Rosie
Ich weiß nicht genau, wieso, aber mit acht Jahren wünsche ich mir nichts sehnlicher als einen Hund. Ich kann nicht wissen, dass mein Herz danach lechzt, lieben zu dürfen und im Gegenzug geliebt zu werden, sondern weiß bloß, dass Lucy Mayes einen kleinen Spaniel hat, der steinalt ist und nicht mehr spielen will. Er sei todlangweilig und würde stinken, meint sie, aber sein Fell ist ganz weich, und er hat so einen warmherzigen Ausdruck in den Augen, wenn er mich ansieht. Als ich meinen Vater frage, sagt er, ich müsse noch warten, bis ich größer sei. Also nutze ich die Zeit und bringe so viel wie möglich über Hunde in Erfahrung: Wie man sie erzieht, was sie fressen und dass Schwanzwedeln unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Dann, kurz vor meinem Geburtstag, warte ich, bis Mummy auch da ist und Delphine oben schläft.
Mein Vater sitzt neben ihr auf dem nagelneuen Sofa, das Delphine und ich nicht benutzen dürfen. Ich warte, bis er Mummy von dem Einsatz erzählt hat, von dem er gerade erst zurückgekehrt ist. Er wurde angeschossen, und jemand hat ihr Hotel in die Luft gesprengt. Alle hätten fürchterliche Angst gehabt, und er könne von Glück sagen, dass er lebend aus dieser Hölle herausgekommen sei.
Es ist der perfekte Moment. Er hat überlebt. Eigentlich sollte er der glücklichste Mann auf der Welt sein. Mummy sieht ihn an und gibt ihm einen Kuss auf die Wange. Ich bin furchtbar nervös. Schlangen-im-Bauch nennt Lucy das immer, weil es sich anfühlt, als würden Schlangen sich in deinem Bauch winden.
Als ich meinen Vater endlich frage, sieht er mich verärgert an und antwortet: »Wenn du wirklich einen Hund willst, Rosanna, musst du warten, bis du zwölf bist.« Mummy legt ihm die Hand auf den Arm und sagt: »Ach, Neal, bitte. Ein Hund wäre doch schön für die beiden.«
Aber er zieht ärgerlich seinen Arm weg, erhebt sich und stellt sich mit dem Rücken zu uns. Niedergeschlagen schaut Mummy mich an und schüttelt kaum merklich den Kopf. Seine Wut ist wie eine Gewitterwolke, unheilvoll und düster hängt sie über uns. Wir wissen beide, dass die Sache damit vom Tisch ist. Mit einem Mal erscheint mir das Wohnzimmer kalt und schrecklich, ich bin umgeben von Menschen, mit denen ich nicht zusammen sein möchte. Aber ich kann nichts dagegen tun.
Wenn ich zwölf bin. Bis dahin ist es noch eine Ewigkeit.
Kurz danach bekomme ich überall trockene, schuppige Stellen auf der Haut, die fürchterlich jucken. Ein Ekzem, sagt der Arzt. Es liege in der Familie, meint meine Mutter. Aber merken sie denn nicht, was wirklich dahintersteckt?
Ich weiß es. Es ist kein Ekzem, sondern die Enttäuschung, ein Parasit in meinem Blut, schwimmt in meinem Körper herum und zerfrisst mich von innen. Sie nagt an mir, zuerst an meiner Haut, bis sie abgeht, und dann tiefer in meinem Innern, an meinem Glauben an andere Menschen.
Ein Jahr vergeht. Obwohl ich es nicht tun sollte, frage ich, weil ich die Vorstellung herrlich finde, einen kleinen Hund zu haben, den ich knuddeln, füttern und aufwachsen sehe. Ein winziger Hoffnungsschimmer. Doch die Antwort kenne ich bereits.
»Wie kannst du es wagen«, schnauzt mein Vater mich an. »Hast du etwa vergessen, was ich dir gesagt habe, Rosanna? Zwölf.«
Er zerstört meinen Hoffnungsschimmer, erstickt ihn, bis er erstirbt.
