15

Dezember

Nach Rosies Tod scheint Weihnachten viel zu schnell näherzurücken, und ich fasse Jo förmlich mit Samthandschuhen an. Ich hatte schon immer eine besondere Schwäche für die Vorweihnachtszeit, schmücke liebevoll das ganze Haus, lade Freunde ein, suche Geschenke für meine Familie aus und verwöhne sie nach Strich und Faden. Und in diesem Jahr ganz besonders. Da es das erste Weihnachtsfest seit Grace’ Auszug und Rosies Tod immer noch allzu präsent ist, erscheint mir die Zeit noch kostbarer als sonst.

»Ach, wir haben dieses Jahr einen unechten«, sagt Jo, als ich anbiete, einen Baum für sie mitzubringen. »Die echten machen so viel Dreck. Unserer sieht täuschend echt aus – wenn man es nicht weiß, käme man nie darauf.«

Wüsste ich nicht, dass Jo einen Sauberkeitsfimmel hat, hätte ich ihre Bemerkung womöglich als abfällig empfunden. Auch wenn es absurd scheinen mag, kann ich mir nicht vorstellen, dass es im Haus statt nach Pinienharz nach Plastik riecht und ich nicht nach Monaten noch vereinzelte Nadeln in den Ritzen finde. All das würde mir zu sehr fehlen.

»Ihr müsst rüberkommen. Nur auf ein Gläschen oder so«, sage ich aus einem Impuls heraus. Erst später wird mir bewusst, dass es angesichts der Ereignisse womöglich ein Fehler gewesen sein könnte. »Bringt ruhig Delphine mit, wenn sie mag.«

Ein paar Tage danach ruft Laura an. Auch wenn das ganze Haus in den warmen Schimmer von Weihnachtsbeleuchtung und brennenden Kerzen getaucht ist, scheint sich eine tiefe Dunkelheit über mich zu legen.

»Ich will dich gar nicht lange aufhalten«, sagt sie. »Ich weiß ja, dass du viel zu tun hast, aber ich dachte, du solltest Bescheid wissen. Die Polizei hat Alex festgenommen und zur Befragung aufs Revier gebracht.«

»O Gott.« Plötzlich habe ich so weiche Knie, dass ich mich hinsetzen muss. »Bist du sicher?«

»Ja. Offenbar hat der Freund, der ihm ein Alibi verschafft hat, auf einmal einen Rückzieher gemacht. Es sieht so aus, als hätten sie beide gelogen. Kate? Bist du noch da?«

Meine Gedanken schweifen zu Alex im Gartencenter und zu dem Gespräch auf der Lichtung, als er voller Verbitterung und Wut schwere Vorwürfe gegen Neal erhoben hat; Anschuldigungen, in denen eine unterschwellige Drohung mitschwang.

»Kate?«

»Entschuldige, ich musste nur gerade an etwas denken. Ich kann nicht glauben, dass Rosie sich mit jemandem eingelassen haben soll, der zu einer solchen Tat fähig ist.«

»Nun ja, immerhin haben sie ihn geschnappt. Ist dir klar, was das bedeutet? Es wird einen Prozess geben, aber zumindest ihr könnt jetzt alle in Ruhe weiterleben.«

Damit wird uns nicht nur eine Last von den Schultern genommen, sondern die Gewissheit ist eine echte Wohltat – nur nicht für Jo, Neal und Delphine.

»Da ist noch etwas anderes«, fährt Laura ernst fort. »Alex wurde vor ein paar Jahren wegen schwerer Körperverletzung festgenommen. Er hat einen Typen verprügelt, der seiner damaligen Freundin nachgestellt hat.«

»Und das war nicht bloß eine harmlose Teenie-Schlägerei?«, frage ich. »So was kommt doch laufend vor. Jungs, die einem Rivalen eins auf die Nase geben …«

»Nein, in diesem Fall nicht«, sagt sie leise. »Alex hat ihn halb totgeprügelt, so dass er ins künstliche Koma versetzt werden musste.«

An diesem Abend findet unsere kleine Party statt. Das ganze Haus duftet nach Zimt, den Angus in den Glühwein gegeben hat. Es ist mollig warm, und Nadeln fallen bereits von unserem Weihnachtsbaum, obwohl ich ihn erst am Nachmittag aufgestellt habe. Der Kamin ist mit Efeu und Lärchenzweigen aus dem Garten geschmückt, und überall brennen Kerzen. So ist es immer bei uns an Weihnachten – ein bisschen chaotisch und unaufgeräumt, aber behaglich.

Normalerweise trage ich bei solchen Gelegenheiten eine saubere Jeans und mein Samt-Chiffon-Oberteil, einen Hauch mehr Make-up als sonst und vielleicht Nagellack – festlich, aber nicht übertrieben, doch da ich weiß, dass Jo sich bestimmt in Schale geworfen hat, gebe ich mir ein bisschen mehr Mühe.

»Ein Kleid?«, fragt Angus entsetzt. Er ist irritiert, weil ich gegen unseren Dresscode verstoßen habe. »Ich dachte, wir trinken nur was zusammen, ganz locker.«

»Tun wir auch«, beruhige ich ihn. »Aber es spricht doch nichts dagegen, sich ausnahmsweise mal ein bisschen hübsch zu machen, oder?«

Mein verwirrter Ehemann schüttelt den Kopf und sieht an sich hinunter, als überlege er, ob er nun seine üblichen Freizeithosen gegen einen Anzug eintauschen muss.

»Du bist perfekt, wie du bist«, sage ich.

