Rosie
Alles ist weiß in diesem Krankenhaus, die Uniformen, die Betten, die Wände, alles. Joanna sitzt in einem weißen Nachthemd vor dem Schreibtisch eines Arztes.
Schweigend liest er die Notizen durch, misst ihren Blutdruck, dann bittet er sie, sich auszuziehen und auf die Waage zu stellen.
Sich auf die Waage zu stellen ist am schlimmsten. Ihr graut davor, weil sie mit ansehen muss, wie sie von Tag zu Tag dicker wird. Die Zahl steigt unaufhörlich an. Der sichtbare Beweis für jedes ekelhafte Kilo Speck setzt sich überall fest, wo eigentlich nur glatte Haut und hervortretende Knochen sein sollten. Mit jedem Tag entfernt sie sich weiter von ihrem Ziel, so winzig zu sein, dass sie unbemerkt an allen vorbeischlüpfen kann. Sie kann es nicht ausstehen, dass sie so stämmig, so dick ist, dass sie plötzlich so etwas wie eine erkennbare Gestalt, einen Körper aus Knochen und Muskeln besitzt. Wenn sie in den Spiegel blickt, sieht sie nur eins: Fett.
Aber sie hat keine andere Wahl, als dieses dämliche Spiel mitzuspielen, die Tortur über sich ergehen zu lassen. Sie muss ein paar verhasste Kilo zulegen, damit sie sie entlassen, mit der Ermahnung, in einem Monat zur Kontrolle wiederzukommen.
Obwohl alle Beteiligten wissen, dass sie es nicht tun, sondern sich das zugelegte Gewicht im Handumdrehen herunterhungern, herauskotzen und abtrainieren wird, so lange, bis sie ihren alten Körper zurückhat.
Joanna hat eine winzige Wohnung, die tadellos sauber, aufgeräumt und spartanisch eingerichtet ist, eine Übergangslösung mit einem nahezu leeren Kühlschrank, einem halben Dutzend Bücher im Regal, einem Fernseher und ein paar Videos. Das Bad hingegen ist der reinste Wellnesstempel, ihr privates Paradies voller Verheißungen.
Jeder Tag beginnt hier. Jeden Tag gibt es zahllose Möglichkeiten, ihr Leben von Grund auf zu verändern. Also stellt sie den Wecker besonders früh, um Zeit zu haben, falls etwas schiefläuft; um noch einmal von vorn anzufangen und es so lange zu versuchen, bis es perfekt ist.
Es gibt ein festgelegtes Ritual. Duschen, wobei sie ihre Haut schrubbt, bis sie wund ist, dann noch zwei Mal Haare waschen, Beine rasieren, Nägel gründlich säubern.
Nach dem Abtrocknen bindet sie sich das Haar hoch und macht sich an die Arbeit. Hier zeigen sich ihre Fähigkeiten besonders gut, denn Joanna kann jedes Gesicht erschaffen: bildhübsch, kess, mutig, lasterhaft. Meistens entscheidet sie sich für den Typ »dezente Schönheit«. Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht und weiß genau, wie sich die Frauen präsentieren, die alles haben – den entsprechenden Lebensstil, das Aussehen und den passenden Ehemann. Sie trägt eine dünne Schicht Primer auf, darüber kommt die Grundierung und der selbst zusammengestellte Puder in der perfekten Schattierung. Stets hat sie die neuesten Lidschattenfarben, die neueste wasserfeste Wimperntusche. Lebensfest, denkt sie.
Nach ihrem morgendlichen Ritual schlüpft sie voller Erwartung in ihren Mantel und nimmt ihre Handtasche. Oder ist sie nervös? Sie geht die Treppe hinunter. Die Frage lautet stets, was der Tag bringen wird, niemals, was sie daraus machen, wie sie ihn genießen und jede kostbare Minute davon zelebrieren will. Das kann sie nicht. Sie glaubt, dass etwas mit ihr passieren wird, wenn sie nur lange genug wartet.
Sie macht den ersten Schritt vor die Tür, atmet die kühle, klare Morgenluft ein und tritt in die Welt hinaus. So müssen sich Babys fühlen, denkt sie oft. Nur dass Babys die Arme ihrer Mutter haben, die sie umfangen, ihre Wärme, ihre Brüste, ihre Liebe. Sie fühlen sich sicher.
Joanna hingegen ist allein.