19

Februar

Die ersten Osterglocken sprießen, als Rachael und ich bei einer Tasse Kaffee zusammensitzen.

Jo ruft mich an, und wir führen ein, gelinde gesagt, kryptisches Gespräch, auf das ich mir beim besten Willen keinen Reim machen kann.

»Ich habe die Software, die du wolltest. Kann ich sie dir heute Vormittag vorbeibringen? Würde dir das passen?«

»Wovon redest du, Jo?« Ich habe keine Ahnung, was sie meint. Von einer Software höre ich zum ersten Mal.

»Perfekt«, zwitschert sie. »Ginge es um zwölf? Ich weiß ja, dass du sie so schnell wie möglich installiert haben wolltest.«

»Geht es dir gut, Jo?«

Sie geht nicht auf meine Frage ein. »Keine Angst, das sollte nicht allzu lange dauern. Bis später.«

»Sehr seltsam«, sage ich zu Rachael. »Das war Jo, aber ich habe keine Ahnung, wovon sie gesprochen hat.«

»Wen wundert’s. Wäre eines meiner Kinder tot, und der Mörder würde immer noch frei herumlaufen …« Sie schüttelt den Kopf. »Ich würde den Verstand verlieren. Aber apropos Mörder …« Sie sieht mich erwartungsvoll an.

»Du meinst Alex? Wenn die Polizei nicht endlich ein paar handfeste Beweise findet, hat er wohl nichts mehr zu befürchten. Unglaublich, wie lange das alles dauert, nicht?«

Nachdenklich schlürft Rachael ihren Kaffee. »Manchmal frage ich mich, ob jemals wieder so etwas wie ein normaler Alltag einkehrt. Wo wir gerade über Normalität sprechen, wie geht es eigentlich Angus?«

»Ich denke, er ist ganz zufrieden. Ein bisschen zu zufrieden für meine Begriffe.« Ich frage mich, ob er in York allmählich Wurzeln schlägt.

»Ach«, wiegelt sie ab. »Die Kocherei und die viele Wäsche fehlen dir bestimmt nicht. Und falls ja, kannst du gerne was von mir abhaben.« Sie sieht auf die Uhr und runzelt die Stirn. »Oh, verdammt, das habe ich ja völlig vergessen.« Erschrocken springt sie auf. »Eigentlich sollte ich schon seit zehn Minuten in der Schule sein. Milos Lehrerin will mit mir reden, und dabei stehe ich mit der Frau ohnehin auf Kriegsfuß …«

Sie rennt zur Tür und bläst mir einen Kuss zu. »Entschuldige, wenn ich dich einfach sitzen lasse, und grüß Jo schön von mir.«

Kaum ist sie weg, taucht Jo auf, hinter ihr weht ein Schwall kalter Luft herein. Sie ist zu früh.

»Bitte entschuldige wegen vorhin, Kate. Neal hat zugehört. Das tut er neuerdings ständig.« Sie ist zappelig, kann kaum still sitzen.

»Ich verstehe nicht ganz, Jo. Weshalb darf er denn nicht wissen, dass du herkommst?«

»Weil er weiß, dass ich mit dir rede. Und er verbirgt etwas vor mir, Kate. Etwas, wovon keiner erfahren soll, nicht mal ich.«

O Gott. Mein Mund fühlt sich plötzlich trocken an. Hat sie herausgefunden, was um ein Haar zwischen uns geschehen wäre?

Angespannt fährt sie sich mit den Händen durchs Haar. »Hast du kurz Zeit? Ich sage dir alles … Gott, Kate. Es ist einfach zu viel. Ich kann nicht mehr klar denken …«

»Ich mache uns einen Kaffee. Geht’s, Jo?«

Statt einer Antwort starrt sie nur vor sich hin. Besorgt setze ich den Kessel auf, doch dann fährt sie fort: »Du erinnerst dich doch, dass ich dir erzählt habe, ich sei die absolute Flasche in Computerdingen. Bisher habe ich die Dinger kaum angefasst, aber seit dem Kurs … Egal. Jedenfalls habe ich gestern ein Dokument gesucht, das ich gespeichert hatte, aber …« Sie hält inne.

Ich stelle die Becher auf den Tisch und setze mich.

»Sprich weiter.«

Als sie den Becher nimmt, zittern ihre Hände so sehr, dass der Kaffee überschwappt. Sie stellt ihn wieder hin und sieht mich eindringlich an.

