Rosie

Ohne Wodka, der die Zeit so angenehm verschwimmen lässt, werden die Abende unerträglich. Joanna war schon ewig nicht mehr nüchtern, so dass sie völlig vergessen hat, wie schrecklich sie sich in die Länge ziehen.

Sie sieht auf ihre Uhr. Halb elf. Sie hört Della oben in ihrem Zimmer, geht aber nicht hinauf. Sie weiß, dass sie auf ihrem Bett sitzt und schreibt; ihre einsame Tochter, die sich so sehr danach sehnt, dass sie jemand in die Arme nimmt, ihr ein freundliches Lächeln schenkt.

22.32 Uhr. Joanna ist ruhelos. Ist alles so weit vorbereitet?

Natürlich. Immerhin ist sie Kate – stets pragmatisch und so routiniert im Umgang mit ihren Pferden. Joanna weiß, dass sie auch das hinkriegen wird. Sie schließt die Augen, denkt an Kates glattes Haar, an ihre von der Sonne gebräunte Haut, an die potthässlichen Sachen, in denen sie immer herumläuft, an ihre fürchterlichen Hände, ihren gesunden Menschenverstand und ihr Einfühlungsvermögen, das sie heute Abend sehr gut gebrauchen kann. Sie kann nur hoffen, dass es genügt. Dann sieht sie wieder auf die Uhr. 22.41 Uhr. Sie nimmt die Wagenschlüssel, schwingt sie hin und her, als Della hereinkommt, um sich ein Glas Wasser zu holen.

»Mummy? Darf ich morgen zu Harriet?«

Einen Moment lang überlegt Kate, weshalb Joanna keine Antwort gibt. Dann fällt ihr wieder ein, dass sie ja Joanna ist.

Nein. Sie schüttelt wortlos den Kopf.

Sie kann jetzt nicht darüber nachdenken. Die Welt existiert nur bis heute Abend. Erst morgen kann sie sich damit beschäftigen.

22.48 Uhr. Ihr Herz beginnt zu rasen. Sie sieht zum Telefon. Wieso steht Delphine immer noch herum und starrt sie an?

Bettzeit. Mutter-Joanna-Stimme.

Sie muss Kate zurückholen. Schließt die Augen. Denkt an Kates Ruhe, an ihre strammen Schenkel in den Reithosen, an ihr Haar, das nach einem anständigen Friseur schreit. Sie lässt den Atem entweichen. Okay, sie ist bereit.

Sie nimmt das Telefon. Ruft mich unter Alex’ Nummer an. Redet sehr nett. Hört, wie schockiert wir sind. Woher weiß sie, dass wir hier sind? Hört, wie der Schreck zuerst in Argwohn, dann in Angst umschlägt, als sie sagt, Neal sei bereits auf dem Weg.

Sie vergisst Delphine, die auf halber Höhe der Treppe steht und zuhört und sich fragt, wieso ihre Mutter lügt. Sie behauptet, ihr Vater hätte ihr die Wagenschlüssel abgenommen, obwohl sie sie doch in der Hand hat, und er tobt auch nicht vor Wut. Den ganzen Abend hat er schweigend in seinem Sessel gesessen und getrunken. Oder hat sie etwas nicht mitbekommen?

Aber als Joanna-Kate eilig das Haus verlässt, weil es höchste Zeit wird, es hinter sich zu bringen, merkt sie gar nicht, dass Neal fort ist. Ohne zu wissen, warum, nimmt sie in letzter Sekunde das Messer aus dem Block.

Der Wagen steht am Straßenrand, damit der Kies beim Wegfahren nicht knirscht. Sie fährt langsam mit ausgeschalteten Scheinwerfern bis zum Ende der Straße. Die Nachbarn sollen nichts mitbekommen. Aber hier in der Gegend merkt sowieso keiner etwas.

Ihre Hände zittern beim Schalten, das Blinken macht sie ganz verrückt. Sie zwingt sich, tief durchzuatmen, jenen Teil von sich heraufzubeschwören, den sie Kate nennt. Wie sie vermutet hat, geht Rosanna die Straße entlang zurück zu Poppy, dieser Schlampe, wie sie vermutet hat. Und mit einem Mal ist alles ganz einfach.

