43

Die Ereignisse machen mich nachdenklich. Wir alle bewegen uns tagtäglich zwischen den Extremen, zwischen Gut und Böse, zwischen Liebe und Hass, und erschaffen uns so eine Art moralischen Kompass, an dem wir uns orientieren. Genau diesen Kompass hat Jo für immer verloren, als ihr Verstand nicht länger mitspielte und sie dem Wahnsinn anheimfiel.

Ich frage mich nach wie vor, wieso ich es nicht habe kommen sehen. Aber wir können noch so sehr auf unsere Fähigkeiten und Lebenserfahrung vertrauen, die Körpersprache anderer beobachten, zwischen den Zeilen lesen – am Ende sehen wir doch meist nur, was wir sehen wollen, sagt Laura. Und wenn jemand die Wahrheit verbergen will, gelingt es uns wahrscheinlich auch nicht, sie ans Licht zu holen.

Jo wird wohl nicht so schnell wegen Mordes vor Gericht gestellt, falls überhaupt. Laura meint, das Ironische daran sei, dass die Mörderin zwar gefasst sei, aber lediglich aus einer leeren Hülle bestehe. Und das Gesetz verbietet, jemanden anzuklagen, der nichts begreift, sondern lediglich dasitzt, gefangen in hoffnungsloser Katatonie. Trotzdem ist Jo schuldig: Sie hat gelogen, andere getäuscht, ihre Kinder emotional missbraucht, getötet. Ob das Gesetz sie jemals dafür zur Rechenschaft ziehen wird oder ob sie für den Rest ihres Lebens allein in der Hölle gefangen bleibt – sie hat ihren eigenen Weg gefunden, für ihr Verbrechen zu büßen, und wird niemals wieder frei sein. Andererseits war sie das vermutlich auch nie.

Nichtsdestotrotz habe ich sie als Freundin kennengelernt, die gekämpft hat und mich brauchte, wenn auch nur für kurze Zeit. Eine zutiefst gestörte Frau, deren Verbrechen aus ihrer obsessiven Liebe zu ihrem Ehemann und ihrer Wehrlosigkeit bestanden. Aber sie ist nicht die einzige Schuldige. Lauras Boss schickte sie nach Zürich, um Jos Eltern zu besuchen, die jedoch nichts zur Aufklärung beizutragen hatten. Bis zum heutigen Tag haben sie ihre Tochter nicht besucht, was Bände spricht, und zeigen auch sonst keinerlei Interesse an ihr und ihrem Schicksal. Wir wissen nicht, was sich in Jos Kindheit hinter verschlossenen Türen abgespielt hat. Vielleicht werden wir es ja eines Tages erfahren, wenn sie in der Lage ist, sich damit zu konfrontieren.

Ich dachte eigentlich, dass Delphine zu Carol ziehen würde, aber irgendwann nahm sie meine Hand und fragte, ob sie bei mir und Angus bleiben dürfe. Wir hätten es niemals über uns gebracht, Nein zu sagen, auch wenn sie all das nicht durchgemacht hätte, all diese grauenhaften Erlebnisse, über die sie nach wie vor nicht sprechen kann.

Ich begegne Neal nur noch ein einziges Mal, wenn auch nur ganz kurz. Angus und ich haben im Vorfeld darüber geredet, und er hat versprochen, sich zu beherrschen, obwohl es ihm einiges abverlangt. Am liebsten hätte er Neal eine reingehauen, aber ihm ist klar, dass der passende Moment dafür längst verstrichen ist.

»Danke«, sagt Neal und sieht zuerst Angus in die Augen, dann mir, »dass ihr euch um Delphine kümmert. Ich bin nur hergekommen, um euch das zu sagen.«

Es schmerzt, dass Delphine ins Heim gekommen wäre, hätte Carol nicht ebenfalls angeboten, sie zu sich zu nehmen. Nicht dass Neal all das interessieren würde. Dank seines guten Anwalts hat er einen vergleichsweise geringen Preis für all die Misshandlungen bezahlt. Und nun, mit seiner neu gewonnenen Freiheit, kann er ungeniert an sich selbst denken, zumal ihn das Schicksal seiner Tochter ohnehin offenbar kaltlässt.

Als er vor uns steht, spielt er wieder den Hochanständigen, reicht Angus in einer versöhnlichen Geste die Hand, aber Angus durchschaut ihn auf Anhieb.