»Ich habe neulich Neals Laptop benutzt, ein uraltes Ding, von dem ich gar nicht wusste, dass wir es überhaupt haben. Ich habe ihn ganz unten in seinem Kleiderschrank gefunden …« Wieder unterbricht sie sich. »Wie gesagt, ich wollte ein Dokument aufrufen, das ich gespeichert hatte, und bin dabei auf diese Files gestoßen, Kate«, sagt sie so leise, dass ich sie kaum verstehe.

»O Gott.« Wieder fährt sie sich mit der Hand durchs Haar. »Ich bin nicht sicher, ob ich das wirklich kann.«

»Jo … Was ist denn? Sag es mir.«

Sie starrt auf einen Punkt neben mir und holt tief Luft.

»Sie sind grauenvoll, Kate. So etwas habe ich noch nie gesehen.«

Ich verspüre Übelkeit, als mir dämmert, worauf sie hinauswill.

»Er steht auf Pornografie, und zwar auf die der allerschlimmsten Sorte. Gewalttätiger Sex, Vergewaltigungen … Sex, bei dem Menschen getötet werden.«

Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern, und in ihren Augen flackern Angst und Entsetzen.

»Das ist noch nicht alles. Es gibt Links zu diversen Webseiten. Ich kann dir nicht sagen …« Sie schlägt die Hand vor den Mund. »Ich konnte sie gar nicht ansehen …«

Ihre Augen sind leblos, als wäre sie in Trance. »Neal hat sich immer um alles gekümmert.«

Mir gefriert das Blut in den Adern. Was will sie damit andeuten?

Ihr Gesicht ist kreidebleich. »Es ist alles da, Kate. Daten. Alles. Selbst eine Idiotin wie ich weiß, wann er die Dateien zuletzt geöffnet und sich die Fotos angesehen hat. All die Daten, Kate, sind von der Zeit davor

Ihre Augen sind weit aufgerissen.

»Was, wenn er sie getötet hat?«

Es herrscht eine lähmende Stille. Erschüttert blicke ich sie an.

Flüchtig denke ich an den Abend, als er hier war. Habe ich mit einem Mörder zu Abend gegessen? Hat dieselbe Hand, die meine Finger berührt hat, Rosie getötet? Dann setzt mein gesunder Menschenverstand wieder ein.

»Das ist doch lächerlich«, sage ich. »Neal ist doch kein Mörder. Und schon gar nicht der seiner eigenen Tochter.«

Schweigend starrt Jo mich an, und es läuft mir eiskalt den Rücken hinunter.

»Du kennst ihn nicht«, sagt sie schließlich. »Und das willst du lieber auch nicht. Bestimmt glaubst du mir kein Wort, niemand tut das … aber er hat eine andere Seite.« Die ganze Zeit ist ihr eindringlicher Blick auf mich geheftet, als flehe sie mich förmlich an, ihr zu glauben. »Er ist krank, Kate. Eine verkorkste, brutale, grausame Seite … was er dir auch immer erzählt haben mag, er steht darauf, mir wehzutun, mir zu sagen, wie hässlich ich bin. Nicht nur dieses eine Mal, als du es mitbekommen hast, sondern tausende Male. Es wäre besser für alle, wenn ich nicht mehr leben würde. Auch das hat er gesagt.«

Ein Schluchzen dringt aus ihrer Kehle.

»Ich habe mich so angestrengt, die Frau zu sein, die er sich wünscht. Seine Frau, Mutter zu sein, schön zu sein, damit er stolz auf mich ist. Aber es ist einfach nie genug.«

Tränen quellen aus ihren Augen. Tränen der Kränkung und der Resignation. Sie sackt in sich zusammen, als der letzte Rest Kampfgeist in ihr zu verpuffen scheint.

»Er war schon immer so, seit wir uns kennen. Anfangs war er einfach nur etwas brutaler als andere. Beim Sex, meine ich. Ich dachte, das sei normal, Kate. Dass ihn die Leidenschaft eben übermannt, weil er mich so liebt … und dann konnte er wieder so liebevoll sein und mir all die wunderschönen Dinge kaufen …« Sie zögert, offenbar werden schmerzliche Erinnerungen wach.

»Im Lauf der Jahre wurde es immer schlimmer. Ich wusste ja, dass er gewalttätig sein kann. Er schlägt mich, Kate … Danach hasst er sich selbst dafür, aber er kann sich einfach nicht beherrschen.«

Entsetzt starre ich sie an, unfähig, den Blick abzuwenden, als sie langsam ihren üppigen, weichen Schal löst, unter dem ein frisches, leuchtend rot-violettes Mal zum Vorschein kommt. Unwillkürlich presse ich die Hand auf den Mund.

