schafft, sogar noch spärlicher bekleidet zu sein.

»Wohin geht ihr?«

»Nur zu Josh rüber«, antworten sie wie aus einem Munde.

Josh ist einer ihrer Schulkameraden, dessen Eltern eine erstaunliche Nachsicht an den Tag legen und erlauben, dass sich die Teenies regelmäßig in ihrem Sommerhaus im Garten – eigentlich Joshs Hobbyraum – breitmachen.

»Aber seid vorsichtig, verstanden? Und fragt alle nach Rosie, okay?«

Am liebsten wäre mir, sie würde hierbleiben, und ich könnte jeden ihrer Schritte überwachen, bis wir Genaueres wissen, aber ich beherrsche mich.

»Mum, natürlich sind wir vorsichtig. Wir sind ja bloß um die Ecke.« Sie wechselt einen einvernehmlichen Blick mit Sophie. »Keine Sorge, Kate«, sagt Sophie und umarmt mich. »Wir kommen schon klar und sorgen dafür, dass alle die Augen offen halten.«

Ich schaue ihnen hinterher, als sie zu Grace’ Wagen gehen, mit ihren glänzenden langen Haaren und ihren langen Beinen. Lausche ihrem Lachen, als Sophie etwas sagt, erfüllt von jenem unerschütterlichen Glauben, wie ihn nur Teenager besitzen.

Der festen Überzeugung, dass ihnen nichts Schlimmes passieren kann.

»Reine Routine«, sagt mein pragmatischer Ehemann, als ich ihm erzähle, dass die Polizei bei den Andersons ist. »Das ist ihr Job, Kate. So einem Vorfall müssen die nachgehen.«

»Das weiß ich. Aber es bedeutet, dass Rosie immer noch verschwunden ist, richtig?«

»Na ja, vielleicht kommt ja jetzt ein bisschen Schwung in die Suche nach ihr. Ich hab Hunger. Was gibt’s zum Abendessen?«

»Salat.« Essen ist so ziemlich das Letzte, was mich im Moment interessiert.

»Schon wieder?« Angus verzieht das Gesicht. »Ich hatte kein Mittagessen, Kate.« Enttäuschung schwingt in seiner Stimme mit.

»Vielleicht Hühnchen. Ich sehe gleich nach, was noch im Kühlschrank ist. Eigentlich wollte ich einkaufen gehen, aber dann habe ich es vergessen.« Ich zögere. »Grace ist unterwegs. Ich mache mir Sorgen, Angus, jetzt, wo Rosie weg ist. Wir wissen doch nicht, was los ist, oder?«

Angus legt die Arme um mich und sieht mir tief in die Augen, als wolle er die Ängste und Zweifel verjagen, die mich klammheimlich beschlichen haben und mit einem Mal hinter jeder Ecke zu lauern scheinen.

»Du kannst gern versuchen, sie daran zu hindern«, sagt er leise. »Sie kommt schon zurecht. Und Rosie geht es bestimmt auch gut. Hör auf, dir Sorgen zu machen. Sicherlich ist sie schon bald wieder zu Hause.«

Mein Tod ist dein
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