30
Angus hat zwei Wochen frei, ehe er wieder ins Büro muss – diesmal in London. Grace kommt mit Ned über Ostern. Ich reite das erste Mal Shilo. Und als mein Glück mit den ersten Glockenblumen wieder aufzublühen beginnt, begreife ich, wie zerbrechlich es in Wahrheit ist.
Kurz vor Prozessbeginn erscheint in einer Tageszeitung ein ganzseitiger Artikel über Neal. Danach hat keiner mehr Zweifel an seiner Schuld. Der Quelle zufolge hatte Rosie tatsächlich unmittelbar vor ihrem Tod Streit mit Neal; so wie Alex gesagt hat. Neal sei betrunken und wutschnaubend aus dem Haus gestürmt und erst, immer noch sturzbetrunken, im Morgengrauen zurückgekehrt. Dann habe er seine Tochter in den Wald gelockt, wo er sie brutal erstochen habe.
Eine abscheuliche Vorstellung, die Jo anscheinend dazu bringt, sich den Dämonen ihres Lebens endgültig zu stellen. Eine Woche später wird sie aus der Klinik entlassen und kehrt nach Hause zurück.
»Ich bringe ihr etwas zu essen rüber«, sage ich zu Angus. »Sonst rührt sie ja nichts an. Ich bleibe aber nicht lange, versprochen.«
»Ich habe nichts dagegen, dass du zu ihr gehst, Kate. Solange du dich nicht beeinflussen lässt. Sie braucht dich im Moment, das verstehe ich.«
Ich trete zu ihm und streiche mit den Lippen zärtlich über seinen Mund. »Und du genauso. Immerhin haben wir ein paar Monate nachzuholen.«
Er nimmt meinen Arm und zieht mich auf seinen Schoß. Seine Augen funkeln. »Wenn wir jetzt gleich damit anfangen, könntest du später …«
»Tut mir leid.« Ich küsse ihn und entwinde mich seiner Umarmung. »Ich fürchte, sie wartet schon auf mich. Aber später vielleicht …« Ich werfe ihm einen Luftkuss zu.
Jos Haustür ist offen, was ungewöhnlich ist, aber sie hätte ja nichts zu verbergen, meint sie. Sie wünsche sich einen völligen Neubeginn.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, erklärt sie, »und halte es für das Beste, wenn ich das Haus verkaufe, Kate. Ich habe auch mit Delphine schon darüber geredet. Wir sind uns einig. Es ist zu viel geschehen.«
»Aber kannst du das überhaupt? Bevor der Prozess vorüber ist?«
»Ich werde das mit einem Anwalt besprechen. Falls ich nicht verkaufen kann, vermiete ich das Haus in der Zwischenzeit. Außerdem muss ich mir Gedanken übers Geld machen.« Panik flackert in ihren Augen auf, als sie tief Luft holt.
»Aber wohin willst du ziehen?« Obwohl mir das Argument einleuchtet und mir klar ist, dass sie sich das Haus auf Dauer nicht leisten kann, sind meine Gefühle gemischt.
Sie sieht traurig aus. »Das weiß ich noch nicht. Eigentlich will ich nicht von hier weggehen, hauptsächlich wegen dir. So seltsam es klingen mag, aber du bist meine einzige echte Freundin. Devon wäre eine Möglichkeit. Dort wären wir näher bei Carol, die Delphine sehr gern mag. Oder in eine ganz neue Stadt. Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Bist du dir ganz sicher, Jo? Möchtest du nicht lieber ein Weilchen warten und wieder zu Kräften kommen, bevor du eine so weitreichende Entscheidung triffst?«
»Genau da liegt ja das Problem«, sagt sie sanft. »Ich glaube, solange ich hierbleibe, wird mir das, was vorgefallen ist, immer im Weg stehen.« Sie lächelt tapfer. »Komm, wir trinken Tee.«
Sie erzählt mir von ihrer neuen Therapie.
»In der Klinik habe ich angefangen, mich mit vielen Dingen auseinanderzusetzen, Kate. Mit meiner Kindheit und der Frage, inwiefern sie sich auf meine Ehe ausgewirkt hat. Mit meiner Gesundheit. Sieh mich bloß mal an!« Angewidert zupft sie an ihren Kleidern, unter denen sich nichts als Haut und Knochen verbergen. »Neal und ich haben gegenseitig die schlechten Seiten in uns hervorgebracht. Ich verstehe, wie das auf Außenstehende gewirkt haben muss, und wenn ich ehrlich bin, haben wir uns in gewisser Weise auch ergänzt. Ich wollte haben, was er geben konnte. Ich wollte ihn, aber dafür musste ich einen Preis bezahlen. Aber im Grunde muss man das doch immer, oder?«
Ist das tatsächlich so? Kann man niemals alles haben? Hat Jo sich so nach Neals Liebe gesehnt, dass sie sich mit allem arrangiert hat, auch mit seinen Misshandlungen?
Ich muss wieder daran denken, wie ich mich nach Zappas Tod gefühlt habe. Zappas Leben für meine Ehe – das war der Gedanke, der mir damals durch den Kopf ging. Jo tut genau das, was ich getan habe – sie gleicht emotionale Konten aus, die sich eigentlich nicht ausgleichen lassen.
»Sie hat vor, das Haus zu verkaufen«, erzähle ich Angus.
