24
Ich stehe neben Jos Bett.
»Jo? Jo? Hörst du mich?«
Ein zartes, graues Püppchen zwischen den gestärkten Laken, mit Plastikschläuchen in Mund und Nase, die sie mit Monitoren und Infusionen verbinden. Ringsum piepst es laut, aber sie rührt sich nicht.
Vorsichtig werfe ich einen Blick durch das kleine Fenster in der Tür. »Jo?«
Sie dreht den Kopf, und ihre Lider flattern leicht, als träume sie.
»Jo? Es ist alles in Ordnung. Du bist im Krankenhaus.«
Einen Moment lang schlägt sie die Augen auf. Schritte ertönen auf dem Korridor.
Aber dann verlässt mich der Mut, denn es ist die unnachgiebige Krankenschwester von vorhin. »Bitte gehen Sie jetzt. Ich habe doch klipp und klar gesagt, dass Ihnen der Zutritt verboten ist.«
»Und ich habe Ihnen klipp und klar gesagt, dass ich ihre Freundin bin. Und vermutlich der einzige Besuch, den sie bekommt. Sie hatte gerade eben ganz kurz die Augen offen. Während ich mit ihr geredet habe.«
Mit finsterer Miene drückt sie auf den Rufknopf. Augenblicke später erscheinen weitere Schwestern, gefolgt von einer Ärztin, die allesamt versuchen, Jo eine weitere Reaktion zu entlocken. Vergeblich.
Ich trete beiseite und bete, dass sie die Augen noch einmal aufschlägt, während mir die medizinischen Fachbegriffe nur so um die Ohren fliegen. Zumindest gelingt es mir, die Ärztin zu fassen zu bekommen.
»Entschuldigung, aber könnten Sie mir sagen, was passiert ist?«
Die Ärztin zögert. »Sie sind …?«
»Kate McKay. Ihre engste Freundin. Ich war während der schlimmsten Zeit an ihrer Seite. Gestern schien es ihr noch gut zu gehen. Sonst hätte ich sie natürlich niemals allein gelassen.«
Ich kann kaum glauben, dass ich erst gestern nach Bristol aufgebrochen bin.
»Ihre Freundin hat eine Überdosis genommen. Sie wird wieder gesund, aber wir sind etwas besorgt, weil wir nicht wissen, wie es danach weitergehen soll. Es wäre möglich, dass sie unter einer Art posttraumatischer Belastungsstörung leidet. Wie Sie ja wissen, hat sie ihre Tochter verloren. Aber wir können uns erst ein genaueres Bild machen, wenn wir mit ihr gesprochen haben.«
»In letzter Zeit war es die reinste Achterbahnfahrt mit ihr«, sage ich. »Mal oben, mal unten. Aber irgendwie hat sie sich durchlaviert. Vor kurzem hat sie einen Computerkurs absolviert, sie hat für ihren Mann gearbeitet … ich meine, bevor …« Ich halte inne, unsicher, wie viel die Ärztin weiß.
Sie nickt. »Ihre Schwägerin hat uns ein paar Dinge erzählt. Aber wann hatte sie in all der Zeit Gelegenheit zu trauern? Immerhin hat sie einen sehr schweren Verlust erlitten. Und auch der Verlust ihres Ehemanns ist natürlich sehr schwerwiegend, völlig unabhängig von den Umständen.«
Erst jetzt begreife ich, wie sehr ich mich inzwischen an Jos Probleme gewöhnt habe. Und wie dumm ich war, mir einzubilden, dass sie all das überstehen könnte, ohne zusammenzuklappen. Kein Mensch ist in der Lage, einen so großen Verlust innerhalb weniger Monate zu akzeptieren, wegzustecken und zum Alltag zurückkehren, falls überhaupt jemals.
Ich habe es schon wieder getan, war viel zu nahe dran, habe lediglich ihren löwenhaften Mut und ihre tapfere Fassade gesehen, nicht aber, was sich dahinter verbirgt. Jo ist überhaupt nicht mit der Situation zurechtgekommen, sondern hat den Kopf in den trügerischen Treibsand gesteckt. Und allmählich dämmert mir, dass es für jemanden in ihrer Situation so leicht ist, sich langsam darin versinken zu lassen, statt die Dinge in die Hand zu nehmen. Allein.
Zu Hause rufe ich als Erstes Laura an, um sie auf den neuesten Stand zu bringen.
»Ich habe Joanna gestern noch besucht, um mit ihr über diese Nachrichten zu sprechen, wer sie geschrieben haben könnte. Delphine habe ich auch gefragt.«
»Und was haben sie gesagt?«
»Joanna wirkte ziemlich erschüttert. Glaubst du, sie könnten von ihr stammen? Ich meine, sie steht unter enormem Druck – vielleicht sind sie ja ein Hilfeschrei.«
Ich zucke die Achseln. »Keine Ahnung. Möglich wäre es. Sie würde niemals freiwillig zugeben, dass sie Hilfe braucht.«
»Aus Delphine war kein Wort herauszukriegen. Dieses Kind macht mir wirklich Sorgen. Niemand weiß, was in ihr vorgeht.«
»Und was jetzt?«
»Wir warten ab, ob du noch einen bekommst. Es gab einen ähnlichen Fall, über den ich geschrieben habe. Es stellte sich heraus, dass irgendein bekloppter Kerl fand, sein Opfer hätte den Tod verdient. Eine Art posthumer Hassbrief.«
Ich schüttle den Kopf. »Dazu sind Menschen fähig?«
»Kate! Die Menschen sind nicht grundsätzlich nett. Sie können abgrundtief böse sein, echte Teufel. Sieh dir nur Neal an.«
»Genau das ist ja das Problem«, sage ich. »Hätte man keine Beweise gegen ihn in der Hand, wäre er so ziemlich der Letzte, den ich im Verdacht gehabt hätte.«
Laura lacht. »Willkommen in meiner verrückten Welt.«