12

Grace kommt nach Hause, wenn auch nur kurz. Sie ist ein Wirbelwind, so fröhlich, sie lacht so viel. Trotz des unaufhörlichen Nieselregens gehen wir reiten, ich auf Zappa, sie auf Oz. Ihre Wangen sind gerötet, und ihre Augen leuchten, nachdem wir in vollem Galopp durch den Wald geprescht sind. Unweigerlich kommt die Sprache auf Rosie.

»Glaubst du, sie finden den Täter jemals, Mum?«

»Das weiß ich nicht, Grace. Ich hoffe es, denn derjenige muss dafür bestraft werden.«

Aber es geht nicht nur darum. Im Lauf der Zeit verblasst das Entsetzen, und das Ereignis droht in Vergessenheit zu geraten. Neal und Jo, wir alle, das ganze Dorf, die mit Rosies Tod zu kämpfen haben, verdienen es, die Wahrheit zu erfahren.

Als wir zu der Lichtung gelangen, wo Rosies Leiche gefunden wurde, bemerke ich einen Mann. Er steht mit dem Rücken zu uns, so dass ich sein Gesicht nicht erkennen kann. Neal kann es nicht sein, dafür ist der Mann zu groß. Als wir näher kommen, sehe ich, dass er jünger ist und sichtlich erschüttert. Er hat die Arme vor der Brust verschränkt, und seine Schultern beben.

»Was ist hier los?«, fragt Grace. »Wer ist das?«

»Psst. Komm, starr ihn nicht so an.«

Wir reiten vorbei, doch als ich über die Schulter schaue, dreht er sich um. Sein Gesicht ist rot und verquollen vom Weinen. Unwillkürlich hole ich Luft. Nicht etwa, weil es unangenehm wäre, Zeuge zu werden, wie dieser Mann von seinem Kummer übermannt wird, sondern weil ich ihn kenne.

»Das war Jos Gärtner«, sage ich zu Grace, als wir außer Hörweite sind, »früherer Gärtner, genauer gesagt. Er heißt Alex.«

»Und was macht er hier?«

Ich zucke die Achseln. »Vermutlich will er Rosie nur die letzte Ehre erweisen.«

Allerdings sah es nach weit mehr aus.

»Mum, sie ist schon länger tot. So was tun die Leute doch am Anfang, aber nicht über zwei Monate danach.«

»Nicht unbedingt.« Ich zögere. »Nicht wenn … Glaubst du, zwischen den beiden könnte etwas gewesen sein?«

»Rosie hätte sich nie mit jemandem wie ihm eingelassen. Außerdem ist er viel zu alt«, wiegelt Grace bestimmt ab.

»Für so was gibt es keine Regeln, Grace. Sie könnten genauso gut enge Freunde gewesen sein. Außerdem war er vielleicht schon öfter hier. Oder wollte bloß sichergehen, dass er allein ist.«

Als Grace wieder fährt, ist der Schmerz nicht mehr ganz so schlimm. Er gleicht eher einem blauen Fleck und nicht mehr einer offenen Wunde, denn bis Weihnachten sind es nur noch ein paar Wochen. Außerdem bin ich mit den Gedanken woanders.

Am nächsten Tag mache ich mich auf die Suche nach Alex. Als ich bei Dans Gärtnerei vorfahre, regnet es in Strömen, und es ist eiskalt, so dass sich die Tropfen wie feine Nadelstiche auf der Haut anfühlen.

»Du kannst ohne uns offenbar nicht leben, was?«, scherzt Dan.

»Hi, Dan! Ich wollte noch ein paar von deinen Tulpenzwiebeln mitnehmen. Sofern du noch welche hast.«

»Weil du’s bist. Ich gehe gleich nachsehen.«

Dan verschwindet. Seit meinem letzten Besuch haben sich die Pflanzenbestände sichtlich gelichtet. Als ich nach verborgenen Schätzen Ausschau halte, laufe ich Alex in die Arme.

»Oh, hallo.«

Er wendet den Blick ab. »Hi.«

Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich das Ganze nicht richtig durchdacht habe. Wie soll ich ihn auf unsere Begegnung im Wald ansprechen oder nach Rosie fragen, ohne wie eine neugierige Klatschbase zu wirken, die es zwar gut meint, letzten Endes aber nur ihre Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckt? Was ich in Wahrheit ja auch tue.

