21
Ich halte einen kleinen weißen Fetzen in der Hand, der aussieht, als wäre er von einem Blatt Papier abgerissen worden.
Wenn du nur die Wahrheit kennen würdest.
Obwohl es schon spät ist, rufe ich Angus an, erwische aber nur seine Voicemail. Aus einem Impuls heraus versuche ich es bei Laura.
»Du musst den Brief der Polizei zeigen, Kate. Vielleicht besteht ein Zusammenhang.«
»Aber wieso hat jemand ihn ausgerechnet bei mir durch den Briefschlitz geworfen?«
»Vielleicht hat die Nachricht auch gar nichts zu bedeuten, und irgendein Idiot, der weiß, dass du mit Jo befreundet bist, macht ein wenig Wirbel.«
»Gibt es allen Ernstes Leute, die so etwas tun?«
»Ja, gibt es. Ich würde mich deswegen nicht verrückt machen.«
Am nächsten Tag rufe ich PC Beauman an, woraufhin jemand den Brief abholt. Dann fahre ich bei Jo vorbei. Eigentlich habe ich erwartet, dass sie immer noch mit Neals Entlassung aus der Untersuchungshaft zu kämpfen hat, stattdessen ist sie dabei, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen. Und damit nicht genug – während ich da bin, wird ein nagelneues Bett aus Eiche geliefert.
»Ich gestalte das Haus um«, erklärt sie, nachdem sie mich herzlich begrüßt hat. Mit ihrem zu einem nachlässigen Zopf frisierten Haar und dem weiten Karohemd sieht sie fast wie eine Studentin aus. Sie wirkt verängstigt, aber gleichzeitig voll Energie. »Das verstehst du doch, oder, Kate? Dass ich ein neues Bett brauche.«
»Gott, ja, natürlich. Kann ich irgendwie helfen?«
»Du könntest die hier mit nach unten nehmen.« Sie deutet auf ein schickes Kofferset. »Da sind Neals Sachen drin. Ich ertrage es nicht, sie noch länger im Haus zu haben. Deshalb kommen sie in die Garage, zumindest vorläufig.« Sie seufzt. »Ich habe überlegt, ob wir umziehen sollen, und vielleicht tun wir das auch, andererseits sind wir ständig umgezogen, und ich bin es leid, Kate. Auf kurz oder lang hat Neal sich immer mit irgendwelchen Leuten angelegt, und ein Umzug war seine Art, Konflikte zu lösen. Ein neues Haus, neue Leute … Aber jetzt kann ich mich ja einrichten, wie ich es will!«, meint sie hektisch, ihre Gedanken scheinen sich zu überschlagen.
»Wie geht es dir damit, dass sie ihn entlassen haben?«
»Nicht gut«, stößt sie hervor, während ihre Augen ruhelos hin und her schweifen. Ich merke, dass ihre Nerven zum Zerreißen gespannt sind. »Aber ich muss einfach darauf bauen, dass er nicht herkommt. Und falls doch, werden sie ihn festnehmen, das hat mir die Polizei bestätigt. Und das würde er auf keinen Fall wollen.«
»Ich wünschte, ich hätte geahnt, wie schlimm es um ihn steht«, sage ich. »Du hättest etwas sagen sollen, Jo.«
Sie zuckt die Achseln und schiebt die Ärmel hoch. »Ich hätte ihn verlassen sollen. Vor Jahren schon. Ich habe so viel Zeit vergeudet. Und wenn er erst einmal vor Gericht steht, werden alle wissen, wie er wirklich ist. Dass er seine eigene Tochter ermordet hat.« Ihre Stimme zittert leicht. Sie stopft eine Armvoll Bettwäsche in eine Mülltüte. »Ich will mit nichts in Berührung kommen, das er angefasst hat.« Sie hält inne. »Hier drüben, bitte«, sagt sie zu den Männern, die ihr neues Bett hereintragen.
»Da drüben, am Fenster. Danke. So ist es perfekt. O Gott, die Vorhänge.«
Sie reißt sie herunter und steckt sie ebenfalls in die Mülltüte.
»Ich habe ein paarmal versucht, dich zu erreichen. Wo hast du gesteckt?«, frage ich und halte ihr die Tüte auf.
»Es tut mir wahnsinnig leid, Kate, aber ich war so durcheinander, dass ich mein Ladegerät vergessen habe. Wir sind einfach losgefahren, bis wir eine Pension gefunden haben. Ich musste einfach weg.«
Als ich die Koffer nach unten trage, fallen mir die ebenfalls nagelneuen und farblich perfekt auf das Sofa abgestimmten Kissen auf. Auf dem Sofatisch liegen Therapie-Broschüren neben Farbtonkarten und Stoffmustern.
»Man glaubt kaum, wie sehr einem so etwas hilft«, sagt Jo, als sie hinter mir die Treppe herunterkommt. Sie scheint es zu genießen, Neal aus ihrem Leben zu eliminieren und dem Haus ihren eigenen Stempel aufzudrücken. Ich habe das Gefühl, dass er ihr nicht im Mindesten fehlt, und mache mir Sorgen um sie.
»Ich setze Wasser auf. Obwohl … es ist schon sechs, also kann ich auch eine Flasche Wein aufmachen.«
Es ist erst halb sechs, aber wenn ein Glas Wein hilft, sie ein bisschen herunterzufahren, trinke ich gern eins. Sie wirkt regelrecht durchgedreht. Ich bin sicher, dass sie geradewegs auf einen Nervenzusammenbruch zusteuert.
»Es ist, als wäre er ihr völlig gleichgültig«, sage ich an diesem Abend am Telefon zu Angus. Ich habe Jo den Rest ihrer Weinflasche überlassen, wenn auch erst, nachdem sie mir versprochen hat, das Abendessen nicht zu vergessen. »Nach allem, was sie zusammen durchgemacht haben, scheint sie ihn einfach so aus ihrem Leben zu streichen. Das muss einen doch irgendwann einholen.«
»Wahrscheinlich ist sie bloß unendlich erleichtert«, sagt er. »Was verständlich ist. Und wenn die Anhörung vor Gericht erst einmal vorbei ist, wird es bestimmt einfacher für sie.« Er hält inne. »Versprich mir, dass du nichts an unserem Haus veränderst, solange ich weg bin. Bleibt es dabei, dass du in zwei Wochen herkommst?«
»Ich hoffe es«, antworte ich. »Du fehlst mir.«
»Du mir auch. Ich fände es schön, wenn du schon früher kämst«, fährt er betrübt fort, »aber leider muss ich dieses Wochenende arbeiten.«
»Ist schon okay. Ich sollte mich vielleicht auch mit etwas beschäftigen.« Was ich auch täte, wäre ich mit den Gedanken nicht ständig bei Jo.
»Wie geht’s Rachael?«, fragt er, als er meine Unruhe spürt. »Wieso macht ihr keinen Mädelsabend?«
»Ich habe sie eine Weile nicht gesehen, weil sie mit den Jungs und der Arbeit viel um die Ohren hat.«
»Du könntest auch Grace besuchen«, schlägt er vor. »Ein kleiner Tapetenwechsel wäre genau das Richtige für dich.«
Ich weiß, was er mir damit sagen will. Es ist eine Mahnung, mich nicht allzu sehr in Jos Probleme hineinziehen zu lassen. Das ist nichts Neues. Trotzdem ist die Vorstellung, Grace wiederzusehen, zu verlockend.