An meinem zwölften Geburtstag frage ich nicht. Aber in der Woche davor zwingt mein Vater mich, obwohl ich es eigentlich nicht will, mir Welpen anzuschauen, einen großen Wurf winselnder, zappelnder Hundebabys. Stärker denn je erwacht mein Wunsch, und ich weiß, dass ich ihn nie wieder um etwas bitten werde, wenn ich nur einen Welpen bekomme.
Sie sind alle wunderschön, und die Entscheidung fällt mir sehr schwer, aber am Ende treffe ich meine Wahl – ein kleines schwarzweißes Weibchen mit einem Stummelschwanz, der wie ein Radiergummi hin und her schnellt. Sie knabbert an meinem Kinn und bedeckt mein Gesicht mit schlabberigen Hundeküssen.
Auf die besten Dinge lohnt es sich zu warten, denke ich auf dem Heimweg, selbst wenn es vier Jahre dauert. Mein Vater hat Wort gehalten. Im Geiste stelle ich bereits eine Liste mit Namen zusammen, ehe ich zu dem Entschluss gelange, dass es nur einen gibt, der infrage kommt:
Hope.
Am Abend vor meinem Geburtstag kann ich vor Aufregung kaum schlafen und überlege krampfhaft, wo meine Eltern die kleine Hündin versteckt haben könnten. Ich lausche auf verräterisches Winseln, während ich mir den kleinen, zappelnden Körper auf meinem Arm ausmale und mir sage, dass dies mein letzter Abend ohne sie ist.
Am nächsten Morgen mache ich meine Geschenke auf und frage, wo Hope ist.
»Oh«, sagt mein Vater, »wir haben es uns anders überlegt und dir stattdessen eine Gitarre gekauft.«
Dann lacht er.
Und all die Liebe, die in mir geschlummert hat, diese gewaltige, überschäumende, unendliche Flut versickert, bis nichts mehr davon übrig ist.
Danach verliere ich mein Vertrauen und meine Zuversicht und spüre, wie die Enttäuschung in mir wächst und sich ausbreitet wie ein Netz aus Adern. Mein Ekzem wird immer schlimmer, und ich leide unter hämmernden Kopfschmerzen, begleitet von Übelkeit, die auch meine Mummy nur zu gut kennt. Sie sagt, ich müsse mich hinlegen und eine Tablette schlucken. Ich sei wie sie, und sie werde sich um mich kümmern. Kurz danach muss mein Vater für längere Zeit weg. Als er zurückkommt, verliere ich auch noch Lucy Mayes, weil wir wieder einmal umziehen. Eine andere Stadt, ein anderes Haus, eine andere Schule. Ich komme auf die Blackley Secondary School, ein riesiger Komplex aus Beton und Stahl. Die Sommersonne spiegelt sich in den Fensterscheiben.
Miss Wilson, meine Lehrerin, ist jung und trägt hohe Schuhe und ist der Meinung, es sei kein Problem, während des Halbjahrs einzusteigen. Ich solle Bescheid sagen, wenn ich Hilfe bräuchte. Dann dreht sie sich um und raunt einem anderen Lehrer zu: »Während des Halbjahrs die Schule zu wechseln ist ziemlich seltsam, nicht? Man sollte doch annehmen, dass Eltern sich so was zweimal überlegen. Na ja …«
Im Unterricht mitzukommen fällt mir nicht weiter schwer, dafür entpuppt sich die Suche nach neuen Freunden als nicht ganz so leicht. Die Mädchen sind zwar alle sehr freundlich und interessiert, fragen, wo ich wohne und welche Musik ich gern höre. Ich könnte mich mit ihnen anfreunden, aber ich habe nun einmal schon Freundinnen, die ich sehr gern habe, auf anderen Schulen, die ich eigentlich nicht verlassen wollte. Und neue Freundinnen werde ich auf kurz oder lang wieder verlieren.
Lucy fehlt mir, aber es ist nicht mehr so schlimm wie früher. Es fühlt sich eher so an, als würde ein Nerv absterben oder ein Zahn gezogen werden. Wenn der Schmerz erst einmal nachgelassen hat, bleibt nichts als tiefe, dumpfe Leere.