Rosie
Ich werde zwei weitere Jahre vorwärtskatapultiert, sehe einen Wagen, größer und lauter, mit dem mein Vater viel zu schnell fährt. Ich hocke auf dem weichen, viel zu tiefen Rücksitz und spüre, wie mir schlecht wird, weil ich nicht hinaussehen kann. Mummy sagt, ihr sei auch die ganze Zeit übel, aber aus anderen Gründen.
Schließlich sind wir vor dem neuen Haus. Vater steht in der Einfahrt und betrachtet es, während ich zitternd neben einer Straßenlaterne warte. Dann tritt er einen Schritt nach hinten, während ein selbstzufriedener Ausdruck sich auf seinem Gesicht ausbreitet. Das Haus ist überhaupt nicht wie unser altes. Es ist groß und dunkel.
Als wir hineingehen, finden wir den Lichtschalter nicht. »Verdammt, Joanna, das ist alles nur deine Schuld«, sagt er.
Erst jetzt fällt mir auf, dass er sie Joanna nennt, nicht Jo, wie alle anderen. Ich warte, lausche ihren Schritten, die von den kahlen Wänden widerhallen, und wünsche mir, wir wären in unserem alten Zuhause. Aber als nach ein paar Tagen die Heizung läuft, die Möbel aufgestellt sind, die Lichter brennen, die Vorhänge an den Fenstern hängen und die Zimmer eine gewisse Ähnlichkeit mit unserem alten Haus haben und ich neue Spielsachen und meinen eigenen rosa Fernseher bekomme, beschließe ich, dass es mir hier doch gefällt.
An meinem ersten Tag in der neuen Schule türmen sich unheilvolle violette Gewitterwolken am Himmel. Ich stehe in einem viel zu großen Mantel und mit meiner Schultasche in der Hand da und folge den anderen Kindern über den Spielplatz, als der Hagelsturm einsetzt. Ich weiß noch, wie schmerzhaft die eiskalten Körner auf meinem Gesicht und den Händen brannten, erinnere mich an das Prasseln, als sie auf den Asphalt trafen. Ich bekomme nicht mit, wie meine Mutter zum Wagen rennt und das Lila am Himmel einem dunklen Stahlgrau weicht, weil ich kein einziges Mal den Kopf hebe.
Den ganzen Morgen bin ich nervös, blicke aus dem Fenster auf die Düsternis, die nur von einem Vorhang aus Hagelkörnern erhellt wird, und stelle mir vor, ich sei im grauen Nirgendwo gefangen, wo die Sonne niemals aufgeht. Dann, in der großen Pause, fragt mich ein Mädchen, ob ich mit ihr spielen will. Sie heißt Lucy Mayes. Kurz darauf kommt die Sonne heraus, und das Eis beginnt zu schmelzen. Lucy ist ein schlaues Mädchen, wohnt in einem hübschen Haus und spielt Geige – sie ist die perfekte Freundin, sagt Mummy.
Kurz vor Weihnachten – unser Haus schmückt ein wunderschöner, glitzernder Baum, unter dem sich die hübsch verpackten Geschenken türmen –, kommt Delphine zu uns, eine weitere perfekte Tochter in der wohlgeordneten Welt, die in Wahrheit gar nicht geordnet ist.
Ich betrachte meine Schwester, die genauso helles Haar hat wie ich und mich aus Augen anstarrt, in denen zahllose Geheimnisse zu liegen scheinen. Sie braucht mich. Sie ist ein echtes Geschenk.
Wenn wir allein sind, nenne ich sie Della – der Name fließt so schön über meine Zunge.
Als ich sie jetzt vor mir sehe, kommen all die Empfindungen wieder in mir hoch – dieselbe Aufregung, vermischt mit Glück und Dankbarkeit, weil Weihnachten ist und ich eine neue Schwester und eine perfekte Kindheit habe. Flüsternd erzähle ich Della von all den Dingen, die wir gemeinsam unternehmen werden, und dass ich ihre große Schwester bin. Mich immer um sie kümmern werde.
Die Blase des Glücks hält bis Heiligabend an. Mein Vater kommt sehr spät nach Hause und schreit Mummy an. In ihren Augen glitzern Tränen. Sie will nach oben gehen, um Della zu trösten, die weint, aber er reißt sie zurück und schließt die Tür zu Dellas Zimmer ab.
Ich breche in Tränen aus, und das Baby hinter der verschlossenen Tür schreit, weil ihr der Lärm Angst macht und sie geknuddelt werden will. Aber mein Vater brüllt Mummy an, und ich suche verzweifelt nach dem Schlüssel, kann ihn aber nirgendwo finden. Und während ich als Sechsjährige vor der verschlossenen Tür stehe und sie zu beruhigen versuche, schwebe ich nun über ihrer Wiege und flüstere ihr leise zu: »Es ist alles gut, Della, du bist nicht allein.«