Rosie
Sie können nicht wissen, dass die Luft schimmert. Dass der Nordwind lila mit einem Hauch indigoblau ist, wohingegen der Südwind die Farbe von Sonnenblumen besitzt und das Summen von Bienen und das Weinen der Engel mit sich trägt.
All das können Sie nicht wissen – auch nicht, wie es sich anfühlt, keine Phantomschmerzen zu haben, wie Amputationspatienten sie kennen. Wenn man stirbt, schwebt man keineswegs als körperloser Geist umher wie in Hollywoodfilmen. Aber das heißt nicht, dass ich nicht hier wäre, nicht existieren würde. Es gibt nur kein Wort, diesen Wesenszustand zu beschreiben.
Die Farben um mich herum ändern sich unablässig, Geräusche in der Ferne sind plötzlich messerscharf. Die Zeit dehnt sich, katapultiert mich von jener nicht enden wollenden Nacht geradewegs in das Auge des aufziehenden Sturms.
So chaotisch einem das Universum erscheinen mag, ergibt es einen Sinn. Jetzt wird mir alles klar, während silbrige Regentropfen wie flüssiges Metall auf den Waldboden niedergehen, und der Sturm, entstanden aus Hitze und hoher Luftfeuchtigkeit, zu einer mächtigen Meeresströmung wird und die Wolken auflädt, bis sie in tausend Lichtern explodieren.
An anderen Ende des Waldes bemerke ich etwas Weißes. Als es näherkommt, merke ich, dass der Sturm mir ein Pferd gesandt hat.
Ich erkenne Zappa auf den ersten Blick, seine kraftvollen, fließenden Bewegungen. Ich hätte eine Affinität zu Pferden, sagt Kate, und dass die Tiere die menschliche Seele lesen könnten. Bin ich das gerade? Eine Seele? Ich rufe ihn.
Hey! Hey, Junge! Zappa …
Abrupt wirft er den Kopf nach hinten. Er hat mich also gehört. Mit einem Mal verspüre ich den verzweifelten Wunsch, dass auch Kate mich hört, die Wahrheit kennt, jemanden schickt, der mir hilft.
Kate …
Ich rufe ihren Namen über den grollenden Donner hinweg, höre sein Echo, sehe, wie meine Stimme wellenartig durch die Luft getragen wird. Als ich es noch einmal versuche, registriere ich das Entsetzen auf ihrem Gesicht.
Kate, ich bin’s. Rosie … Hilf mir … Bitte, hilf mir!
Einen Moment lang glaube ich, dass sie mich gehört hat. Aber selbst wenn nicht, hat Zappa meine Stimme wahrgenommen. Er prescht viel zu schnell vor, und Kate kann ihn nicht zügeln.
Ich muss etwas unternehmen, ihnen beiden helfen, aber mir fällt nur eine Lösung ein: Ich muss sie hierherführen, wo der Boden eben ist und sie von den Bäumen geschützt werden. Ich muss Zappa den Weg zeigen. Kate die Angst nehmen. Sie zu mir führen.
Ein sanfter Schimmer umgibt mich unter den Bäumen, anfangs ist er noch schwach, dann wird er immer heller.
Als hätte er meine Gedanken gelesen, macht Zappa kehrt und prescht mit zwei weit ausholenden Schritten den Abhang hinauf. Als er mich sieht, bleibt er abrupt stehen und blickt mich aus weit aufgerissenen Augen verblüfft an, und Kate wird aus dem Sattel gerissen.
Wie gebannt steht Zappa da und schnaubt.
Braver Junge, Zappa, brav. Alles in Ordnung, Zappa …
Er versteht es nicht. Wie ist es möglich, dass er mich sehen kann? Aber es geht ihm gut. Ich blicke zu Kate hinüber, die reglos auf dem Boden liegt.
Auf einmal bin ich neben ihr, lausche ihren leisen Atemzügen, strecke die Hand aus und berühre ihre Wange, sanft wie der Flügel eines Schmetterlings.
Es ist gut, Kate. Alles ist gut. Ich kümmere mich um dich …
Aber ich bekomme nicht mit, was mit ihr passiert. Ich schwebe fort, obwohl ich noch versuche, mich an den Ästen festzuhalten, die durch meine Finger gleiten. Ich rufe. Ich will nicht gehen. Ich darf sie nicht verlassen.
Dann ist es wieder dunkel. Millionen Sterne leuchten, Millionen Stimmen rufen mich, einer von ihnen zu werden. Aber ich kann nicht. Noch nicht. Obwohl mein Körper leblos ist und der letzte Atemzug aus meinen Lungen gepresst wurde, mein Leben wie ein Film vorübergezogen ist und ich die Wahrheit über all jene jetzt kenne, von denen ich dachte, sie seien mir nahe. Ich muss gehen. Aber es gibt einen Grund, weshalb ich noch hier bin. Ich habe etwas verloren. Etwas, das ich finden muss.
Ein seltsam unheilvolles Gefühl ergreift Besitz von mir, noch mehr Bilder flammen auf – düsterer, schneller, bedrohlicher. Die Geschichte hinter meiner Geschichte. Den Teil, den keiner kennt.