Ich wünschte, Grace wäre hier, aber sie kommt erst morgen, außerdem hätte sie bestimmt etwas vorgehabt. Wir haben Rachael und Alan eingeladen und unsere Nachbarn, Ella und David, beide sensible Künstlertypen mit einem großen Herzen und tiefem Mitgefühl für Jo und Neal, auch wenn sie als kinderloses Paar nicht wirklich nachvollziehen können, was ein solcher Verlust für Eltern bedeutet. David ist Architekt, Ella malt Bilder, und obwohl wir in einer völlig anderen Welt leben als sie, verstehen wir uns sehr gut. Sie kommen etwas früher. Ella lässt sich von mir ein paar Tipps für ihren Garten geben, während David Angus zu dem Wintergarten berät, den er sich sehnlichst wünscht, wenngleich wir ihn uns nicht leisten können.

»Solange Kate ihre Pferde hat, kriegen wir das nicht hin«, erklärt mein armer, geplagter Ehemann wehmütig. »Hast du eine Ahnung, was die Viecher fressen? Und was die Ausstattung kostet?«

Ehe David sein Mitleid bekunden kann, treffen die Andersons ein.

Ich habe Ella, die die beiden nicht kennt, bereits darauf vorbereitet, dass Jo wahrscheinlich wie ein Filmstar aussehen wird und, sofern sie in Form ist, nach allen Regeln der Kunst ihren Ehemann anflirten wird. Ella ist das egal, außerdem haben die beiden Künstler ihre eigenen Vorstellungen von einem Dresscode. Aber als Jo und Neal hereinkommen, traue ich meine Augen kaum.

Jo trägt knallenge Skinny-Jeans und ein weites Top, aus denen ihre Arme und Beine wie Streichhölzer ragen, und hat ihr Haar mädchenhaft-nachlässig hochgesteckt. Bei ihrem Anblick wird sofort klar, dass ich völlig overdressed für meine eigene Party bin.

Neal schüttelt Angus die Hand und begrüßt mich mit einem Kuss auf die Wange. Scheinbar sind meine Vorwürfe von neulich vergessen, und er verströmt eine freundliche Jovialitiät, mit der er unsere Nachbarn im Nu für sich einnimmt. Wenig später plaudern die drei angeregt, während Angus für die Getränke sorgt.

Jo gesellt sich zu mir. Ich lege die Arme um sie und drücke sie an mich. »Hi. Wo ist Delphine?«

»Sie ist zu Hause geblieben, weil sie sich nicht besonders fühlt«, sagt sie. »Die arme Kleine. Hoffentlich ist sie bis Weihnachten wieder auf dem Posten.«

»Verstehe«, erwidere ich. Das ist das Maximum an Mütterlichkeit, das ich bislang bei ihr erlebt habe.

Wenig später treffen Rachael und Alan ein.

Die Andersons blasen förmlich zur Charme-Offensive, verhalten sich, als würde nur das Hier und Jetzt für sie zählen. Wenn man sie so sieht, käme man nie auf die Idee, welche Tragödie sich in ihrem Leben vor wenigen Wochen erst ereignet hat. Neal nimmt Davids Visitenkarte entgegen und verspricht, sie einem Kollegen weiterzugeben, der händeringend nach einem guten Architekten sucht, während Jo verkündet, sie müsse sich unbedingt Ellas Arbeiten ansehen, weil sie schon seit einer Ewigkeit »mal etwas anderes« haben wolle. Natürlich kommt die Sprache unweigerlich auf den renommierten Preis, für den Neal nominiert wurde, doch er gibt sich bescheiden.

»Ich fühle mich sehr geehrt«, sagt er nur, »aber habt ihr eine Ahnung, wie viele heimliche Helden es da draußen gibt? Sie sind diejenigen, die diesen Preis eigentlich verdienen, weil sie viel, viel mehr tun als wir.«

Ich schaue zu Jo hinüber, die den Worten ihres Mannes lauscht, ohne eine Miene zu verziehen.

Eigentlich hatte ich mich innerlich auf einen eher trübseligen Abend gefasst gemacht. Immerhin liegt Rosies Tod erst wenige Wochen zurück, und Alex wurde festgenommen, deshalb habe ich den Kreis bewusst überschaubar gehalten. Aber der Abend verläuft erstaunlich entspannt und harmonisch. Wir trinken ein bisschen zu viel, sagen ein oder zwei Dinge, die wir morgen früh vielleicht bereuen, und Rachaels Lachen schallt durchs ganze Haus. Erst spät brechen die sechs auf, verabschieden sich wie alte Freunde und wünschen einander von Herzen und gut gelaunt frohe Weihnachten. Angus und ich blicken ihnen hinterher, Atemwölkchen steigen in die Luft, als sie mit knirschenden Schritten die Einfahrt entlanggehen.

»Ich hatte mir den Abend ganz anders vorgestellt«, bemerkt Angus kopfschüttelnd und legt den Arm um mich. »Nach allem, was du erzählt hast, hatte ich mich eher auf hitzige Debatten oder emotionale Dramen eingestellt, aber die beiden scheinen sehr nette Leute zu sein, oder?«

Ich schiebe meine Hand unter seinen Pulli. »Ja, trotzdem tun sie mir so unendlich leid. Es ist ihr erstes Weihnachten ohne Rosie … Es wird sehr schwer für sie werden.« Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn. »Danke.«

Überrascht sieht er mich an. »Wofür?«

»Für dein Verständnis. Dafür, dass du mich daran hinderst, mich allzu tief hineinziehen zu lassen. Und dafür, dass du immer für mich da bist.«

Mein Tod ist dein
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