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Was als kleine spielerische Ablenkung, als Ausflug in eine Fantasiewelt gedacht war, scheint Jo emotional vollständig auszuhebeln. Schlagartig ist vergessen, dass ich sie nach ihren Eltern und dem Baby fragen wollte. Stattdessen werde ich Zeuge eines regelrechten Zusammenbruchs. Und mir bleibt nichts anderes übrig, als hilflos danebenzustehen.
»Jo?« Ich nehme ihre Hände. Sie sind eiskalt. »Ist schon gut, Liebes. Komm, setz dich aufs Sofa. Da ist es bequemer.«
Ich ziehe sie hoch und bugsiere sie ins Wohnzimmer, wobei sie sich mit nahezu ihrem ganzen, wenngleich beängstigend geringen Körpergewicht auf mich stützt. Ihr Gesicht unter den Make-up-Schichten ist kreidebleich, und sie zittert am ganzen Leib. Einen Moment lang fürchte ich, dass sie gleich ohnmächtig wird.
»Er wollte mich verlassen«, schluchzt sie. »Mein Mann wollte mich verlassen, Kate.« Sie schlägt die Hände vors Gesicht. »Er hat eine junge, hübsche Hure gefunden, die er fickt und die alles tut, was er von ihr verlangt … Mich wollte er nicht mehr … Ich bin ihm völlig gleichgültig … Nach allem, was passiert ist … Hast du eine Ahnung, wie sich das anfühlt?«
Ich hole Luft, will ihr sagen, dass es mir ein paar Wochen lang ganz ähnlich ging, aber sie hat sich abgewandt und starrt dumpf vor sich hin.
»Ich wollte nicht …«, sagt sie ins Leere hinein.
Ich runzle die Stirn. »Was wolltest du nicht, Jo?«
»Ich habe einen Zettel gefunden.« Ein seltsamer Unterton hat sich in ihre Stimme geschlichen. Sie hebt den Kopf und sieht mich blinzelnd an. »Kate, Abendessen, acht Uhr stand da. Du hast mit meinem Mann gevögelt, Kate. Wie konntest du nur? Du bist meine Freundin, verdammt noch mal … Ich habe dir vertraut.«
Da ist er, der ultimative Albtraum, vor dem ich mich die ganze Zeit seit jenem schicksalhaften Abend gefürchtet habe. Ich packe sie bei den Armen, will sie beruhigen, aber sie reißt sich los.
»Jo, das stimmt nicht. Er hat versucht, mich zu küssen, aber ich habe ihn weggestoßen. Das musst du mir glauben.«
Doch sie stiert immer noch ins Leere, scheint mir gar nicht zuzuhören. »Das war Absicht … Er wollte, dass ich den Zettel finde. Das macht er immer so. Ich soll mitkriegen, wen er vögelt. Damit ich weiß, wer besser ist als ich. Selbst du, Kate … Was sollte ich denn tun?«
»O Gott, hör mir doch zu, Jo! Es war nichts. Ich habe ihn und Delphine zum Abendessen eingeladen, aber er …«
»Du hast mir Rosanna weggenommen und jetzt ihn … Aber sie gehören mir, Kate. Mir … Siehst du denn nicht, wie er ist?«
Sie kramt ein Tablettenfläschchen aus ihrer Tasche und versucht, den Deckel abzuschrauben, doch ihre Hände zittern zu sehr.
»Tabletten«, murmelt sie. »Ich brauche meine Tabletten …«
Als ich ihr behutsam die Tabletten aus der Hand nehme, wird das Zittern schlimmer. Wütend steht sie auf, doch ihre Beine geben nach.
»Ich rufe jetzt einen Krankenwagen, Jo«, sage ich leise. »Es tut mir leid, aber das kann so nicht weitergehen.«