35
Ich fahre immer wieder bei Jo vorbei, jedes Mal in der festen Absicht, sie zu fragen, wieso sie mich belügt. Weshalb sie mir, ihrer einzigen Freundin, wie sie selbst gesagt hat, nicht die Wahrheit anvertraut. Aber nie ist sie zu Hause.
Ein paar Tage später kommt sie bei mir vorbei. Sie wirkt verunsichert und labil.
»Entschuldige, dass ich so hereinplatze. Ich weiß ja, dass du viel zu tun hast.« In ihren weit aufgerissenen Augen liegt wieder dieser verängstigte Ausdruck, den ich so gut kenne.
»Halb so wild«, wiegle ich ab. »Ich wollte sowieso mit dir reden. Komm rein.«
Wortlos folgt sie mir in die Küche und setzt sich.
»Tee?«
Sie nickt.
Ich setze den Kessel auf und nehme die Kanne aus dem Schrank, während ich darüber nachdenke, wie ich diese heikle Angelegenheit am besten angehen soll. Jo sitzt immer noch schweigend da.
Aber bevor ich mir die passende Einleitung überlegen kann, ergreift sie das Wort.
»Heute habe ich keinen guten Tag.« Ihre Stimme zittert. »Ich dachte, ich schaffe es, aber inzwischen glaube ich, dass ich nicht von hier weggehen kann. Immerhin liegt Rosanna hier begraben, Kate. Und es ist auch Neals Haus. Was habe ich mir nur dabei gedacht?«
Sie klingt wie ein verlorenes Kind. Noch erstaunlicher finde ich jedoch, dass sie Neal erwähnt, ganz zu schweigen davon, dass sie sich ihm gegenüber offenbar immer noch verpflichtet fühlt.
»Hey, ist schon in Ordnung. Ein Umzug ist purer Stress und ein Riesenschritt. Und dass Rosies Grab hier ist, macht es noch viel schwieriger. Ich würde das auch nicht wollen. Aber du solltest deine Entscheidung nicht von Neal abhängig machen, Jo. Das verdient er nicht.«
Ich rede nur sehr selten derart Klartext mit ihr, da ihr Gemütszustand so instabil ist. Wie kann man nur so verdammt labil sein?, um Neals Worte zu benutzen. Und obwohl sie ernsthaft darüber nachgedacht hat, umzuziehen und das Haus zu verkaufen, bezweifle ich, dass sie innerlich bereit dafür ist.
»Du hast recht, Kate«, entgegnet Jo, »wie immer. Ich wünschte, ich könnte so sein wie du. Manchmal ist alles so durcheinander. Es gibt Momente, in denen ich denke, alles wäre sonnenklar, und im nächsten verschwimmt alles, und ich kann es nicht länger greifen.« Sie wirkt ziemlich konfus. »Ich fasle unsinniges Zeug, stimmt’s?«
»Nur mal so ein Gedanke«, sage ich und setze mich zu ihr. Plötzlich sind meine widersprüchlichen Gefühle für sie vergessen. »Wenn du einen Wunsch frei hättest, wenn du irgendwo hingehen und jemand anders sein könntest, was würdest du tun?«
Dieses Spielchen haben Angus und ich früher sehr oft gespielt. Er wollte Tom Hanks sein, ich Rita Wilson. Wir würden in einer Riesenvilla in Hollywood leben, hätten massenhaft Geld, obwohl wir im wahren Leben durchaus zufrieden mit uns selbst sind. Mit einem Mal wird mir klar, wie brutal mein Vorschlag ist. Wäre ich an Jos Stelle, würde ich mir lediglich wünschen, dass Rosie wieder lebendig wäre und ich einen Ehemann hätte, der mich liebt.
Jo hat die Ellbogen auf den Tisch aufgestützt. Ihre Hände zittern, und in ihren Augen steht Panik.
»Ich … ich weiß es nicht«, stammelt sie.