»Du hast hier nichts zu suchen«, sagt er feindselig.

»Ich weiß. Aber keine Sorge, ich bin bloß hergekommen, um euch zu sagen, dass ich von hier weggehe.«

»Du bist ein elender Dreckskerl, Anderson«, schleudert Angus ihm entgegen.

Ich berühre seinen Arm. Neal zuckt bloß die Achseln und wendet sich zum Gehen.

»Wohin?«, platze ich heraus.

Er sieht mich mit demselben wissenden Blick wie an jenem Abend an, als er mich geküsst hat.

»Wo ich immer hinwollte«, antwortet er leise.

Ich spüre, wie Angus sich neben mir versteift. »Ich hätte ihm eins auf die Schnauze geben sollen«, murmelt er, als Neal die Einfahrt hinuntergeht.

»Nein.« Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange. »Du warst ganz wunderbar.«

»Was hat er damit gemeint?«

Neal biegt um die Ecke.

»Er geht zurück nach Afghanistan.«

Als ich an diesem Abend auf Shilo durch den Wald reite, muss ich an Rosie, Alex und Delphine denken. Ob sie, vereint durch den gemeinsamen Verlust, einander vielleicht helfen können? Ich lasse Shilo angaloppieren, lausche auf das Geräusch seiner trommelnden Hufe, und meine Gedanken verfliegen.

Ich reite denselben Weg wie immer, den Abhang hinauf zu der Stelle, wo Rosie gestorben ist. Als wir oben stehen bleiben, breitet sich ein seltenes Gefühl tiefen Friedens in mir aus. Die Luft ist still und doch lebendig, und ich kann es spüren, auf meiner Haut, in meinem Herzen. Einen Augenblick lang ist alles eins – ich, Shilo, die Bäume.

Ich schließe die Augen, forme den Gedanken zuerst in meinem Kopf, dann in meinem Herzen, ehe ich ihn hinausschicke.

Mach dir um Delphine keine Sorgen. Ich kümmere mich um sie.

Ich warte. Aber nichts geschieht.

Und da weiß ich, dass Rosie fort ist.

