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Innerhalb von nur zwei Tagen verändert sich die Atmosphäre im Dorf, und eine spürbare Bedrohlichkeit mischt sich unter die Spekulationen und Gerüchte. Trotzdem falle ich aus allen Wolken, als plötzlich die Polizei vor der Tür steht: ein blutjunger Polizist mit Bubigesicht, kaum älter als Grace, der keine Ahnung zu haben scheint, wie ernst die Lage ist, und seine etwas ältere Kollegin, der ich auf den ersten Blick ansehe, dass sie derartige Befragungen schon viel zu oft durchführen musste.
Als Erstes reden sie mit Grace allein, obwohl ich darauf bestanden habe, dass ich dabei sein will. Aber Grace meinte, das sei nicht notwendig, sie komme schon klar. Was nicht stimmt. Ich weiß, dass sie unschuldig ist, trotzdem kann ich die irrationale Angst, sie könnte versehentlich etwas Falsches sagen und sich dadurch selbst belasten, nicht abschütteln.
»Es wäre uns lieber, wenn wir mit Ihrer Tochter unter vier Augen sprechen könnten«, sagt die Polizistin, als Grace in mein Arbeitszimmer geht. »Manchmal sind die Kids gesprächsbereiter, wenn die Eltern nicht dabei sind.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie mehr weiß«, erwidere ich. »Sie hat keine Geheimnisse vor mir.«
Police Constable Beauman gibt mir mit einem wissenden Nicken zu verstehen, dass sie ebenfalls eine halbwüchsige Tochter hat. Dann folgt sie Grace ins Zimmer und schließt die Tür.
Eine gefühlte Ewigkeit warte ich, bis ich endlich an der Reihe bin. Meine Hände sind feucht. Unter den prüfenden Blicken der Polizisten fühle ich mich schlagartig in die Schulzeit zurückversetzt, obwohl ich auf meinem eigenen Stuhl in meinem eigenen Haus sitze.
PC Beauman stellt die Fragen, während ihr junger Kollege aufmerksam zuhört und sich nur ab und zu in die Unterhaltung einschaltet. Sie wollen wissen, wie gut ich Rosie kenne, und machen sich eifrig Notizen, als hätte alles, was ich sage, eine verborgene Bedeutung.
»Manchmal kommt sie her und hilft mir mit den Pferden. Sie ist ein echter Schatz und kann wunderbar mit ihnen umgehen. Ich glaube aber nicht, dass ihre Eltern das wissen, zumindest habe ich ihnen nichts erzählt. Sie hat mich nie darum gebeten, es nicht zu tun, aber ich hatte immer so ein Gefühl, dass es ihr nicht recht gewesen wäre«, stammle ich. Was für ein sinnloses Gequatsche! »Ich meine, sie ist achtzehn … Eltern müssen schließlich nicht alles wissen, oder?«
Dabei bin ich mir durchaus darüber bewusst, wie heuchlerisch das klingt, schließlich würde ich auch wissen wollen, wenn Grace fremde Pferde reiten würde und Geheimnisse vor mir hätte, oder?
PC Beauman geht nicht auf meine Bemerkung ein. »Ist Ihnen in letzter Zeit eine Veränderung an ihr aufgefallen?«
»Genau das habe ich mich auch schon gefragt, aber ich wüsste nicht.« Sie kritzeln weiter. »Nur die Halskette. Sie hat sie neuerdings immer getragen, aber das wissen Sie ja vermutlich schon. Und bestimmt ist es auch gar nicht wichtig.«
PC Beauman sieht auf. »Können Sie sie beschreiben?«
»Sie war ungewöhnlich und sehr hübsch, aus roten, lila und grünen Glasperlen, verbunden mit hauchzarten Silberhäkchen. Sie hat sie geschenkt bekommen, wollte aber nicht verraten, von wem.«
Nachdenklich betrachtet PC Beauman mich. »Wie gut kennen Sie Rosies Familie, Mrs. McKay?«
»Jo kenne ich über die Schule, Grace und Rosie waren zusammen in der Oberstufe. Wir Mütter treffen uns ab und zu zum Mittagessen. Sie sind eine ausgesprochen nette Familie.« Ich zucke die Achseln und überlege, was ich sonst noch über sie sagen könnte. »Neal bin ich nur ein- oder zweimal eher flüchtig begegnet. Ich weiß nicht, was ich Ihnen sonst noch sagen könnte.«
»Gibt es auch einen Mr. McKay?«
»Ja. Angus arbeitet als Finanzmanager in London. Er kennt Rosie nicht. Mit Pferden hat mein Mann nicht viel am Hut.«
PC Beauman hält kurz inne, dann schreibt sie weiter. »Danke. Das ist alles. Im Moment.« Sie steht auf. »Erreichen wir Sie unter dieser Nummer, falls wir noch Fragen haben?«
Sie wiederholt die Nummer, die ich ihr gegeben habe, und reicht mir eine Visitenkarte.
