Rosie
Wieder sehe ich das Mädchen mit dem hellblonden Haar und demselben Namen wie meine Mutter, Joanna, die ein Leben führt, das ich nur zu gut kenne. Im Haus herrscht stets Stille. Kerzengerade sitzt sie neben ihren Eltern, die niemals lächeln und unablässig in ihre Bücher vertieft sind.
Der fransenbesetzte Lampenschirm in der Mitte des Zimmers erhellt trübe das dunkle Mobiliar, das ebenso schwer ist wie die Luft im Haus, die ihr im Halse stecken bleibt und sie langsam zu ersticken droht. Von Zeit zu Zeit rutscht sie nach einem vorsichtigen Seitenblick auf ihre Eltern auf ihrem Stuhl herum.
Sie lesen weiter, beachten sie nicht.
Sie schlägt die Beine übereinander. Auf ihrem Gesicht erscheint jener furchtsame, flehende Ausdruck, den ich so gut kenne.
»Sitz still, Kind«, ermahnt die Frau sie.
»Aber, bitte, Mama, ich müsste mal«, sagt sie.
»Du wartest«, fährt die Frau sie an.
Joanna wartet so lange, bis sie es nicht mehr aushält, steht auf und geht auf Zehenspitzen zur Tür, in der Hoffnung, hinausschlüpfen zu können, bevor sie jemand aufhält. Gerade als sie die Hand auf den Türknauf legt, knallt ihr Vater sein Buch zu.
»Wohin willst du?« Ein dunkel gekleidetes Ungeheuer, baut er sich vor ihr auf.
»Auf die Toilette«, haucht sie und blickt ihn, starr vor Angst, an.
»Du solltest doch warten.« Seine Stimme ist barsch, voller Hass. Unwillkürlich zieht sie die Schultern ein. »Geh und setz dich wieder hin.«
Joanna erschaudert, dann weicht sie zurück, ohne den Blick von ihm zu wenden. Blankes Entsetzen tritt in ihre Augen, als ein warmer Urinstrahl an ihren Beinen hinabläuft. Sie hat so lange gewartet, und nun ist es zu spät.
Wie erstarrt steht sie da, während sein Blick an ihr hinabwandert, und wartet auf den unvermeidlichen Schlag ins Gesicht. Er packt sie, viel zu fest, am Handgelenk, zerrt sie zur Tür hinaus und die Treppe hinauf in dieses spezielle Zimmer, in dem es weder Fenster noch Licht gibt.
Ich weiß es, noch bevor sie es betritt. Die Angst, die ihr den Atem raubt, und der Ausdruck in ihren Augen verraten es mir. Er stößt sie hinein und verriegelt die Tür. Es ist stockdunkel. Ich höre sie wimmern, beobachte, wie sie in ihren nassen Sachen zu Boden sinkt, die Arme um den Oberkörper schlingt und sich vor und zurück wiegt. Dann setzen die Schreie ein.
Sie dauern stundenlang an, noch lange nach Einbruch der Dunkelheit, als ich zu ihr hineinschlüpfe. Ich lege die Arme um meine Mutter und tröste sie, beteuere, dass sie nichts dafürkann und die Schuld einzig und allein bei ihrer grausamen Mutter und ihrem bösartigen Vater liegt. Dass sie doch noch ein Kind ist. Sie verdient sanfte, zärtliche Worte, starke Arme und Liebe, so viel Liebe. Die Liebe, die ich in mir trage, hätte sie doch nur einmal richtig hingesehen.
Aber damals war ich noch nicht geboren, deshalb kann sie mich nicht hören.