»Ich kannte Rosie auch«, sage ich. »Sie hat gern Zeit mit meinen Pferden verbracht.«

Schweigend hört er mir zu, während ich ihm klarzumachen versuche, dass ich eine Freundin bin. Schließlich sieht er mich an. »Sie hat mir erzählt, dass Sie immer nett zu ihr waren. Bei Ihnen hat sie sich sicher gefühlt.«

Sicher. Eine seltsame Wortwahl.

Mit schmerzerfülltem Blick fährt er fort. »Das hätten Sie mir neulich schon sagen müssen.«

»Ich weiß. Aber ich wusste nicht, dass Sie mehr als nur der Gärtner der Familie waren.« Forschend betrachte ich sein Gesicht, bemerke, wie sein Kiefer sich anspannt. »Ich habe Sie im Wald gesehen, als ich neulich dort reiten war. Mit meiner Tochter.«

Unbehaglich tritt er von einem Fuß auf den anderen.

»Sie und Rosie …« Ich zögere, wähle meine Worte mit Bedacht.

Er ballt die Fäuste und blickt zum Himmel. Als er mich wieder ansieht, sind seine Augen tränenerfüllt. »Ja, wir waren zusammen. Lange wusste keiner etwas davon. Dann hat Joanna Verdacht geschöpft, und nun ja, sagen wir mal so – sie ging keinerlei Risiko ein. Allein die Vorstellung, ihre Tochter könnte mit der Aushilfe … Nun ja, mehr brauche ich wohl nicht zu sagen, oder?«

Seine Stimme ist erfüllt von Bitterkeit, und obwohl ich Jos Meinung nicht teile, verstehe ich, was es für sie bedeutete. Jeder lebt nun mal in seiner Welt, und in Jos Welt hat jeder seinen Platz, ihre Putzkraft, ihr Gärtner und die Lehrer ihrer Töchter. Sie alle sind anständige Menschen, die sie braucht, aber eben zu ihren Bedingungen.

Kurz schießt mir die Frage durch den Kopf, warum sie mir nichts davon erzählt hat.

»Es tut mir so leid,« behutsam berühre ich seinen Arm, »dass Sie sie verloren haben. Und dass man Sie so behandelt hat.«

Er ringt sichtlich um Fassung. »Ich habe sie geliebt. Und ich ertrage es nicht, was mit ihr geschehen ist. Was für ein Ungeheuer muss man sein, um einem anderen Menschen so etwas anzutun? Jemandem wie ihr …«

»Haben Sie mit der Polizei gesprochen?«

»Sie haben mich befragt, gleich nachdem man sie gefunden hat. Sie wollten wissen, wie lange ich für die Andersons gearbeitet habe, solche Dinge.«

»Also wussten sie Bescheid? Über Sie und Rosie?«

Alex versteift sich. »Ich habe nichts Falsches getan. Es gab keinen Grund, weshalb sie es erfahren sollten. Außerdem wäre es nicht gut.«

»Was meinen Sie damit?«

Er zögert und fährt wütend fort: »Wollen Sie das wirklich wissen? Leute wie diese verdammten Andersons schieben am liebsten den anderen die Schuld in die Schuhe, Menschen wie mir. Weil sie ja so viel besser sind als ich. Zumindest glauben sie das …« Er schüttelt den Kopf. »Aber die Wahrheit ist, das Neal ein echter Kotzbrocken ist. Rosie hat ihn gehasst, solange sie denken konnte. Er ist ein Kontrollfreak der schlimmsten Sorte, Kate. Sie würden nicht glauben, was für Geschichten sie mir erzählt hat. Es würde mich nicht wundern, wenn er etwas damit zu tun hätte.«

Seine Worte schockieren mich. Und dann fällt mir wieder ein, was Jo mir erzählt hat. Dass er und Neal sich nicht verstanden hätten. »Das sind ziemlich schwere Anschuldigungen, Alex. Wie um alles in der Welt kommen Sie darauf?«

»Rosie hatte Streit mit ihrem Vater. Am Tag, bevor sie verschwunden ist. Er wollte verhindern, dass sie das Haus verlässt und sich mit jemandem trifft. Sie schrie ihn an, sie hätte die Nase voll von ihm und der Art, wie er sie behandeln würde, und wenn er nicht damit aufhören würde, würde sie ausziehen und nie wieder ein Wort mit ihm reden. Daraufhin ist er komplett ausgeflippt.«

