Rosie
Ein weiterer Schnappschuss meiner Eltern blitzt vor meinem geistigen Auge auf. Sie sind das perfekte Paar, ergänzen sich in vielerlei Hinsicht ganz hervorragend. Im selben Maß, wie Neal stärker und erfolgreicher wird, scheint Joanna zu schrumpfen und zu verblassen – stets die exakte Gegenreaktion auf alles, was er tut.
Aber nach einer Weile genügt das nicht mehr. Nicht für Neal. Er braucht mehr. Mehr Macht, über ihre Gefühle, ihr Leben, ihr Glück. Er muss die Grenzen ausreizen, muss die Kontrolle über ihre Empfindungen haben. Er muss in ihren Augen erkennen, wie sehr sie ihn braucht, die Kränkung sehen, wenn er sie zurückweist. Oder sie nach allen Regeln der Kunst verführen, sie anmachen, sie an den Punkt bringen, an dem ihr Körper nach ihm lechzt. Dann legt er ihr die Hände um den Hals und drückt so lange zu, bis sich ihre Augen schließen und ihr Kampfgeist erlahmt. Sie vergeht vor Verlangen, aber die ersehnte Erlösung erfolgt nicht. Die ultimative Kontrolle darüber, ob sie atmet oder nicht, erfüllt ihn mit einer nie gekannten Erregung.
Joanna hat sein mieses kleines Geheimnis bisher sorgsam gewahrt, nur diesmal werde ich Zeuge. Er schließt die Schlafzimmertür hinter ihnen, schleift sie quer durch das Zimmer, drückt sie gegen die Wand und schnürt ihr mit der einen Hand die Luft ab, während er ihr mit der anderen die Kleider vom Leib reißt.
Sie bettelt ihn an, es nicht zu tun. »Bitte, Neal.«
Sie hat Angst und weiß, was gleich passieren wird. Sie weiß, dass es ihr letzter Atemzug sein könnte.
Aber es gelingt ihr nicht, ihm Einhalt zu gebieten.
»Bitte, Neal, nicht so.«
Er hört nicht auf sie. Er kann sie nicht hören, weil er sich längst in ihrem Schmerz, ihrer Angst verloren hat. Seine Hände liegen um ihren Hals, während er in sie stößt.
Am liebsten will ich die Augen schließen und wünschte, das Bild würde in der Mitte zerreißen, so dass mein Vater sich nicht weiter an ihr vergehen kann. Ich wünschte, jemand würde ihm die Hände abhacken und die Zunge herausschneiden. Ich will ihn von ihr fortreißen, schreie ihn an, dass er sie in Ruhe lassen soll, dass er ein Monster ist, das alle hassen. Warum können sie ihre eigene Tochter nicht hören?
Doch ich bin gezwungen, weiter zuzusehen, eine halbe Ewigkeit, in abscheulicher Zeitlupe. Seine Hände schließen sich immer noch um ihre Kehle, während er immer heftiger zustößt, bis ihre Augen aus dem Höhlen treten, ihr Kopf zur Seite kippt und die Geräusche verstummen.
Einen Moment lang herrscht Totenstille, bis ein leises Wimmern aus der Kehle der zarten Gestalt auf dem Boden dringt. Ein Laut, der in ein heiseres Weinen übergeht. Ihr Hals ist rau, ihre Haut rot und pocht vor Schmerz. Sie ist allein. Er ist nach unten gegangen und trinkt seinen Whiskey, während ich mich neben sie setze, ihr übers Haar streiche und sie beschwöre, dass sie ihn verlassen muss. Dass das keine Liebe ist und es keinen Namen für das gibt, was er mit ihr tut.
Aber sie kann mich nicht hören, sondern hält sich ein weiteres Mal vor Augen, was für ein Glückspilz sie ist, obwohl sie Angst vor ihm hat, Angst vor den Schmerzen, die er ihr zufügt, den Wunden, sowohl auf ihrer Haut als auch viel tiefer, in ihrem Inneren.
Außerdem liebt er sie doch, oder nicht? Wie lange hat sie darauf gewartet? Darauf, sich so begehrt, so perfekt zu fühlen, so zierlich und klein zu sein. Sie schlingt sich einen Schal um den Hals und denkt, wie viel sie zu verlieren hat. Wie viele Schals in ihrem Kleiderschrank liegen. Und dass sie doch einen bemerkenswerten Mann geheiratet hat.
Das Baby ist nicht geplant. Zumindest das erste nicht. Eines Tages werden sie eine Familie haben, aber noch nicht jetzt. Sie ist nicht bereit dafür, beobachtet voller Angst, wie sich ihr Bauch bereits wölbt und sie ihre Figur einzubüßen droht, wie sich ihr Körper komplett ihrer Kontrolle entzieht. Der winzige Fuß, der sich unter ihrer Bauchdecke abzeichnet, verformt nicht nur ihre Haut, sondern stellt auch ihr Herz auf eine harte Probe.
Sie ist hin und her gerissen zwischen dem Baby und ihrem Aussehen. Für sie zählt nicht, dass ihre Augen strahlen, ihre Haut diesen ganz besonderen Schimmer besitzt und sie neues Leben unter ihrem Herzen trägt, sondern einzig und allein, dass ihr Körper an Umfang zunimmt.
Und sie hat Angst, weil sie nicht weiß, ob sie dem gewachsen ist.
Mit jedem Tag wird ihre Angst größer, aber am Ende erweist sie sich als unbegründet. Denn die Wehen setzen viel zu früh ein, das Baby ist noch zu klein und nicht fähig, allein zu atmen. Und das Leuchten in ihren Augen erlischt zeitgleich mit dem ersterbenden Herzschlag des Babys. Ich nehme wahr, wie sie innerlich zerbricht, als sie ihn berührt, in den Armen hält und schließlich verliert. Ich sehe ihn zum ersten Mal, er ist so schön. So rein.
Das Baby, das sie erst wollte, als sie es verloren hatte.
Aber er ist mehr als das.
Er ist der Bruder, von dem ich nicht wusste, dass ich ihn je hatte.