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Ich bekomme zwar nicht mit, wie Neal verhaftet wird, nachdem Jo die Polizei eingeschaltet hat, aber im Dorf wird erzählt, er sei aufs Revier mitgenommen worden und werde dort für weitere Befragungen festgehalten. Außerdem habe man das Haus der Andersons ein weiteres Mal durchsucht und einen Laptop sichergestellt. Die Gerüchteküche brodelt.
»Er war ja schon immer irgendwie merkwürdig …«
»Die arme Jo … All die Jahre wusste sie nichts von seinen Machenschaften…«
»Aber wie kann das sein? So was bekommt man doch mit.«
»Bestimmt hatte sie so eine Ahnung …«
Das Geschwätz macht es nur noch schlimmer, und als Jo für ein paar Tage die Stadt verlässt, wird der Mord an Rosie ein weiteres Mal zur öffentlichen Angelegenheit. Ich muss an Delphine denken. Vermutlich hat Jo sie mitgenommen. Sie reagiert nicht auf meine Anrufe, und allmählich mache ich mir Sorgen um die beiden. Wie viel können sie noch ertragen?
Angus verschlägt es die Sprache, als ich ihm davon erzähle. »Großer Gott.« Er schüttelt den Kopf. »Der Kerl war bei uns zu Hause. Ich fand ihn sympathisch.«
Wir hinterfragen alle beide unsere Menschenkenntnis.
»Ich weiß, man würde nicht glauben, dass jemand zu so etwas fähig ist. Arme Jo …«
Angus seufzt. »Wie soll man so etwas jemals verkraften? Der eigene Mann …«
Ich schlinge die Arme um seinen Hals und lehne mich an ihn, spüre den Schlag seines Herzens.
»Im Vergleich dazu wird alles so klein und unwichtig.«
Sein Kinn streift mein Haar, als er nickt. Dabei ahnt Angus nicht, dass ich versuche, den verhängnisvollen Abend mit Neal aus meinem Gedächtnis zu tilgen, nicht daran zu denken, wie seine Lippen meinen Mund berührt haben. Ich löse mich von ihm, weil ich es nicht länger aushalte.
»Ich mache uns eine Flasche Wein auf.«
Laura ist ebenfalls fassungslos. »Absolut unglaublich, oder?« Sie stellt zwei Becher Tee vor uns auf den Tisch. Mit ihren Boyfriend-Jeans, dem weiten Sweatshirt und ihrem Pferdeschwanz sieht sie eher wie eine Studentin und nicht wie eine erfolgreiche New Yorker Reporterin aus.
Sie sucht nach einem Stift und setzt sich wieder hin. »Auch wenn ich schon einiges mitbekommen habe, würde ich mir gern deine Version anhören.«
»Zuerst bekam ich diesen seltsamen Anruf von Jo wegen einer geheimnisvollen Software, die ich gar nicht bestellt hatte. Es stellte sich heraus, dass es nur ein Täuschungsmanöver war, um zu verhindern, dass Neal ihr hinterherfährt. Jedenfalls kam sie zu mir und erzählte, sie hätte seinen alten Laptop aus dem Schrank geholt und dabei diese Dokumente gefunden. Grauenvolle, gewalttätige Sex-Fotos, Links zu einschlägigen Websites … «
Laura hält einen Moment inne. »Niemand kann sich vorstellen, was in Jo vorgeht. Aber jetzt glaubt sie, er hätte Rosie getötet.«
Ich nicke. »Ohne diesen IT-Kurs hätte sie all das nie gefunden. Bisher kannte sie sich in Computerdingen überhaupt nicht aus. Er würde immer noch frei herumlaufen, und wir hätten alle nicht die leiseste Ahnung.«
Am Ende ist das die Quintessenz – Jos Computerkurs und die Tatsache, dass sie rein zufällig über Dokumente auf einem Computer gestolpert ist, den sie eigentlich nicht benutzen sollte. Zufälle, in willkürlicher Abfolge vom Schicksal aneinandergereiht – ein erschreckender Gedanke.