»Sie müssen all das der Polizei erzählen, Alex. Sie gehen der Sache auf den Grund. Aber alle Eltern liegen sich mal mit ihren Kindern in den Haaren, wenn sie im Teenageralter sind.« Ich denke an meine eigenen übertriebenen Beschützerinstinkte und Grace’ Unabhängigkeitserklärungen und hitzigen Aufstände. »Das ist ganz normal. Im Eifer des Gefechts sagt mal schnell einmal etwas, das man nicht so meint.«

»Das stimmt, aber Rosie hat nie die Nerven verloren. Nie. Sie hat mir erzählt, sie hätte sich noch kein einziges Mal gegen ihn durchgesetzt. Es sei denn, er hätte es aus irgendwelchen kranken Gründen gewollt. Er kontrolliert diese Familie, Kate. Sie alle, sogar seine Frau, jeden einzelnen Muckser, den sie von sich geben. Sie dürfen ohne seine Erlaubnis noch nicht mal atmen. Der Mann ist ein Psychopath.«

Ich kann ihm immer noch nicht recht glauben. »Streit ist eins, Alex, aber dass Neal ein Mörder sein soll …«

Die Heftigkeit seines Ausbruchs und seine Vorwürfe machen mich fassungslos. Ich war so oft bei den Andersons, aber kein einziges Mal ist mir etwas aufgefallen. Erst dann dämmert mir, dass er so aufgebracht ist, weil das Mädchen, das er geliebt hat, tot ist. Das sieht jeder. Und ebenso wie die Andersons braucht auch er um jeden Preis jemanden, den er dafür verantwortlich machen kann.

»Ich behalte den Kerl im Auge«, erklärt Alex. »Das ist mein voller Ernst.«

»Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht täuschen? Neal ist ein bemerkenswerter Mann.« In dem Moment registriere ich, dass das Jos Worte sind, die mir mühelos über die Lippen kommen. »Er macht sich große Sorgen um seine Frau und würde alles für seine Familie tun.«

