Rosie

Als Nächstes kommen Bilder – von anderen Städten, anderen Häusern, anderen Schulen. So viele, dass ich mich weder an die Reihenfolge noch die Namen erinnern kann. Dass ich mittlerweile daran gewöhnt bin, fremde Klassenzimmer zu betreten, zwanzig Augenpaare auf mir zu spüren und von Lehrern mit Fragen bombardiert zu werden, macht es trotz aller Vorhersehbarkeit auch nicht besser.

Diesmal ist es das Haus in Bath, einer Stadt mit Gebäuden aus honigfarbenem Stein und sanftem Licht. Überall Musik und Schönheit. Wärme und Leben. Unser Haus ist alt, dreigeschossig und steht in der Nähe des Flusses, so dass man den Verkehr nicht hört, sondern nur das Wasser, das über das Wehr rauscht, endlos, mühelos, seit vielen, vielen Jahren.

Ich strenge mich in der Schule an und schreibe gute Noten, und Mummy beteuert ständig, wie glücklich sie sei. Neuerdings hat sie eine Freundin namens Amy, die rote Haare hat, ausgeflippte Klamotten trägt und uns ständig zum Lachen bringt. Sie drückt mich immer fest an sich, und mir steigt ihr blumiges Parfum in die Nase. Mein Vater ist mit seinem neuen Auftrag beschäftigt, und die Schatten und die Düsternis scheinen zu verschwinden, und unser Haus ist voller Licht.

Dieser Zustand hält fast ein Jahr lang an, und ich erlebe wenigstens einmal ein unvergessliches Weihnachtsfest. Das Treppengeländer ist mit Girlanden geschmückt, und unter dem hübschen, glitzernden Baum liegen viele Geschenke. Es wird viel gelacht. Und es schneit sogar. Ein Weihnachtsfest mit der Verheißung auf ein wenig Glück.

Zu Ferienbeginn darf ich eine Party geben. Ich bekomme ein Samtkleid mit Silberknöpfen, und Amy macht mir Locken. Nachmittags kommen alle meine Freundinnen, wir machen Spiele, singen Weihnachtslieder, zu denen Amy uns auf der Gitarre begleitet. Dann gibt es Tee und richtiges Partyessen – Würstchen am Spieß, Mini-Cheeseburger, in Schokolade getauchte Marshmallows, Wackelpudding und Eiscreme. »Weil eine Party immer etwas ganz Besonderes sein sollte«, sagt Mummy. Es ist ein perfekter, wunderschöner Nachmittag, und zum Abschied gibt sie meinen Gästen noch ein kleines, mit einer Schleife verziertes Geschenk mit.

»Du möchtest doch, dass die anderen dich gernhaben, Rosanna, oder nicht? Wann immer sie das Geschenk in der Hand halten, sollen sie sich daran erinnern, wie schön deine Party war und wie hübsch das Haus ausgesehen hat.«

Als alle weg sind, kommt Amy in mein Zimmer und überreicht mir ein Geschenk – ein kleines silbernes Pferd.

Mit geheimnisvoll funkelnden Augen legt sie den Finger auf die Lippen. »Als ich so alt war wie du, hatte ich ein Bettelarmband«, sagt sie. »Das hier war mein allererster Anhänger, und ich möchte, dass du ihn bekommst.«

Ich halte ihn so fest in meiner Hand, dass sich die winzigen Hufe in meine Haut graben. Es ist das Kostbarste, was ich je geschenkt bekommen habe. Ein Stück von Amy.

»Versteck es lieber. Das bleibt unser Geheimnis«, fügt sie zwinkernd hinzu.

Wenige Tage vor Weihnachten geben meine Eltern ebenfalls eine Party. Ich trage das Pferdchen an einem Band um den Hals und lausche mit Della der Musik und den Stimmen. Wir schleichen uns auf die Treppe und linsen durchs Geländer hinunter auf die Gäste in ihren eleganten Abendkleidern und Dinnerjackets. Doch Glamour und Opulenz, raffinierte Frisuren und teure Kleidung können nicht verbergen, dass die Leute, vom Alkohol befeuert, sich in Szene setzen, flirten und sich begrapschen.

