Rosie
Drei Dinge werden mir schlagartig klar, als sich das Bild vor meinen Augen zusammenfügt. Ich bin fünf Jahre alt. Es ist der erste Schultag nach den Ferien und mein erster Tag auf der Abbey Green Primary, einer kleinen Dorfschule mit einem beängstigend sorgfältig gemähten Rasen hinter dem hübschen Palisadenzaun.
Meine Schuluniform kratzt, meine Zöpfe sind so fest gebunden, dass meine Kopfhaut spannt. Ich habe Angst und will nicht, dass meine Mama mich hier allein zurücklässt.
»Los, mach schon, Rosanna, wir wollen doch nicht zu spät kommen.« Sie nimmt meine Hand und hält sie fest.
Ich bin wieder das kleine Mädchen, das sich voller Angst hinterherziehen lässt.
Meine Mutter bleibt an der Tür des Klassenzimmers stehen. Ich will bei ihr bleiben, aber sie zwingt mich, hineinzugehen. Mit gesenktem Kopf betrete ich das Klassenzimmer. Alle drehen sich um und starren mich an. Mein Gesicht glüht, und am liebsten würde ich abermals in Tränen ausbrechen.
»Guten Morgen, Rosanna.«
Du meine Güte. Mrs. Bell. Die hatte ich ja völlig vergessen. Damals mochte ich sie und ihr nettes Lächeln immer sehr gern, doch nun sehe ich lediglich eine abgekämpfte Frau mittleren Alters mit einer Eselsgeduld und zu viel Herzenswärme, angetrieben von der ständigen Sorge um ihre Schützlinge. Ich sehe, dass sie mich wohlwollend betrachtet, ohne dass ich es mitbekomme, und versichert meiner Mutter, dass ich mich bestimmt schnell einleben werde. Nach dem Unterricht sitzt sie, völlig erschöpft wegen ihrer Herzerkrankung, von der niemand etwas ahnt, fünf Minuten lang still auf ihrem Stuhl, ehe sie das Klassenzimmer für den nächsten Schultag vorbereitet.
Ich frage mich, wie viele Kinder sich während ihrer Laufbahn in ihrer Obhut befunden haben. Mein Blick schweift durch das Klassenzimmer, über die kleinen hölzernen Sechsertische, das Buch auf ihrem Pult, aus dem sie zahllosen Kindern vorgelesen hat, so wie uns, jeden Nachmittag. Dann kommen die Erinnerungen: der Mief in der Umkleidekabine, wo unsere Mäntel und Schuhbeutel hingen, der abscheuliche Fraß zum Mittagessen, die Sprossenwand auf dem Spielplatz unter dem Kastanienbaum, um dessen Früchte wir uns immer gezankt haben. Und wie ich geheult habe, als meine Mutter mich abholte.
Ich finde schnell eine Freundin. Becky Thomas. Sie ist klein, und ihren scharfen Augen unter ihrem dunkelbraunen Pony entgeht nichts. Erst jetzt fällt mir auf, dass ihre Schuluniform abgetragen ist – die Ärmel zu kurz, der Rock mit einer Sicherheitsnadel zusammengehalten, dasselbe gilt für ihre Schuhe. Außerdem kneift sie beim Lesen die Augen zusammen, weil sich offenbar bislang niemand die Mühe gemacht hat, mit ihr zum Augenarzt zu gehen.
Ich weiß noch, dass ich auch unbedingt so eine Ponyfrisur haben wollte. Ich erinnere mich noch genau an ihr Zuhause, eingezwängt zwischen all den anderen Reihenhäusern mit den schmalen Handtuchgärten und zahllosen Katzen. Ihre Mum hat lange Wimpern, raucht und sagt die ganze Zeit: »Mein Gott!«
Becky und ich spielen in ihrem Zimmer. Wir ziehen uns Sachen von ihrer Mutter an, hübsche Kleider, die nach Parfum duften. Sie hätte nichts dagegen, meint Becky. Dann hängen wir uns noch Ketten um. Nach einer Weile höre ich ihre Mum die Treppe heraufkommen und kriege Angst.
Aber sie ist nicht böse, sondern lacht bloß. »Mein Gott, ihr seid mir vielleicht zwei tolle Miezen«, sagt sie und holt einen ihrer Lippenstifte, mit dem wir uns schminken dürfen.
Ich habe keine Ahnung, was »tolle Miezen« sind, und frage mich, ob es vielleicht etwas mit ihren vielen Katzen vor dem Haus zu tun haben könnte. Wir essen Pommes mit Ketchup vor dem Fernseher, und irgendwann kommt Mummy mich abholen. Ich höre, wie sie mit Beckys Mutter redet, dann kommt sie rein und sieht mich mit dieser besorgten Miene an, bei der mir immer ganz flau im Magen wird.
»Hol deine Sachen, Rosanna-Schatz.«
Auch an ihrer Stimme kann ich es hören.
»Hübscher Name«, sagt Beckys Mum und bläst den Zigarettenrauch in die Luft. »So chic.«
Obwohl ich weiß, dass Mummy wegen irgendetwas böse auf mich ist, kann ich meine Begeisterung über meine neue Freundin nicht für mich behalten.
»Es war so schön, Mummy, wir haben uns als tolle Miezen verkleidet.«
»Rosanna …«
Ihr Tonfall lässt mich innehalten. Ich habe immer noch keine Ahnung, was ich angestellt habe, bloß, dass es etwas Schlimmes war. Sie will nicht, dass ich darüber rede. Das ist immer so, wenn sie mit dieser schockierten, wütenden, besorgten Stimme mit mir spricht.
Mummy fährt schneller als sonst, stellt den Wagen in die Einfahrt und sagt zu mir, ich soll hineingehen, und zwar schnell.
Nachdem sie mir das Gesicht gewaschen hat, höre ich Vaters Wagen. Wie üblich setzt er rückwärts in die Einfahrt, steigt aus und schlägt die Tür zu. Mummy hat es auch gehört. Eine tiefe Furche erscheint auf ihrer Stirn. Sie beugt sich vor und legt mir beide Hände auf die Schultern.
»Ich will nicht, dass du mit diesem Mädchen befreundet bist, Rosanna. Diese Leute sind anders als wir.«
Ich verstehe nicht, was sie damit meint. Ich will so gern Beckys Freundin sein, aber Mummy hat bestimmt recht. Ich erinnere mich, wie meine Freude über meine neue Freundin verflog, gemeinsam mit dem Wasser im Abfluss verschwand. Ich erinnere mich, wie blöd ich mir vorkam, weil ich nicht wusste, was los war, und an den Geschmack nach Seife, als ich mir auf die Lippe biss.
»Und erzähl bitte Daddy nichts davon, was du heute getan hast. Er würde es nicht verstehen.«
Ihr Tonfall ist freundlich, und sie streicht mir das Haar aus dem Gesicht. Als sie mir einen Kuss gibt, geht unten die Tür auf.
»Los, schnell«, flüstert sie, richtet sich auf und legt den Zeigefinger auf die Lippen. »Und vergiss nicht – kein Wort.«
Und weil ich Mummy lieb habe, tue ich, was sie verlangt.