»Ehrlich?« Er klingt überrascht. »Nach allem, was du erzählt hast, hat es sich angehört, als wäre Neal derjenige, der immer auf dem Sprung ist, nicht Jo.«
»Das dachte ich auch. Andererseits ist es auch verständlich, oder? Dieses Haus ist mit so vielen schlimmen Erinnerungen verknüpft. Und hier …« Ich zögere. »Ich …« Behutsam berühre ich seinen Arm. »Wir haben immer noch nicht in Ruhe geredet. Über die Zeit, während du weg warst. Sollten wir das nicht, was meinst du?«
Da ist es wieder. Plötzlich bin ich nervös.
Er seufzt. »Ich war schrecklich eifersüchtig, Kate. Aber als ich mich halbwegs wieder im Griff hatte, konnte ich dir auch wieder vertrauen. Ich hatte nie ernsthaft Anlass, es nicht zu tun, aber vermutlich ist mein Glaube daran irgendwo unterwegs verloren gegangen.«
Soll ich ihn fragen? Wenn ich es nicht tue, wird es immer zwischen uns stehen und bei jedem Streit aufs Tapet kommen. »Angus? Lief da etwas zwischen dir und Ally?«
Wieder seufzt er. Zögert kurz. Das sagt mir alles, was ich wissen muss.
Mir wird übel. Ich stehe auf und wende mich zum Gehen, aber er packt meinen Arm. »Da war nichts. Aber sie wollte etwas mit mir anfangen. Eines Abends hatten wir ein bisschen zu viel getrunken, und sie hat mich geküsst, aber sehr schnell gemerkt, dass es ein Fehler war. Das ist alles. Deshalb habe ich das Hotel für uns gebucht. Ich hatte gehofft, dass du es nie erfährst.«
Ich erwidere nichts darauf, weiß jedoch, dass ich all das niemals nachvollziehen könnte, hätte Neal mich nicht geküsst. Ich fasse mir ein Herz und erzähle ihm alles, bis ins Detail.
»Das rechtfertigt zwar nichts, aber es war einfach eine seltsame Zeit. Du warst nicht hier. Grace auch nicht. Und dann ist Jo zu ihrem Computerkurs gefahren. Ich dachte, es sei eine nette, nachbarschaftliche Geste, ihn und Delphine zum Essen einzuladen.«
Angus beißt die Zähne zusammen. »Das war es wohl auch, allerdings hat Neal eben seine eigene Vorstellung von Nachbarschaftlichkeit.«
»Ehrlich gesagt bin ich nicht sicher, ob er das Ganze nicht sogar bewusst eingefädelt hat«, fahre ich langsam fort. »Ich habe es Laura erzählt, die nicht fassen konnte, dass ich es nicht kommen gesehen habe.«
Er hebt die Brauen. »Du hast es ihr erzählt?«
Ich nicke. »Ich musste mit jemandem darüber reden. Ich hatte so ein schlechtes Gewissen, Angus.«
Er schweigt einen Moment. »Du hast nichts falsch gemacht, Kate«, sagt er dann. »Es war tatsächlich eine merkwürdige Zeit, aber jetzt liegt sie ja hinter uns. Wir sind zusammen. Wir haben es überstanden, und alles andere spielt keine Rolle. Und jetzt komm her.«
Ich frage mich, welchen Preis seine Worte haben mögen. Ich kuschle mich an ihn, als ich knirschende Schritte auf dem Kies in der Einfahrt höre.
»Jemand ist an der Tür.«
Plötzlich klappert der Briefschlitz.
»Moment …« Ich schäle mich aus seinen Armen. Beklommen gehe ich in die Küche, reiße die Hintertür auf und blicke in die Finsternis. Aber wie die Male zuvor herrscht auch jetzt Stille. Ich mache die Tür wieder zu.
Dann entdecke ich den Umschlag.
Ich hebe ihn auf und kehre zu Angus zurück.
»Das wäre dann schon der dritte«, sage ich.
Er nimmt ihn mir aus der Hand, reißt ihn auf und runzelt die Stirn.
Nicht alles ist so, wie es scheint.
»Was soll das denn bedeuten?«
»Ich habe schon zwei andere bekommen, die ich der Polizei übergeben habe«, antworte ich. »Wenn du nur die Wahrheit kennen würdest, lautete der erste. Ein paar Tage danach kam der zweite. In einer Welt voller Menschen bin ich ganz allein.« Die Worte haben sich tief in mein Bewusstsein eingegraben. »Das muss etwas mit Rosie zu tun haben, denkst du nicht auch?«
»Etwas anderes kann ich mir kaum vorstellen.«
»Laura meint, es könnte auch bloß irgendjemand aus dem Dorf sein, der Ärger machen will, weil ich mit Jo befreundet bin.«
»Kann sein«, erwidert Angus nachdenklich. »Vielleicht hat sie ja recht … aber was, wenn der Verfasser dieser Nachrichten tatsächlich etwas weiß?«
Mir läuft ein kalter Schauder über den Rücken.
Ich nehme ihm den Zettel aus der Hand. »Ich rufe gleich morgen PC Beauman an.«
Angus nickt wortlos, ergreift meine Hand und zieht mich wieder an sich. »Also, Mrs. McKay, noch mal zu dem, was Sie vorhin gesagt haben … über die verlorene Zeit, die wir dringend nachholen müssen. Wollen wir gleich mal damit anfangen?«