18
Der Vorfall mit Neal verfolgt mich, auch wenn es nur ein Kuss war und ich ihn weggeschoben habe. Ich male mir aus, wie Angus leicht angesäuselt in einer Bar sitzt und bewundernd eine namenlose hübsche Frau betrachtet und harmlos mit ihr flirtet. Harmlos, daran gibt es keinen Zweifel für mich. Ergebnis des »Wie sehr trauen Sie Ihrem Mann?«-Tests? Angus besteht ihn mit Bravour. Ich vertraue ihm zu hundert Prozent. Und er vertraut mir.
Mehrmals habe ich bereits den Hörer in der Hand, um Rachael anzurufen, aber dann hält mich doch etwas davon ab. Ist es fair, sie da mit hineinzuziehen? Oder schäme ich mich zu sehr?
Nur ein Kuss. Das hat Neal gesagt, bevor er gegangen ist.
Alles seine Schuld. Es tue ihm so leid.
Der springende Punkt ist allerdings, dass ich ihm schon viel früher hätte Einhalt gebieten können, da ich gespürt habe, was gleich geschehen würde. Aber ich habe es geschehen lassen, deshalb trägt nur einer die Schuld: Ich.
Ich versuche, mich abzulenken, und mache einen Ausritt auf Zappa, der immer noch hier ist, weil seine Besitzerin ihn nicht zurückhaben will, sich aber auch nicht durchringen kann, ihn zu verkaufen. Er ist unruhig und unkonzentriert, spürt trotz Decke die Kälte und ist genauso wenig begeistert von den Gedanken, die mir durch den Kopf gehen, wie ich.
Erst als ich auf ein Feld reite und ihn losgaloppieren lasse, gelingt es mir, den Kopf freizubekommen. Ich höre den peitschenden Wind und das Hämmern der Hufe. Der Schlamm spritzt in alle Richtungen.
Wieder zu Hause – ich habe geduscht und mache mir mit noch feuchten Haaren etwas zum Mittagessen –, taucht Neal plötzlich auf.
»Du solltest wieder gehen«, sage ich. Meine Wangen sind rot. Ich kann mich nicht überwinden, ihm in die Augen zu blicken. »Bitte. Ich liebe Angus. Ich will das alles nicht.«
Aber er steht nur wortlos da. Nach einer Weile riskiere ich einen Blick auf sein Gesicht, zögere, bevor ich ihm in die Augen sehe, die mich magisch anzuziehen scheinen.
»Kate?« Wie kann so viel Bedeutung in einem einzigen Wort, in vier Buchstaben, liegen?
Fangen so Affären an? Mehr ist nicht notwendig? Nur jemand, der eine Grenze überschreitet, den anderen überredet, etwas zu riskieren, sich jenem Rausch der Gefühle hinzugeben, den man längst vergessen hat, weil er abflaut, wenn man so lange verheiratet ist wie wir?
Stille. Minuten, die sich wie Stunden anfühlen, verstreichen, ehe ich mich unter Aufbietung meiner gesamten Willenskraft abwende und warte, bis die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Ich höre den Kies unter seinen Schuhen knirschen, zähle die Sekunden, bis er das Ende der Einfahrt erreicht hat. Dann drehe ich mich wieder um und erhasche noch einen letzten Blick auf seinen Rücken.
Ich lasse mich auf den Boden sinken. So sehr ich ihn will – und ich könnte ohne weiteres meinem Verlangen nachgeben –, ich werde es nicht tun.
Auf einmal schwappt mir von allen Seiten eine regelrechte Woge des Mitgefühls entgegen, die ich nicht verdiene. Es ist fast, als gliche meine Scham einem Trauerflor am Ärmel oder einer Narbe, die ich aus einer blutigen Schlacht davongetragen habe.
»Angus fehlt mir«, gebe ich als Erklärung an, wenn mich jemand auf meine Blässe anspricht. Elende Lügnerin hallt eine höhnische Stimme in meinem Kopf wider, weil ich nicht nur eine Frau bin, die um ein Haar ihren Mann hintergangen hätte, sondern auch eine Betrügerin.
Angus ruft an und verkündet, dass er am Wochenende nicht nach Hause kommen wird, beinahe so, als wäre die Wolke meiner Gewissensbisse bis nach York gezogen.
»Es tut mir leid, Kate, aber ich hatte völlig vergessen, dass am Samstag dieses Essen stattfindet. Hätten wir es früher gewusst, hättest du herkommen können.«
»Aber nächstes Wochenende bist du doch wieder zu Hause, oder?« Ich bin enttäuscht, aber auch erleichtert.
An diesem Wochenende kommt auch Jo nach Hause. Und meine Gewissensbisse werden noch schlimmer, als mir ihre Worte wieder in den Sinn kommen. Er hat eine Affäre … Es ist nicht das erste Mal, und ich muss damit leben.
Plötzlich komme ich mir unglaublich blöd vor. Ich war leichte Beute, habe mich geschmeichelt gefühlt und zugelassen, dass er mich umgarnt. Ich kann ihr unmöglich sagen, dass ihr Mann mich angemacht hat, obwohl ich ihn keineswegs dazu ermutigt habe, sondern er nur seine übliche Nummer abgezogen hat. Unwillkürlich läuft unser Abendessen noch einmal vor meinem inneren Auge ab.
Wir beide am Tisch, unsere Hände ineinander verschlungen.
Oder habe ich ihn etwa doch ermutigt?
Seine Lippen auf meinem Mund.
Sieht er es so?
Aber ich habe ihm Einhalt geboten. Es ist nichts passiert.
»Wie lief dein Kurs?«, frage ich Jo.
»Wunderbar«, antwortet sie. Mir fällt auf, dass sie müde aussieht. »Ich habe interessante Leute kennengelernt. Und, du meine Güte, so viele Technikfreaks, nicht zu fassen!«
»Ja, ja, so ist diese Branche nun mal«, gebe ich leichthin zurück, als wäre ich die große Expertin.
»Das nächste Kursmodul erarbeiten wir uns von zu Hause aus«, fährt sie fort. »Aber es hat gutgetan, mal eine Weile wegzukommen, auch wenn es nur ein paar Tage waren.« Ein wehmütiger Ausdruck erscheint auf ihrem Gesicht. »Kate? Hast du nie das Bedürfnis, auszubrechen?«
»Ich? Eigentlich nicht. Aber im März fahre ich zu Angus und tausche die Gummistiefel gegen die Highheels ein.«
Sie mustert mich, als versuche sie, sich mich in hohen Schuhen vorzustellen, und gelange zu dem Schluss, dass es völlig absurd aussähe.
»Auch ich trage nicht nur Reithosen und Stiefel«, füge ich hinzu, was sie mit einem mitfühlenden Blick quittiert.
»Vermisst du ihn?«
»Na ja … ja.« Ein leichtes Beben erfasst meine Stimme.
Sie lächelt traurig. »Du bist nicht allein, Kate. Ich bin immer für dich da.«
Dass sie trotz ihrer eigenen Probleme immer noch Zeit für die meinen findet, rührt mich so sehr, dass ich keinen Ton herausbringe.
Doch nach dieser kurzen Unterredung taucht sie wieder einmal ab. Normalerweise wäre es an mir, nach ihr zu sehen, aber da Neal immer noch zu Hause ist, halte ich mich wohlweislich fern von ihr.