8

September

Das nächste Mal begegne ich Jo bei Rosies Begräbnis – einer sehr emotionalen Belastungsprobe. Es herrscht strahlender Sonnenschein. Es fließen viele Tränen, und viel zu viele Menschen drängen sich in der Dorfkirche. All jene, die drinnen keinen Platz mehr bekommen, warten draußen und bilden eine Art menschlichen Tunnel, der sich, wie ich später erfahre, hinter ihrem Sarg schließt. Wenigstens hier wird sie von allen Seiten beschützt.

Die Zeremonie – das Blumenmeer, die bekannten Lieder und die unerträgliche, alles verschlingende Traurigkeit, die uns vereint – lässt den Anlass, warum wir hier zusammengekommen sind, einen Augenblick in den Hintergrund rücken. Lediglich die beiden uniformierten Polizisten erinnern daran, dass Rosies Leben ein gewaltsames Ende genommen hat. Irgendwann stupst Grace mich an und flüstert: »Poppy.« Auf der anderen Seite der Kirche mache ich ein bildhübsches, viel zu stark geschminktes Mädchen zwischen den anderen Trauergäste aus, der die Wimperntusche über die Wangen läuft.

Eine Handvoll tapferer Klassenkameraden hält eine Trauerrede. Mit erstickter Stimme erschaffen sie ein Bild von Rosie, so freundlich und wunderbar, dass keiner von uns es wohl je vergessen wird, während mir hässliche, wenngleich vollkommen sinnlose Gedanken durch den Kopf schießen.

Ist derjenige, von dem sie die Kette hat, auch hier? Oder sogar der Mörder selbst?

Danach sind alle erleichtert, dass es vorüber ist. Ich koste die letzten Sommertage in vollen Zügen aus, gehe spät zu Bett und stehe früh wieder auf, unternehme lange Ausritte mit Grace. Ausgelassen galoppieren wir über Stoppelfelder und lassen die Pferde sich ausgiebig im Fluss wälzen. Wir grillen mit Freunden, verdrücken gewaltige Portionen. Das ganze Haus duftet nach Essen und den letzten Rosen. In diesen fröhlichen, lebensbejahenden Stunden komprimiere ich Liebe und Gelächter zu wunderbaren Erinnerungen, damit sie mir später über die Zeit bis zu Grace’ Rückkehr hinweghelfen.

Eines Abends bin ich allein und habe gerade noch Zeit für eine kleine Trainingsrunde mit Zappa, bevor es dunkel wird. Er ist im Moment mein einziger Gast, was um diese Jahreszeit mit den kürzer werdenden Tagen ein echter Segen ist.

Als ich über die Felder gehe, sehe ich das Trio – Zappa, Grace’ Pony Oz und meine alte Reba – sich friedlich zusammen auf der Weide tummeln, so wie sie es früher gemeinsam mit Rosie getan haben. Einen Moment lang sehe ich eine helle Haarsträhne vor meinem geistigen Auge, Oz’ Kopf, der sich an einer unsichtbaren Schulter reibt, und Zappa, der eine Hand anstupst. Scheinbar ohne Grund heben sie unvermittelt den Kopf, fahren herum und galoppieren davon.

Vereinzelte Quellwölkchen ziehen über den milchigen Himmel, als ich mit Zappa die Straße entlangreite. Es ist ein wenig kühl, und Zappa fällt in einen Trab. Aus einem Impuls heraus lenke ich ihn in Richtung Wald – zum ersten Mal seit dem Sturm.

Mir ist seit langem klar, dass ich das tun muss: Rosies Geist besuchen, falls er es war, den ich damals hier gespürt habe. Aber heute sind wir nicht allein hier, wir kommen an Menschen mit Hunden und einem Jogger vorbei. Zappa schnaubt leise, als er das frisch gefallene Laub unter seinen Hufen spürt. Er will galoppieren. Als ich die Fersen in seine Flanken drücke und mich leicht nach vorn beuge, schießt er nach vorn.

Hier und da fällt ein Sonnenstrahl durch die Bäume und taucht sie in goldenes und kupferfarbenes Licht. Wir reiten weiter bis zu dem Hügel, auf dem ich letztes Mal heruntergefallen bin. Entschlossen treibe ich Zappa hinauf, der die Steigung mit zwei weit ausholenden Schritten überwindet. Aber diesmal bin ich vorbereitet.

Ich halte inne und lausche – Zappas langsamer werdenden Atemzügen, dem Rauschen des Windes in den Baumwipfeln, dem Rascheln der Blätter, ehe sie zu Boden trudeln. Hier und da liegen Reste von Blumen herum, an denen Kaninchen herumgeknabbert haben oder aber das Wild, das sich bis zum Einbruch der Dämmerung versteckt, ehe es den Wald für sich allein hat. Und wieder kommt mir derselbe Gedanke. Bist du hier, Rosie?

Allzu schnell ist der Tag von Grace’ Abreise gekommen.

Natürlich wusste ich schon die ganze Zeit, dass es mir schwerfallen würde, aber jetzt würde ich sie am liebsten gar nicht gehen lassen. Während der dreistündigen Fahrt nach Bristol gelingt es uns noch, Scherze zu machen, aber kaum haben wir ihre letzten Habseligkeiten ausgeladen und in ihr schlichtes Zimmer gebracht und der endgültige Abschied naht, kann ich mich nicht länger beherrschen.

»Bitte, Grace, pass auf dich auf.«

»Mum! Ich kriege das schon hin. Hör auf zu heulen, sonst fange ich auch noch an!«

»Und ruf mich an … wann immer du willst.«

»Weiß ich doch. Natürlich rufe ich dich an, Mum!«

»Und …« Ich kann sie einfach nicht loslassen.

Angus gibt ihr einen Kuss auf die Wange und nimmt mich fest bei der Hand. »Komm jetzt, Kate. Es wird Zeit.«

In diesem Augenblick kann ich nicht einmal mehr sprechen. Ich nehme all meine Kraft zusammen, fest entschlossen, unsere letzte Umarmung unauslöschlich in meine Erinnerungen einzubrennen.

Mein Tod ist dein
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