»Falls Ihnen noch etwas einfallen oder Sie etwas hören sollten, würden Sie mich anrufen?«
Ungewöhnlich still beobachten Grace und ich, wie sie wegfahren.
»Komisch«, sagt Grace schließlich. »Mir ist da was aufgefallen. Wenn Rosie herkommt, bin ich nie hier, oder? Fast so, als würde sie nicht nur wegen der Pferde kommen … sondern wegen dir.«
In den nächsten Tagen befragt die Polizei mit qualvoll methodischer Präzision das gesamte Dorf, stellt Fragen und zwingt uns dadurch, uns gegenseitig durch die Augen eines Fremden zu betrachten. Und infiziert uns mit dem Virus der Angst.
»Glaubst du, sie wissen Bescheid, Mum?« Grace ist ausnahmsweise einmal nicht zu Hause, um sich nur die Haare zu waschen oder wie eine Tote ins Bett zu fallen. Offenbar braucht sie die vertraute Sicherheit ihres Heims.
»Was denn, Schatz?«
Sie zögert. »Da waren doch diese Typen im Wald.«
Ich wirble herum. »Hast du der Polzei davon erzählt?«
Grace schüttelt den Kopf. Ihre Wangen färben sich rosig, was mir verrät, dass es ihr peinlich ist.
»Was sind das für Typen, Grace?«
»Weiß ich nicht … eben Freunde von Sophie.«
»Du musst Sophie sagen, dass sie dringend mit der Polizei reden sollten.«
»Mum! Das kann ich nicht! Das ist doch ihre Angelegenheit! Außerdem weiß ich noch nicht mal, wer die sind.«
»Aber Sophie weiß es, wenn es ihre Freunde sind, oder?« Ein Anflug von Schärfe schleicht sich in meinen Tonfall, denn Grace’ rötliche Wangen und ihre ausweichenden Antworten legen die Vermutung nahe, dass mehr an der Sache dran ist.
Sie schweigt. Gegen Grace’ stummen Trotz anzukommen ist ein Ding der Unmöglichkeit, das weiß ich aus Erfahrung.
Ich kreuze die Arme vor der Brust. »Okay, dann rede ich eben mit Sophie. Ich könnte auch Lorraine anrufen.« Lorraine, die sich auch von ihren Kindern mit dem Vornamen ansprechen lässt, ist Sophies Mutter und alles andere als der Inbegriff der Mütterlichkeit.
Entsetzt reißt Grace die Augen auf. »Auf keinen Fall, Mum. Okay?«
»Dann mach den Mund auf, Grace. Das ist kein Spielchen hier. Rosie ist seit vier Tagen verschwunden. Vielleicht wurde sie entführt, jemand hat ihr wehgetan oder sonst was.«
Grace macht ein zerknirschtes Gesicht, doch dann springt sie unvermittelt auf. »Mum! Das habe ich ja völlig vergessen. Im Fernsehen läuft gleich ein Bericht über sie. Josh hat es mir erzählt. Los, schnell, hoffentlich haben wir ihn nicht verpasst.«
Sie läuft ins Wohnzimmer und macht den Fernseher an.
Der Beitrag kommt am Ende der landesweiten Mittagsnachrichten – wahrscheinlich weil immer etwas Wichtigeres passiert, worüber berichtet werden muss. Aber gibt es etwas Wichtigeres als ein vermisstes Kind? Zahllose Fragen, die niemand beantworten kann, schwirren mir durch den Kopf, als Neal auf dem Bildschirm erscheint.
Er wirkt ausgezehrt, angespannt und erschöpft. Sein Gesicht schmerzverzerrt, als er sich flehentlich an die Zuschauer wendet; an uns alle, wo und wer wir auch sind. Wir sollen uns nur einen Moment lang vorstellen, es sei unser Kind, das vermisst wird. Jeder, der etwas wisse, auch wenn es noch so unwichtig und banal erscheine, solle sich bitte, bitte melden.
Während er seine eloquenten, verzweifelten Worte in die Kamera spricht, erscheint ein Foto von Rosie. Sie ist wunderschön mit ihrem hellen Haar und dem verträumten Ausdruck in den Augen. Ich blicke zu Grace, der die Tränen übers Gesicht laufen. Beim zweiten »bitte« bricht Neals Stimme. Und mir das Herz.
Danach stehen die Telefone keine Sekunde mehr still. Es ist, als hätte Neals Appell das ganze Dorf in Aufruhr versetzt. Am liebsten würde ich auf der Stelle Jo anrufen, zwinge mich aber, vernünftig zu sein. Das wäre nicht richtig, oder? Andererseits erscheint es mir genauso falsch, mich nicht bei ihr zu melden, also wähle ich ihre Nummer. Ich sehe sie vor mir, wie sie ganz allein zu Hause sitzt, während Neal im Fernsehstudio ist, und schäme mich für meine Erleichterung, als niemand abhebt.
Kaum habe ich aufgelegt, ruft Rachael an.