»Fünf Monate wusste kein Mensch, was vorgefallen ist«, sagt Laura. »Und jetzt ist alles aufgeflogen. Hat sie sonst noch etwas gesagt?«
Kurz überlege ich, Neals Avancen zu erwähnen, entscheide mich dann aber dagegen und zucke die Achseln. »Nein. Wusstest du, dass er sie misshandelt hat?«
Laura nickt. Nicht zum ersten Mal frage ich mich, wo sie all ihre Informationen herhat. »Ich habe es gehört. Auch darauf wäre man nie gekommen, stimmt’s? Ich meine, der Typ hat was, oder? So wie George Clooney, auf den ja auch alle Frauen ganz heiß sind. Wenn die wüssten …«
»Aber was ist mit diesem Waisenhausprojekt?«, frage ich. »Das ergibt doch keinerlei Sinn.«
»Stimmt, andererseits ist es die perfekte Tarnung. Alles an ihm, die Fassade des Neal Anderson, ist akribisch konstruiert und verhehlt, wer er in Wirklichkeit ist. Soweit ich mitbekommen habe, hat er den Besitz von illegalem Fotomaterial gestanden und zugegeben, dass er seine Frau geschlagen und gewürgt und seine Kinder emotional misshandelt hat.«
Ich schüttle den Kopf. »Woher weißt du das alles?«
Laura legt den Finger auf die Lippen. »Wir haben alle unsere Geheimnisse. Mein Informant hat rein zufällig mit seinem Anwalt gesprochen – ein sündhaft teurer, nur zu deiner Information. Und keineswegs diskret. Weißt du, wo bei den Andersons das Geld herkommt?«
Ich runzle die Stirn. »Keine Ahnung. Sie scheinen jedenfalls eine ganze Menge zu haben, wenn man sich ihre Autos und das Haus so ansieht … und Jo arbeitet noch nicht mal. Trotzdem waren die Mädchen auf derselben Schule wie Grace … vermutlich leben sie von seinem Gehalt.«
»Kann sein. Neal leugnet den Mord nach wie vor, wusstest du das?«
Mir läuft ein Schauder über den Rücken. »Eigentlich ist das nicht weiter verwunderlich, oder? Für jemanden wie ihn, meine ich.«
»Wahrscheinlich. Wer weiß? Schließlich ist er ein sehr versierter Lügner. Ein Jammer, dass die Polizei die Tatwaffe bisher nicht gefunden hat. Hoffentlich kommt ein wenig Klarheit in die Angelegenheit, wenn sie den Laptop untersuchen.«
Zu unser aller Entsetzen wird Neal trotz Jos Aussage und der belastenden Dateien auf Kaution freigelassen.
»Ich verstehe das nicht.« Die Nachricht macht mich fassungslos.
»Es gibt ein Verfahren wegen Körperverletzung, aber die Beweise für eine Mordanklage reichen nicht aus«, erklärt Laura. »Damit können sie ihn nicht ewig festhalten.«
Plötzlich habe ich Angst um Jo, auch wenn seine Freilassung an eine Reihe von Auflagen geknüpft ist.
Jo ist immer noch weg und hat ihr Telefon ausgeschaltet. Schließlich, nach einer Woche, sehe ich, dass im Haus Licht brennt und ihr Wagen vor der Tür steht. Da ich in Eile bin, halte ich nicht an, sondern schreibe ihr nur eine SMS. Wie es sich wohl anfühlt, zu Hause zu sein, obwohl sie weiß, dass Neal wieder auf freiem Fuß ist? Ich fahre nach Hause, um die Pferde zu füttern, bevor es dunkel wird.
Als ich später an diesem Abend mit dem Abwasch beschäftigt bin, wird auf einmal ein Umschlag durch meinen Briefschlitz geschoben. Bestimmt stammt er von einem Nachbarn, doch als ich die Tür aufmache, ist weit und breit niemand zu sehen.
Neugierig reiße ich ihn auf.