Mein Tod ist dein
titlepage.xhtml
B6E338176AA344E092D047DE6E7AD914.xhtml
0A6408EE31EE482092CE8A5F8B6327BC.xhtml
A838FF43A900457BB6D94C50A4038CA6.xhtml
9472C6E2498D462BB9A0D39539D48E26.xhtml
BF8B7970307C48D380803F6CE3221CB8.xhtml
81A46D1C8C1142B39F4C83BCD862CD64.xhtml
2161490C132F42FF8FCB844DD33CA1E0.xhtml
267B68DB3E784C9C8D3498CB59C1E86B.xhtml
2E890762CEE24E4CBB5263B6A5D442BE.xhtml
17BEFE1EB6654401A118F42A1FC5CB52.xhtml
EE7E3F3300564182BBEEB258D9A0C4A7.xhtml
1886FD3975BD413C804699E4DECE773E.xhtml
3E5116281CBF4670BC26D6283DD84148.xhtml
B4D4E89701244625A2E5908BB809A73A.xhtml
EFA6DB0D6BEA403999015D058F761240.xhtml
31B486A0757640B4B98C7F59D10B3EB7.xhtml
A5287FD3A50E479898501387DADB45B5.xhtml
7C5C71C3D8E543AB963D628AC03F6E24.xhtml
A596329332AF4D80BB4B3A24FEC50856.xhtml
F2178708EDDD4A5AA551398164426A43.xhtml
7FEF98FC732C456EBDB7DF884B6E5AB2.xhtml
9E9F38A2BFD544D3BF649CA7A5657CCF.xhtml
A0CA5ACFF0BA404CA6F5F79BD31D61BC.xhtml
70D42BC30B62468A95E2204903730086.xhtml
60AD0A31F16F4FA396738B007E22C14A.xhtml
8A3DA477D24E46E8A7FAAF3A99794717.xhtml
5D8823C22CA34214B0A379EA9E7CEA3B.xhtml
C4D0A249B05C4262980948667EEA16A6.xhtml
46D7DF73B7EE4614B270CF39B1D8606F.xhtml
2BC9737526844FC2B488A2A9FD1A4408.xhtml
59AEDBC98C284DF7AE1FB63DFBD6445D.xhtml
71229777C8064408BA3656357F79DB85.xhtml
1E97E802F8C34A76B3BE521B69521D4B.xhtml
E0257FAFA6734181B11DAC799EED299B.xhtml
BE9BA10F92584FC9AD66E0E2EC5DF761.xhtml
C206CF782DAB42F88B2FC1CDD28A9FD4.xhtml
DD234268CEA545BF92C377EE560C4A28.xhtml
C96F4A410E97455FBC38F86B4E469DD7.xhtml
20304049A7174DEE9538D715DA715E24.xhtml
C365F555F76A4345A284C1AEB9400A81.xhtml
E543ECDB77734B35B4C8657D8BF9E67D.xhtml
5D176205676F473C9055B11577427F24.xhtml
3106CDE25E344095818AEB7102F8F0FA.xhtml
9C451226E7F646C898FC74CCF3223D7F.xhtml
6327014C0DEB4C799D8237FBBC6CA31E.xhtml
8771091C5F124BE3BB6C14EF524F8B3A.xhtml
D21315B1E2FF48E2AFCAE826FAB02809.xhtml
6955A675759D4B838A0F1539C999AE81.xhtml
85B01CEFBC8D4E32B08261D6BDC03B4C.xhtml
FC714D9FBB3440199F55D24DFB9298CE.xhtml
4733C833A7C44CD1A08624267899F964.xhtml
FF1DAC924A2C4D4E831FB041F3AFC7B5.xhtml
A2ECCB9D5DE64A70B24642C95546FA54.xhtml
A21F3C26953341859763446C593676FD.xhtml
05EA61ACAA334356A044E1EA507CA427.xhtml
DD696101D1194136A420A698EB38AB9B.xhtml
CA405F74B94F4EB580180829FDDF85C6.xhtml
767FF1FC8BF248EE9486A57DB1E5AB11.xhtml
BA7644039D93441C899D68122F82A98E.xhtml
C407DC1D7A8942479947E76A1B5B96F6.xhtml
560EE747B76A44A3990B30D38802E2C9.xhtml
9253FF7C607E47E5915A4FB90B8B8A74.xhtml
B15D7FF3292746B1BEAFA4721BAE76AF.xhtml
61E6636C17AA49AB9447304985F00757.xhtml
2EC3B395CBA947FAB0D2FB4A987512B4.xhtml
41C33C53DF314D02B29DCA9BA598964C.xhtml
44F8F1A9466847D1A08AA0776F5E2EB1.xhtml
B90DB13CD66641A8AC6512078AA84C5F.xhtml
C35785C454AF49EFB9F4368A0EA1E434.xhtml
32E744C0CB524720B824968F9F33CDBE.xhtml
CE1E5D41B453453F876EFA932F5DB221.xhtml
270C31BD1DB14AC9BDAA2642AD208A9C.xhtml
9CFF07EAC3BD4ED79AA463B5EAD7DF36.xhtml
7AE87A8BD9D44DEF90A75F6DFE2A60A5.xhtml
5F35A300FBD54DDF827426D397131674.xhtml
EA10511E019B46C281663058C76631FC.xhtml
9678087175C04C9A87D50AA1CC30E580.xhtml
18C16480CC9549F6BF095140D4FA5E88.xhtml
153ACE558F8F4E50903E2F4A1A744A64.xhtml
3CF999A2B0EF451A83A0EA2006ED110A.xhtml
2FEAB78E19144A5F8DC549E961D81D93.xhtml
BB76C8D960274C12A2AA39876A3D7136.xhtml
719B221DB83B49D986EFEDD744FB9757.xhtml
4E0A962544DB4E788D4293E822700D26.xhtml
18CBFAAD4ACB46E78D302A921B736064.xhtml
640B67CFEF84401BB4986BFFC7D11031.xhtml
9FD7345F4DE64173AC2886D87939B7D6.xhtml
6E0D3738006541F39ABA1C342182CBE2.xhtml
C2141F2CDEC0455E865AD999F6A4DECF.xhtml
6F468266C89246D293E85AE654B4FF68.xhtml
C1C5B65EB69F4BB1AD5A6A71C254F48F.xhtml
BE151D3B127840FBADCCDB1B8512C4DA.xhtml
FDB0F7C4B1D749958D5DD197228127DE.xhtml
06742D48F0774FAAACF2227600CD3B4C.xhtml
2C5128AC57A34BB0BBCD6B15869757A0.xhtml
0C5C0FCED2D549AC8E176E9AFAF13B1A.xhtml