26
Am Empfang frage ich nach Carols Nummer, aber verständlicherweise sind Jos Kontaktdaten vertraulich, und ich werde mich wohl oder übel bis zu meinem nächsten Besuch gedulden müssen.
Ich fahre nach Hause und gehe quer über das Feld. Die kalte Luft, die über meine Haut streicht und in meine Lunge dringt, tut gut, klärt meine Gedanken. Die Pferde freuen sich, mich wiederzusehen. Oz und Reba rangeln und schnuppern in der Hoffnung auf eine Leckerei an meiner Jackentasche, während Zappa ein Stück entfernt steht, scheinbar ohne Notiz von uns zu nehmen.
Das sieht ihm gar nicht ähnlich. Normalerweise muss er ständig im Mittelpunkt stehen, und bei genauerem Hinsehen fällt mir auf, dass seine Augen trübe und teilnahmslos wirken. Plötzlich stampft er mit dem Hinterhuf auf. Schlagartig bin ich alarmiert. Ich kenne dieses Pferd, seine Körpersprache. Hier stimmt etwas nicht.
Nachdem ich ihn endlich in den Stall gelockt habe – jeder Meter erfordert Überredungskunst –, steht er mit gesenktem Kopf da. Immer wieder schweift sein Blick zu seiner Flanke. Oz und Reba scharren ungeduldig mit den Hufen, weil es ihnen nicht passt, dass er mehr Aufmerksamkeit bekommt als sie, doch er ignoriert sie, was ebenfalls ungewöhnlich ist.
Als er den Kopf hebt und mich anschaut, kann ich förmlich sehen, wie jegliche Lebensenergie aus ihm herausströmt, und ein schrecklicher Verdacht steigt in mir auf. Wurde Zappa vergiftet? Ist womöglich jemand auch hinter mir her?
Der Verfasser dieser Nachrichten?
Während ich den Hof kehre, glaube ich, Schritte zu hören, und schaue ständig zu ihm hinüber. Eine Stunde später geht es ihm immer noch nicht besser, und ich rufe Helen an, meine Tierärztin.
Als sie kommt, ist es bereits dunkel. Zappa ist völlig verschwitzt, und sein Zustand verschlechtert sich von Minute zu Minute. Ich wünschte, ich hätte sie schon früher angerufen.
Ich kenne Helen seit vielen Jahren und vertraue ihr blind.
»Ihm geht’s richtig schlecht«, sagt sie und tätschelt ihn. »Armer alter Junge. Ich bin ziemlich sicher, dass es eine Kolik ist.«
»Könnte er vergiftet worden sein?«
Helen mustert mich scharf. »Ohne eine Blutuntersuchung kann man das nicht sagen, aber wenn du willst, kann ich einen Test machen. Doch jetzt sorgen wir erst mal dafür, dass er sich ein bisschen besser fühlt. Ich gebe ihm eine Spritze gegen die Schmerzen und eine zum Entkrampfen. Hoffen wir, dass es wirkt. Kannst du ihn den restlichen Abend im Auge behalten? Ich habe Bereitschaft, also ruf an, wenn es schlimmer wird.«
Ich nicke. Beim Anblick dieses sonst so lebhaften, bildschönen Pferdes, das nur noch ein Bild des Jammers ist, packt mich die kalte Angst. »Ich sollte seine Besitzerin anrufen.«
»Ist er eines deiner Pensionspferde?«
Wieder nicke ich.
»Dann solltest du es lieber tun.«
Nachdem Helen weg ist, rufe ich bei Zappas Besitzerin an, erreiche sie aber nicht. Ich hinterlasse eine Nachricht und gehe wieder zu Zappa. Ich setze mich in seine Box, streichle sein weiches Fell am Kopf und hinter den Ohren.
»Ist schon gut, Junge. Bald geht’s dir besser.«
Ich lasse ihn kurz allein. Als ich zurückkomme, liegt er auf dem Stroh und tritt wild um sich, obwohl ich nach Kräften versuche, ihn zu beruhigen.
Noch einmal rufe ich Helen an, die sofort kommt und ihm eine weitere Beruhigungsspritze gibt. Als er sich ein wenig entspannt hat, untersucht sie ihn ein weiteres Mal.
»Das sieht nicht gut aus, Kate. Ich kann keine Darmgeräusche hören. Da er solche Schmerzen hat, muss sich irgendetwas verdreht haben. Eine OP ist seine einzige Chance, und zwar noch heute Abend. Kannst du ihn rüber in die Praxis bringen?«
»Ich habe zwar einen Anhänger, aber noch nie versucht, ihn reinzubugsieren.«
»Los, ich helfe dir.«
Gott sei Dank ist Helen hier und übernimmt das Kommando, denn ich habe nicht nur gewaltige Zweifel, sondern mein Instinkt sagt mir, dass er es nicht schaffen wird. Obwohl er erst seit ein paar Monaten bei mir ist, habe ich eine sehr enge Bindung zu ihm aufgebaut, und weiß, dass er sehr schwer krank ist.
Ich fahre den Anhänger so nahe wie möglich an den Stall heran, während Helen versucht, Zappa zum Aufstehen zu bewegen. Als ich seinen Führstrick nehme, macht er ein paar zögernde Schritte, ehe er komplett die Kontrolle verliert, einen Satz nach vorn macht und gegen die Wand knallt.
»Das sind die Schmerzen«, stößt Helen mit zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich muss ihm noch eine Ladung verpassen.«
Sie geht zu ihrem Wagen. Zappa zittert am ganzen Leib und ist schweißnass. Obwohl ich alles versuche, ihn oben zu halten, lässt er sich auf den Boden sinken.