»Er würgt mich, Kate. Auch wenn ich ihn anbettle, es nicht zu tun. Beim Sex. Bis ich ohnmächtig werde. Es erregt ihn. So ein Mann ist er in Wahrheit.«

Sie spricht ganz langsam, so als wäre sie gar nicht bei sich, als würde sie über jemand anderen sprechen. Ich bin schockiert. Auch wenn ich gehört habe, dass Partner in gegenseitigem Einvernehmen derartige Praktiken anwenden. In Jos Fall ist das Körperverletzung. Deshalb trägt sie ständig Schals, auch wenn es warm ist. Wie kann der von allen verehrte, renommierte, vielfach ausgezeichnete Neal Anderson so ein Ungeheuer sein?

»Beim letzten Mal hat er gesagt, er hätte sich schon überlegt, wo er mich verscharren wollte«, fährt sie fort. »Er hat gelacht, aber das war kein Scherz, Kate. Der Garten ist schließlich groß genug, oder? Er würde den Leuten einfach erzählen, seine verrückte Frau hätte ihn verlassen, und dann hätten sie alle Mitleid mit ihm. Alle glauben ihm, so ist das immer. Niemand würde je auf die Idee kommen …«

Sie zittert und hat die Hände so fest ineinander verkrallt, dass ihre Knöchel weiß hervortreten.

»Ich habe mitbekommen, wie er Rosanna geschlagen hat. Keine Ahnung, was er sonst noch getan hat. Ich weiß, dass es falsch ist und ich schwach und erbärmlich bin, aber ich konnte ihn nicht danach fragen. Er hat sie terrorisiert, Kate. Sie durfte gar nichts, keine Freunde haben, sich nicht mit anderen treffen. Und wenn er wütend wurde … ich weiß, dass du mir kein Wort glaubst, aber er ist ein böser Mensch, ganz ehrlich.«

Doch zugleich hallen Worte in meinem Kopf wider. Worte, die ich so oft aus ihrem Mund gehört habe. Er ist ein bemerkenswerter Mann … Bemerkenswert …

»Und seit wann geht das schon so, Jo?« Ich ertrage es nicht, zu hören, dass sie ihn so sehr braucht und ihm daher alles verzeiht.

Sie erwidert meinen Blick. »Seit Jahren.«

»Wie hast du das nur ausgehalten?«, frage ich fassungslos. »Und was ist mit den Mädchen?« Schlummert nicht in jeder Mutter der Instinkt, ihre Kinder, ihr höchstes Gut, zu beschützen?

Sie zögert. »Ich habe nicht erwartet, dass du es verstehen würdest, aber wenn man diese dunkle, gleichzeitig aber auch verletzliche Seite erst einmal gesehen hat, kann man nicht anders und will ihm helfen. Es ist nicht richtig, aber ich habe all die Jahre Ausreden für sein Verhalten gefunden. Er kann auch ein guter Mensch sein, das weißt du selbst. Denk nur an das Waisenhaus … Und ich war mir immer sicher, dass er mich braucht. Ich wusste es. Aber … ich hätte nie im Leben gedacht, dass er zu so etwas fähig wäre.«

Mit »so etwas« meint sie den Mord an Rosie. Ich bemühe mich nach Kräften, zu verstehen, wie dieser bemerkenswerte Mann plötzlich so ein Ungeheuer werden konnte. Wie jemand die Wahrheit so verdrehen kann, ohne dass es jemand mitbekommt. Wie Jo all die Jahre sich selbst und ihr gesamtes Umfeld getäuscht hat und sich erst nun, da sie die unmissverständlichen Beweise vor Augen hat, überwinden kann, der Wahrheit ins Auge zu blicken.

Plötzlich springt sie aufgebracht von ihrem Stuhl auf. »O Gott, was, wenn er weiß, dass ich ihn dabeihabe? Wenn er herkommt?«

Mein Herzschlag setzt kurz aus. »Das wird er nicht. Er weiß doch gar nicht, wo du hingefahren bist, Jo.«

Ihre Hände zittern.

»Wo ist er? Der Laptop, meine ich.«

»In meiner Tasche.«

Sie legt sie auf den Tisch und öffnet sie.

Was sie mir dann zeigt, werde ich bis an mein Lebensende nicht mehr vergessen.

»Was soll ich jetzt tun? Was soll ich nur tun?«, flüstert sie, während ich schockiert auf den Bildschirm starre.

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, Jo«, sage ich. Mein Verstand ist wie gelähmt, während ich versuche, mir einen Reim auf all das zu machen und zu einem anderen Ergebnis als der abscheulichen, schockierenden Realität zu gelangen, die sie mir gerade präsentiert hat. Doch ich kann es drehen und wenden, wie ich will – die Antwort bleibt stets dieselbe.

Mein Tod ist dein
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