Und mitten im Getümmel ist Mummy, deren Strahlkraft in der Gegenwart ihrer Freunde perfekt zur Geltung kommt wie ein Juwel, während sie reihum ihre Gäste in den Genuss ihrer Aufmerksamkeit kommen lässt und dafür sorgt, dass auch sie sich an den Abend als schönste Weihnachtsparty aller Zeiten erinnern werden. Dass sie sich an sie erinnern werden.

Doch trotz all ihrer Freunde, die sie von Herzen lieben, bemerkt sie sie. Und Amy ebenfalls. Eine weitere Frau, die wie die Motte vom Licht angezogen wird, mit langem, goldblondem Haar und kirschroten Lippen. Und sie umschwärmt meinen Vater nicht, sie stürzt sich geradewegs auf ihn.

Ich weiß noch, dass ich durchs Fenster beobachte, wie sie aufbricht, vor allen anderen, ohne mitzubekommen, dass mein Vater sich zur Hintertür hinausgeschlichen hat und ihr die Straße hinunterfolgt.

»Das dürfen wir nicht«, sagt sie, wobei sich in der Kälte weiße Atemwölkchen vor ihrem Mund bilden, als er sie in den Schatten eines Baumes zieht. »Deine Frau ist so reizend. Du hast Familie, Neal …«

»Es ist doch nur ein Kuss«, raunt er, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt, und sie erkennt, wie sehr er sie begehrt. »Ein Kuss.«

Sie will ihn, selbst hier draußen, in der eisigen Kälte. Ich bemerke es an der Art, wie sie ihn unter den halb geschlossenen Lidern hervor ansieht, an ihren geöffneten roten Lippen. Eine unsichtbare Hand scheint sie zu ihm zu ziehen. Diesmal ist es nur ein Kuss, aber es wird ein nächstes Mal geben, das wissen sie beide, flüsternd werden sie es heimlich planen, sich in Lügen verstricken.

Als er zurückkommt, ist die Party in vollem Gange. Vielleicht bilde ich es mir ja nur ein, aber einen flüchtigen Moment lang scheint das Stimmengewirr zu ersterben, ehe es erneut einsetzt, fröhlicher und um ein paar Dezibel lauter als zuvor. Ich glaube zu erkennen, wie Köpfe sich drehen, bevor die Gäste sich wieder ihren Gesprächspartnern zuwenden, als wäre nichts geschehen. Merken sie es überhaupt? Spielt es eine Rolle für sie?

Aber irgendetwas ist anders. Das Funkeln hat etwas von seiner Leuchtkraft eingebüßt, die Verheißung auf ein bisschen Glück ist dahin. Mummy strahlt nicht länger. Sie ist kreidebleich.

Die Schatten sind zurück, dann kommen die Umzugskartons. Amy schaut vorbei und beschwört Mummy, ihn gehen zu lassen und hierzubleiben.

»Du kannst nicht so weitermachen«, sagt sie und blickt Mummy ernst an. »Bitte, Jo. Ich helfe dir, das weißt du genau. Du und die Mädchen könnt bei mir wohnen. Wir suchen dir einen guten Anwalt. Du fängst noch mal von vorn an. Alles wird gut, Süße, das verspreche ich dir.«

Dieses eine Mal zögert Mummy. Für den Bruchteil einer Sekunde stellt sie sich ein Leben ohne meinen Vater vor, in ihrem eigenen Haus, eine Zukunft, die nur sie allein sehen und über die ich lediglich spekulieren kann. Aber dann formen sich die Worte hinter ihrer Stirn.

»Du kennst ihn nicht so wie ich. Er kann nicht anders. Aber er braucht mich. Ich weiß, dass du nur das Schlechte in ihm siehst, aber in Wahrheit ist er ein wirklich bemerkenswerter Mann.«

Amy hat Tränen in ihren wunderschönen grünen Augen, als sie sich umdreht und geht.

In diesem Augenblick lerne ich, wie fragil Herzen sind. Man kann sie nicht endlos brechen. Irgendwann verwandeln sich die lebenden Zellen, die es zusammenhalten, in totes, kaltes Narbengewebe, das nicht länger fühlen kann. Das nicht mehr lieben kann.

Wir bekommen Amy nicht mehr zu Gesicht. Der Umzugswagen kommt, und wir ziehen wieder einmal um, in eine andere Stadt, in ein anderes Haus. Ich besuche eine andere Schule.

Und als ich meine Sachen auspacke, ist das kleine Silberpferd verschwunden.

Mein Tod ist dein
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