Rosie
Erst jetzt, da es mir gelingt, all die Abgründe und die Geheimnisse zu erkennen, tritt das Muster zutage: die vielen verlorenen Jobs und gebrochenen Herzen, hier und da von meiner Mutter kaschiert, in dem Versuch, den Anschein von Perfektion zu erwecken. Mit Brillanten verzierter Stacheldraht, mit Sternenstaub bedeckter Rost, denn genau das sind wir Andersons hinter der Fassade von Pomp und Glitzer.
Wieder eine neue Stadt, wieder ein neues Haus, eine neue Schule. Aber diesmal ist es anders. Irgendwie fühle ich mich heimisch. Nicht wegen des protzigen Palasts, in den wir ziehen, und auch nicht wegen der Schule. Sie ist ganz in Ordnung, aber ich war in der Vergangenheit auf viel zu vielen Schulen, um mich beeindrucken zu lassen.
Nein, es ist etwas Subtileres. Etwas liegt in der Luft, schwimmt im Fluss hinter den hohen Binsen. Die Kanadagänse, die sich hier versammeln, wissen, was ich meine, ebenso wie die Schwalben, die jeden Sommer herkommen, und der Wind. Stehe ich an der Schwelle zu etwas Größerem? Oder ist es nur eine Vorahnung?
Plötzlich werde ich von Ängsten heimgesucht. Anfangs nur flüchtig, dann wie in diesen Träumen, in denen man vor jemandem davonläuft, der einem so dicht auf den Fersen ist, dass man sein Keuchen bereits im Nacken spürt und genau weiß, dass der Verfolger erst von dir ablassen wird, wenn er dich erwischt hat. Beim Aufwachen hat man immer noch den Geschmack der Angst auf der Zunge.
Das Problem ist nur, dass die Angst nicht weggeht, wenn ich die Augen aufschlage und die vertrauten Geräusche wahrnehme. Selbst in Alex’ Gegenwart weiß ich, dass ich mich keineswegs in Sicherheit befinde, sondern dass sich die Angst in mein Leben geschlichen hat und nun wie eine Zeitbombe tickt. Unwillkürlich warte ich darauf, dass das Ticken endet, wohl wissend, dass dann die Explosion folgt.
Ich will dieses Leben nicht. Vielmehr wünsche ich mir einen winzigen Teil von Grace’ Leben, so wie man sich eine Karte für ein Artic-Monkeys-Konzert oder den neuen Kapuzenpulli von Abercrombie & Fitch wünscht oder dass einen dieser nette Junge aus der Schule fragt, ob man mit ihm ausgehen will. Ich male mir aus, wie ich den Pulli überstreife, wie ich für einen Tag Grace, Kates Tochter, bin. Grace ist cool, witzig und hübsch. Ein Schmetterling, der zwischen seinen Freunden und seinem netten, angenehmen Leben hin und her flattert.
Ich dagegen bin die Motte, die die Flamme zu spät bemerkt und zusehen muss, wie ihre Flügel verbrennen und ihr Körper stirbt. All das war im Kleingedruckten meines Lebensplans längst festgeschrieben, und egal, was passierte, wo ich war, es gab nie eine Alternative.