»Genau. Alles. Absolut alles.«

Mein Tod ist dein
titlepage.xhtml
B6E338176AA344E092D047DE6E7AD914.xhtml
0A6408EE31EE482092CE8A5F8B6327BC.xhtml
A838FF43A900457BB6D94C50A4038CA6.xhtml
9472C6E2498D462BB9A0D39539D48E26.xhtml
BF8B7970307C48D380803F6CE3221CB8.xhtml
81A46D1C8C1142B39F4C83BCD862CD64.xhtml
2161490C132F42FF8FCB844DD33CA1E0.xhtml
267B68DB3E784C9C8D3498CB59C1E86B.xhtml
2E890762CEE24E4CBB5263B6A5D442BE.xhtml
17BEFE1EB6654401A118F42A1FC5CB52.xhtml
EE7E3F3300564182BBEEB258D9A0C4A7.xhtml
1886FD3975BD413C804699E4DECE773E.xhtml
3E5116281CBF4670BC26D6283DD84148.xhtml
B4D4E89701244625A2E5908BB809A73A.xhtml
EFA6DB0D6BEA403999015D058F761240.xhtml
31B486A0757640B4B98C7F59D10B3EB7.xhtml
A5287FD3A50E479898501387DADB45B5.xhtml
7C5C71C3D8E543AB963D628AC03F6E24.xhtml
A596329332AF4D80BB4B3A24FEC50856.xhtml
F2178708EDDD4A5AA551398164426A43.xhtml
7FEF98FC732C456EBDB7DF884B6E5AB2.xhtml
9E9F38A2BFD544D3BF649CA7A5657CCF.xhtml
A0CA5ACFF0BA404CA6F5F79BD31D61BC.xhtml
70D42BC30B62468A95E2204903730086.xhtml
60AD0A31F16F4FA396738B007E22C14A.xhtml
8A3DA477D24E46E8A7FAAF3A99794717.xhtml
5D8823C22CA34214B0A379EA9E7CEA3B.xhtml
C4D0A249B05C4262980948667EEA16A6.xhtml
46D7DF73B7EE4614B270CF39B1D8606F.xhtml
2BC9737526844FC2B488A2A9FD1A4408.xhtml
59AEDBC98C284DF7AE1FB63DFBD6445D.xhtml
71229777C8064408BA3656357F79DB85.xhtml
1E97E802F8C34A76B3BE521B69521D4B.xhtml
E0257FAFA6734181B11DAC799EED299B.xhtml
BE9BA10F92584FC9AD66E0E2EC5DF761.xhtml
C206CF782DAB42F88B2FC1CDD28A9FD4.xhtml
DD234268CEA545BF92C377EE560C4A28.xhtml
C96F4A410E97455FBC38F86B4E469DD7.xhtml
20304049A7174DEE9538D715DA715E24.xhtml
C365F555F76A4345A284C1AEB9400A81.xhtml
E543ECDB77734B35B4C8657D8BF9E67D.xhtml
5D176205676F473C9055B11577427F24.xhtml
3106CDE25E344095818AEB7102F8F0FA.xhtml
9C451226E7F646C898FC74CCF3223D7F.xhtml
6327014C0DEB4C799D8237FBBC6CA31E.xhtml
8771091C5F124BE3BB6C14EF524F8B3A.xhtml
D21315B1E2FF48E2AFCAE826FAB02809.xhtml
6955A675759D4B838A0F1539C999AE81.xhtml
85B01CEFBC8D4E32B08261D6BDC03B4C.xhtml
FC714D9FBB3440199F55D24DFB9298CE.xhtml
4733C833A7C44CD1A08624267899F964.xhtml
FF1DAC924A2C4D4E831FB041F3AFC7B5.xhtml
A2ECCB9D5DE64A70B24642C95546FA54.xhtml
A21F3C26953341859763446C593676FD.xhtml
05EA61ACAA334356A044E1EA507CA427.xhtml
DD696101D1194136A420A698EB38AB9B.xhtml
CA405F74B94F4EB580180829FDDF85C6.xhtml
767FF1FC8BF248EE9486A57DB1E5AB11.xhtml
BA7644039D93441C899D68122F82A98E.xhtml
C407DC1D7A8942479947E76A1B5B96F6.xhtml
560EE747B76A44A3990B30D38802E2C9.xhtml
9253FF7C607E47E5915A4FB90B8B8A74.xhtml
B15D7FF3292746B1BEAFA4721BAE76AF.xhtml
61E6636C17AA49AB9447304985F00757.xhtml
2EC3B395CBA947FAB0D2FB4A987512B4.xhtml
41C33C53DF314D02B29DCA9BA598964C.xhtml
44F8F1A9466847D1A08AA0776F5E2EB1.xhtml
B90DB13CD66641A8AC6512078AA84C5F.xhtml
C35785C454AF49EFB9F4368A0EA1E434.xhtml
32E744C0CB524720B824968F9F33CDBE.xhtml
CE1E5D41B453453F876EFA932F5DB221.xhtml
270C31BD1DB14AC9BDAA2642AD208A9C.xhtml
9CFF07EAC3BD4ED79AA463B5EAD7DF36.xhtml
7AE87A8BD9D44DEF90A75F6DFE2A60A5.xhtml
5F35A300FBD54DDF827426D397131674.xhtml
EA10511E019B46C281663058C76631FC.xhtml
9678087175C04C9A87D50AA1CC30E580.xhtml
18C16480CC9549F6BF095140D4FA5E88.xhtml
153ACE558F8F4E50903E2F4A1A744A64.xhtml
3CF999A2B0EF451A83A0EA2006ED110A.xhtml
2FEAB78E19144A5F8DC549E961D81D93.xhtml
BB76C8D960274C12A2AA39876A3D7136.xhtml
719B221DB83B49D986EFEDD744FB9757.xhtml
4E0A962544DB4E788D4293E822700D26.xhtml
18CBFAAD4ACB46E78D302A921B736064.xhtml
640B67CFEF84401BB4986BFFC7D11031.xhtml
9FD7345F4DE64173AC2886D87939B7D6.xhtml
6E0D3738006541F39ABA1C342182CBE2.xhtml
C2141F2CDEC0455E865AD999F6A4DECF.xhtml
6F468266C89246D293E85AE654B4FF68.xhtml
C1C5B65EB69F4BB1AD5A6A71C254F48F.xhtml
BE151D3B127840FBADCCDB1B8512C4DA.xhtml
FDB0F7C4B1D749958D5DD197228127DE.xhtml
06742D48F0774FAAACF2227600CD3B4C.xhtml
2C5128AC57A34BB0BBCD6B15869757A0.xhtml
0C5C0FCED2D549AC8E176E9AFAF13B1A.xhtml