»Helen … beeil dich …«
Kurz darauf steht sie mit einer Spritze in der Hand neben mir. »Als Erstes gebe ich ihm die, dann versuchen wir, ihn wieder auf die Beine zu kriegen.«
Armer, armer Zappa. Er ist so tapfer, gibt sich alle Mühe. Einmal schafft er es beinahe, aber seine Beine geben unter ihm nach, und er bricht erneut auf dem Stroh zusammen.
»O Gott … ich hoffe nur, es ist nicht zu spät. Wir müssen ihn in diesen Anhänger schaffen, Kate. Das ist seine einzige Chance.«
Aber wie wir auch ziehen, schieben und drücken, er steht nicht auf. Mein Herz blutet, als mir aufgeht, was das bedeutet.
Ich gehe neben ihm in die Hocke und flüstere ihm leise ins Ohr: »Zappa … mein wunderschöner Zappa …«
Er rührt sich nicht. Helen betritt hinter mir die Box. »Kate? Es tut mir wahnsinnig leid, aber du weißt, dass wir ihn nicht in diesem Zustand liegen lassen können.«
Ich nicke, und mir rollt eine Träne über die Wange.
Als sie wieder zu ihrem Wagen geht, drücke ich Zappa einen Kuss auf die Nüstern. Er liegt immer noch reglos da, lediglich sein Brustkasten hebt und senkt sich.
»Ist gut«, sagt Helen und tritt neben mich. »Gleich hat er es überstanden. Er wird nichts davon mitbekommen.«
Der Verlust ist eine Sache, zwischen Leben und Tod zu stehen und die richtige Entscheidung zu treffen ist jedoch genauso qualvoll. Als der Abdecker kommt, um Zappa abzuholen, kann ich nicht zusehen. Ich will ihn in all seiner Schönheit in Erinnerung behalten, nicht in diesem würdelosen Zustand. Er war so ein intelligentes, talentiertes Pferd.
Zuerst bin ich am Boden zerstört, dann überkommt mich Wut. Ich wünschte, jemand wäre hier, den ich quälen kann, damit er so leidet wie ich. Ich schenke mir einen großzügigen Whiskey ein, obwohl ich den Geschmack wie die Pest hasse, spüre, wie er in der Kehle brennt und meinen Schmerz betäubt. Danach rufe ich Angus an.
»O Gott, Kate. Wie grauenhaft. Wie geht es dir?«
»Ich fühle mich furchtbar, Angus. Das arme Pferd …«
»Du hast getan, was du konntest«, sagt er leise. »Könnte ich jetzt nur bei dir sein, Kate.«
Plötzlich vermisse ich ihn schrecklich. Warum ist er nicht hier, wenn ich ihn am meisten brauche? Ich möchte mich an ihn lehnen, seinen Herzschlag, seine Energie spüren, um mich daran zu erinnern, dass das Leben trotzdem weitergeht.
Der Whiskey nimmt mir meine Hemmungen, lässt mich Dinge sagen, die ich schon viel zu lange mit mir herumgetragen habe. »Es ist scheiße … Es ist total scheiße, dass du nicht hier bist. Alles ist so anders, Angus. Du bist anders. Ich bin anders …«
»Kate, wir sind immer noch dieselben. In ein paar Monaten, wenn ich wieder zu Hause bin, liegt all das hinter uns.«
Aber ich verdiene es, jemandem wehzutun … zu leiden. Und er auch. Er tut so, als wäre alles in bester Ordnung, und macht es sich viel zu leicht.
»Neal hat versucht, mich anzumachen«, platze ich heraus und bereue die Worte sofort.
Er schweigt. Wird er mir jetzt auch die Wahrheit sagen?
»Und?« Seine Stimme ist kalt wie Stahl.
»Und gar nichts. Er hat mich geküsst. Und ich habe ihn weggeschoben.«
Lasse ich es dabei bewenden? Oder gestehe ich ihm, welche Gefühle diese kurze Begegnung in mir ausgelöst hat? Wie sehr ich mich vor mir selbst geekelt habe, weil ich einen Mann angefasst habe, der womöglich sein eigenes Kind getötet hat?
»Halt dich von diesen verdammten Leuten fern, Kate. Sie tun dir nicht gut. Du hast dich verändert. Die alte Kate hätte so was nicht mal im Traum zugelassen.«
»Wie kannst du es wagen?«, schreie ich gekränkt. »Du bist praktisch nie hier, Angus. Und ich habe gar nichts getan. Du bist derjenige, der weggegangen ist.«
»Wir sind verheiratet, Kate, das hast du offenbar vergessen.«
»Ja, aber das hat dich nicht davon abgehalten, mich zu verlassen, oder etwa nicht? Was weiß ich, was du dort oben treibst.«
Eine unheilvolle Stille hallt in meinen Ohren wider.
»Lass … lass es einfach gut sein, okay? Ich will nicht mit dir reden, solange du in dieser Verfassung bist. Ich rufe dich im Lauf der Woche an.«
Er legt auf.
Ich lasse mich auf den Boden sinken. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ist es das? Das Ende? Erst später erkenne ich, dass er rein gar nichts preisgegeben hat. Er hat nichts geleugnet. Vielleicht hat er sich ja gar nichts zuschulden kommen lassen.
Habe ich sein Verhalten das erste Mal, seit wir uns kennen, falsch interpretiert?