»Hast du das auch gerade gesehen? Neal in den Mittagsnachrichten? Wie schrecklich, findest du nicht? Die arme Familie … Irgendjemand muss doch etwas wissen. Komm morgen rüber, Kate. Gegen zehn. O Gott, Norman hat sich gerade geschnitten …«
Mir bleibt gerade genug Zeit, kurz durchzuatmen, nachdem sie aufgelegt hat.
Auch in Beth Van Suttons Gemischtwarenladen, zwischen regionalem Fleisch, Gemüsekisten und Platten voll selbst gebackener Kuchen, ist die Angst allgegenwärtig.
»Schrecklich, nicht, Kate? Dieses hübsche junge Ding … die arme Familie. Die Polizei war auch schon da. Die befragen ja alle.«
Es wundert mich nicht, dass sie hier waren. Schließlich betreiben Beth und ihr Mann Johnny den Laden schon seit einer halben Ewigkeit und wissen über alles Bescheid, was im Dorf so vor sich geht.
»Jonnny hat sie überredet, eine Suchaktion zu starten«, fügt sie hinzu. »Die Leute müssen etwas unternehmen.«
Auch wenn eine Suche den nächsten logischen Schritt darstellt, die Angst in eine konkrete Handlung umzumünzen, sich zusammenzutelefonieren und die entlegensten Verstecke abzuklappern, ist es dennoch ein Schock.
»Am schlimmsten ist die Ungewissheit, findest du nicht? Unerträglich«, bricht es aus mir heraus. Und bis zu einem gewissen Grad stimmt das auch, doch dann kommen mir unweigerlich all die schlimmeren Möglichkeiten in den Sinn.
Erschüttert starrt Beth mich an. »Aber keine Nachrichten sind gute Nachrichten!« Sie hält inne. »Hast du die Erdbeeren gesehen?«, fährt sie dann fort. »Das ist die Spätsorte. Sehr aromatisch.«
Unsere Blicke begegnen sich.
Das Leben geht weiter, sagen wir einander stumm, auch wenn es ein Klischee ist.
Bei Rachael herrscht das übliche Chaos.
»Kate! Gott, ich bin ja so froh, dass du kommst. Die Polizei war gestern hier. Waren sie bei dir auch schon? Ach ja, natürlich – du hast es mir ja selbst erzählt. Weißt du, ob sie schon Hinweise haben? Jemand muss doch etwas wissen, oder nicht? Komm, lass uns etwas essen gehen. Die Kinder haben alles verputzt, und der Lieferservice kommt erst später.«
»Willst du in den Pub?«, frage ich.
»Ja«, antwortet sie erleichtert.
»Ich habe gestern noch versucht, Jo zu erreichen«, sage ich, als sie in ihrer Tasche nach den Hausschlüsseln kramt, ehe sie aufgibt und die Tür wie so oft einfach zuzieht. Bei ihnen gäbe es ohnehin nichts zu holen, sagt sie. »Gleich nach Neals Aufruf. Aber es hat niemand abgehoben.«
»Das wundert mich nicht. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, was sie durchmachen. Heute Morgen hat hier so ein Reporter herumgelungert. Alan hat die Hunde auf ihn gehetzt.«
»Eure Hunde? Köstlich!« Rachael mag ein ganzes Rudel haben, aber keiner von ihnen ist gefährlich.
»Das konnte er aber nicht wissen, oder?«
Im Pub herrscht ziemlicher Betrieb für einen Wochentag. Lockt ein als vermisst geltendes Mädchen neuerdings etwa genauso viele Neugierige aus ihren Häusern wie ein Autounfall auf der Kreuzung? Wir setzen uns an einen freien Tisch neben einem offenen Fenster.
»Hat Alan neulich zufällig eine Gruppe Jungs bemerkt?« Ich muss Grace dringend fragen, ob sie inzwischen mit Sophie geredet hat.
»Ich glaube nicht. Aber unser Grundstück ist so riesig. Die könnten überall gewesen sein, ohne dass er es mitbekommt.« Sie sieht mich an. »Genau das ist ja das Problem. Es gibt viel zu viele Verstecke.«
Genau dasselbe dachte ich auch schon, aber wenn Rosie mit jemandem durchgebrannt ist – mit demjenigen, von dem sie auch die Halskette bekommen hat –, könnte sie überall stecken, unversehrt und quietschfidel, ohne dass sie je einer finden würde.
Seufzend überfliegt Rachael die Speisekarte. »Wäre es sehr gefräßig, wenn ich das Staek nehme, was meinst du?«
Während des Essens bleibt mein Blick an einem Gesicht an der Bar hängen, das ich unter Tausenden wiedererkennen würde – eines, das ich seit Jahren nicht mehr gesehen habe. Und das so ziemlich der letzten Person gehört, die ich hier vermuten würde.
»Laura?« Ungläubig schüttle ich den Kopf. Ist sie es tatsächlich? Doch in dem Moment, als ich ihren Namen laut ausspreche, dreht sie sich um, und ihre Züge erhellen sich.