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»Das glaube ich jetzt nicht!« Laura tritt an unseren Tisch und umarmt mich.
»Das kannst du laut sagen! Rachael, das ist Laura. Wir waren zusammen in der Schule«, erkläre ich. »Als Teenager waren wir das erste Mal allein im Urlaub und haben uns in denselben Jungen verknallt. Dann ging sie weg, und ich habe sie nie wieder gesehen. Bis jetzt! Nicht zu fassen!«
»Alte Komplizinnen.« Laura lacht und zieht einen Stuhl heran. »Ist es wirklich okay, wenn ich mich setze?«, fragt sie an Rachael gewandt.
»Klar! Bitte. Trinken Sie doch einen Kaffee mit uns. Ich hole uns einen.«
Rachael steht auf und geht an die Bar, während ich Laura betrachte und mich frage, wo ihr krisseliges Haar und ihre Pölsterchen geblieben sind. Die Laura von heute ist gertenschlank, hat seidig glänzendes Haar und trägt todschicke Klamotten.
»Was führt dich denn hierher? Ich habe gehört, dass du in die Staaten gezogen wärst. Bist du wieder hier?«
»Ich lebe in New York, das stimmt.« Sie hält inne. »Ich arbeite als Journalistin, Kate«, sagt sie langsam und beobachtet mich prüfend, während mir allmählich dämmert, worauf sie hinauswill.
»Du hast von Rosie gehört.« Das ist keine Frage, sondern eine Feststellung. Meine Freude über unser Wiedersehen verpufft, und einen Moment lang kann ich meine Gefühle nicht recht einordnen. Ist es Enttäuschung, weil meine alte Freundin ihren Lebensunterhalt mit dem Leid anderer Menschen verdient?
»Das ist eine lange Geschichte, Laura, und bisher weiß keiner, was mit ihr passiert ist.«
Laura nickt. »Das habe ich mitbekommen. Und ich hoffe genauso sehr wie alle hier, dass sie schon bald gesund und munter zur Tür hereinkommt. Trotzdem ist es eine große Story. Neal Anderson kennt nun mal jeder. Aber das ist noch nicht alles. Bevor all das geschehen ist, hatten wir eine Artikelserie über die heimlichen Opfer in Kriegsgebieten geplant, darunter auch in Afghanistan. Es sind Schicksalsgeschichten darüber, was geschieht, wenn ganze Ortschaften ausgelöscht und Familienmitglieder getötet werden. Über diejenigen, die zurückbleiben, die Älteren, die Versehrten, die Waisen.« Sie hält inne. »Er hatte für ein Interview zugesagt, weil er auch ein Waisenhausprojekt in Afghanistan unterstützt.«
Ich horche auf. Das wusste ich gar nicht.
»Und da ich sowieso schon hier war, meinte mein Chefredakteur, dass wir genauso gut die Geschichte über Rosie aufgreifen könnten. Das halbe Land nimmt Anteil an der Tragödie. Und sie ist auch schon eine ganze Weile verschwunden, richtig? Ihr müsst halb verrückt vor Sorge sein.«
»Ich weiß nicht recht, Laura. Jo ist eine Freundin von mir. Vielleicht wäre es besser, wenn du mit jemand anderem redest.«
Laura lehnt sich zurück und mustert mich. »Vielleicht kann ich dir ja erklären, wie wir arbeiten. Mir ist klar, was du jetzt denkst, und ich an deiner Stelle würde genauso reagieren. Aber ich bin keine dieser grässlichen skrupellosen Reporter, die die Fakten verdrehen und alles tun würden, bloß um eine Story zu kriegen, das verspreche ich dir hoch und heilig. Es ist grauenhaft, dass Rosanna oder Rosie, wie ihr sie nennt, verschwunden ist, und ich möchte gern darüber schreiben, aber auf eine korrekte, mitfühlende Art und Weise. Die Zeitungen werden ohnehin darüber berichten, Kate. Und auch nicht immer nur die reinen Fakten, das ist dir doch klar, oder?«
»Sie hat recht«, sagt Rachael, die mit einem Tablett in der Hand an den Tisch tritt. »Für wen arbeiten Sie?«
»Für eine amerikanische Zeitschrift namens Lifetime. Sie erscheint monatlich und beschäftigt sich vorwiegend mit Familien- und Alltagsthemen, mit denen sich Frauen so herumschlagen. Ich gebe Ihnen gern ein Exemplar. Ich habe eines oben in meinem Zimmer.«
»Du wohnst hier?«
Laura nickt. »Ja. Für ein paar Tage.«
Bis Rosie zurück ist, meint sie damit.
Oder auch nicht.
So sehr die Sonne auch strahlt und meine Haut liebkost, die Angst lässt sich nicht abschütteln. Sie ist hier, lauert an jeder Ecke, als wir uns für die Suche nach Rosie einfinden. Ich frage mich, ob Jo bewusst ist, wie sehr die Leute sie unterstützen, aber am Ende eines langen Tages stehen wir immer noch praktisch mit leeren Händen da. Die Suche hat keine brauchbaren Hinweise ergeben, und viele springen einfach ab, weshalb die Polizei mit ihrem Suchhund allein weitermachen muss.
Als an diesem Abend das Telefon läutet, flackert sie sofort wieder auf, diese Angst. Ich bin bereits im Schlafanzug und wollte vor dem Zubettgehen gerade noch die Reste des Abendessens wegräumen. Wenn um diese Uhrzeit jemand anruft, muss es etwas Wichtiges sein.
Grace’ Nummer steht auf dem Display.
»Mum, sie haben sie gefunden …«, stammelt sie schockiert.
»Geht es ihr gut, Grace?«
»Sie war im Wald.«
Mein Herzschlag setzt aus. Das wollte ich nicht hören, genauso wenig wie das Rauschen in meinen Ohren, und alles bricht wieder über mich herein – der Sturm, Zappa, mein Sturz.
Ich umklammere den Hörer. In einem Anflug von sinnloser Hoffnung klopft mein Herz wie verrückt, denn Grace’ Zögern, das Zittern in ihrer Stimme verrät mir bereits die Wahrheit, bevor sie sie ausspricht.
»Mum …« Ihre Stimme bricht. »Rosie ist tot.«