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Die Ereignisse machen mich nachdenklich. Wir alle bewegen uns tagtäglich zwischen den Extremen, zwischen Gut und Böse, zwischen Liebe und Hass, und erschaffen uns so eine Art moralischen Kompass, an dem wir uns orientieren. Genau diesen Kompass hat Jo für immer verloren, als ihr Verstand nicht länger mitspielte und sie dem Wahnsinn anheimfiel.
Ich frage mich nach wie vor, wieso ich es nicht habe kommen sehen. Aber wir können noch so sehr auf unsere Fähigkeiten und Lebenserfahrung vertrauen, die Körpersprache anderer beobachten, zwischen den Zeilen lesen – am Ende sehen wir doch meist nur, was wir sehen wollen, sagt Laura. Und wenn jemand die Wahrheit verbergen will, gelingt es uns wahrscheinlich auch nicht, sie ans Licht zu holen.
Jo wird wohl nicht so schnell wegen Mordes vor Gericht gestellt, falls überhaupt. Laura meint, das Ironische daran sei, dass die Mörderin zwar gefasst sei, aber lediglich aus einer leeren Hülle bestehe. Und das Gesetz verbietet, jemanden anzuklagen, der nichts begreift, sondern lediglich dasitzt, gefangen in hoffnungsloser Katatonie. Trotzdem ist Jo schuldig: Sie hat gelogen, andere getäuscht, ihre Kinder emotional missbraucht, getötet. Ob das Gesetz sie jemals dafür zur Rechenschaft ziehen wird oder ob sie für den Rest ihres Lebens allein in der Hölle gefangen bleibt – sie hat ihren eigenen Weg gefunden, für ihr Verbrechen zu büßen, und wird niemals wieder frei sein. Andererseits war sie das vermutlich auch nie.
Nichtsdestotrotz habe ich sie als Freundin kennengelernt, die gekämpft hat und mich brauchte, wenn auch nur für kurze Zeit. Eine zutiefst gestörte Frau, deren Verbrechen aus ihrer obsessiven Liebe zu ihrem Ehemann und ihrer Wehrlosigkeit bestanden. Aber sie ist nicht die einzige Schuldige. Lauras Boss schickte sie nach Zürich, um Jos Eltern zu besuchen, die jedoch nichts zur Aufklärung beizutragen hatten. Bis zum heutigen Tag haben sie ihre Tochter nicht besucht, was Bände spricht, und zeigen auch sonst keinerlei Interesse an ihr und ihrem Schicksal. Wir wissen nicht, was sich in Jos Kindheit hinter verschlossenen Türen abgespielt hat. Vielleicht werden wir es ja eines Tages erfahren, wenn sie in der Lage ist, sich damit zu konfrontieren.
Ich dachte eigentlich, dass Delphine zu Carol ziehen würde, aber irgendwann nahm sie meine Hand und fragte, ob sie bei mir und Angus bleiben dürfe. Wir hätten es niemals über uns gebracht, Nein zu sagen, auch wenn sie all das nicht durchgemacht hätte, all diese grauenhaften Erlebnisse, über die sie nach wie vor nicht sprechen kann.
Ich begegne Neal nur noch ein einziges Mal, wenn auch nur ganz kurz. Angus und ich haben im Vorfeld darüber geredet, und er hat versprochen, sich zu beherrschen, obwohl es ihm einiges abverlangt. Am liebsten hätte er Neal eine reingehauen, aber ihm ist klar, dass der passende Moment dafür längst verstrichen ist.
»Danke«, sagt Neal und sieht zuerst Angus in die Augen, dann mir, »dass ihr euch um Delphine kümmert. Ich bin nur hergekommen, um euch das zu sagen.«
Es schmerzt, dass Delphine ins Heim gekommen wäre, hätte Carol nicht ebenfalls angeboten, sie zu sich zu nehmen. Nicht dass Neal all das interessieren würde. Dank seines guten Anwalts hat er einen vergleichsweise geringen Preis für all die Misshandlungen bezahlt. Und nun, mit seiner neu gewonnenen Freiheit, kann er ungeniert an sich selbst denken, zumal ihn das Schicksal seiner Tochter ohnehin offenbar kaltlässt.
Als er vor uns steht, spielt er wieder den Hochanständigen, reicht Angus in einer versöhnlichen Geste die Hand, aber Angus durchschaut ihn auf Anhieb.
»Du hast hier nichts zu suchen«, sagt er feindselig.
»Ich weiß. Aber keine Sorge, ich bin bloß hergekommen, um euch zu sagen, dass ich von hier weggehe.«
»Du bist ein elender Dreckskerl, Anderson«, schleudert Angus ihm entgegen.
Ich berühre seinen Arm. Neal zuckt bloß die Achseln und wendet sich zum Gehen.
»Wohin?«, platze ich heraus.
Er sieht mich mit demselben wissenden Blick wie an jenem Abend an, als er mich geküsst hat.
»Wo ich immer hinwollte«, antwortet er leise.
Ich spüre, wie Angus sich neben mir versteift. »Ich hätte ihm eins auf die Schnauze geben sollen«, murmelt er, als Neal die Einfahrt hinuntergeht.
»Nein.« Ich gebe ihm einen Kuss auf die Wange. »Du warst ganz wunderbar.«
»Was hat er damit gemeint?«
Neal biegt um die Ecke.
»Er geht zurück nach Afghanistan.«
Als ich an diesem Abend auf Shilo durch den Wald reite, muss ich an Rosie, Alex und Delphine denken. Ob sie, vereint durch den gemeinsamen Verlust, einander vielleicht helfen können? Ich lasse Shilo angaloppieren, lausche auf das Geräusch seiner trommelnden Hufe, und meine Gedanken verfliegen.
Ich reite denselben Weg wie immer, den Abhang hinauf zu der Stelle, wo Rosie gestorben ist. Als wir oben stehen bleiben, breitet sich ein seltenes Gefühl tiefen Friedens in mir aus. Die Luft ist still und doch lebendig, und ich kann es spüren, auf meiner Haut, in meinem Herzen. Einen Augenblick lang ist alles eins – ich, Shilo, die Bäume.
Ich schließe die Augen, forme den Gedanken zuerst in meinem Kopf, dann in meinem Herzen, ehe ich ihn hinausschicke.
Mach dir um Delphine keine Sorgen. Ich kümmere mich um sie.
Ich warte. Aber nichts geschieht.
Und da weiß ich, dass Rosie fort ist.