Verblüfft steige ich in den Wagen. Joanna ist hektisch. Einen Moment lang denke ich, sie ist betrunken, aber dann fällt mir wieder ein, welche Angst sie vor meinem Vater hat. Sie fährt, und ich lege ihr meine Hand auf den Arm. »Macht es dir etwas aus, wenn ich kurz anhalte?«, fragt sie. »Ich fühle mich nicht gut und brauche ein bisschen frische Luft.«

Ich bin daran gewöhnt, dass es ihr nicht gut geht. Denke mir nichts dabei. Sie steigt aus und schnappt nach Luft, als hätte sie Angst zu ersticken. Dann nimmt sie ihre Jacke vom Rücksitz und zieht sie an. »Es ist so ein schöner Abend. Lass uns ein Stück spazieren gehen.«

Sie geht ein paar Schritte, bleibt stehen und dreht sich nach mir um. Sie wolle noch nicht nach Hause zurück, sagt sie. »Dein Vater ist da. Er wird außer sich vor Wut sein. Er hat es herausgefunden. Wir warten einfach ein Weilchen, bis er sich beruhigt hat. Aber was machen wir dann?« Sie hält inne. Als sie fortfährt, klingt ihre Stimme anders. »Es ist ein herrlicher Abend für einen Waldspaziergang.«

In diesem Moment weiß ich, dass sie verrückt ist. Aber ich kann sie nicht hier zurücklassen, meine verrückte Mutter, mitten im Wald. Also folge ich ihr, während sie immer wieder auf die Uhr sieht. Sie hat ja einen Plan.

Obwohl ich weiß, dass diese Situation komplett absurd ist und Joannas Getue mich nervt, sind meine Nervenbahnen, meine Synapsen so darauf getrimmt, ihr zu gehorchen, dass ich nicht anders kann. Ich tue, was sie sagt, so wie ich es von Kindesbeinen an getan habe.

Joanna-Kate hat vergessen, wie rutschig der Abhang ist. Sie muss sich an den Zweigen festhalten, um den Halt nicht zu verlieren, als sie mich zu dem Geheimplatz führt, der so wild und wunderschön war, als sie ihn bei Tageslicht in Augenschein genommen hat. Die tiefschwarzen gezackten Umrisse der hohen Bäume heben sich vom dunkelblauen Nachthimmel mit dem silbrigen Mond ab.

»Da«, sagt sie zu mir. »Er sieht uns zu.« Sie klingt panisch.

Ich hebe den Kopf, frage mich, was ihr solche Angst einjagt. Aber da ist nichts, bloß die Bäume, die Wache zu stehen scheinen, angestrahlt von einem wohlwollenden Mond.

Sie tritt zu mir. Eine Katastrophe, sagt sie, aber wir würden alles schon in den Griff bekommen. Das Baby würde alles ruinieren, aber es gäbe eine Alternative, und wenn wir es einfach hinter uns bringen und noch mal ganz von vorn anfangen würden, wäre alles perfekt.

Und dann verstehe ich plötzlich, wieso sie sich so seltsam benimmt.

Sie weiß, dass ich schwanger bin.

Mein Herz beginnt zu hämmern. »Ich werde das Baby behalten.« Schock, Angst und Entschlossenheit schwingen in meiner Stimme mit. »Du kannst es mir nicht verbieten. Es ist mein Körper, mein Baby.«

»Nein«, schreit sie. »So geht das nicht. Er darf es nicht erfahren. Niemals. Er würde mich umbringen.«

Genau das ist es: Meine und Dellas Existenz waren vom ersten Tag an zweitrangig für ihn. Auf einmal will ich von hier weg. Mein Instinkt sagt mir, dass ich hier nicht sicher bin. »Lass uns zu Hause weiterreden«, sage ich mit einer Ruhe, die ich nicht empfinde.

Noch nicht.

Bald.

Sie sieht mich an. Im fahlen Mondschein wirkt ihr Gesicht gespenstisch. Sie runzelt die Stirn. »Wir müssen reden … Du kannst es loswerden, Rosanna. Niemand wird je davon erfahren. Ich habe jemanden gefunden. Wir sagen deinem Vater einfach, du würdest einen Kurs besuchen. Oder wärst zu Carol gefahren.« Carol – ihre Stimme klingt hasserfüllt, als sie den Namen ausspricht.

»Nein!«, brülle ich sie an, wütend, verängstigt. Ich fühle mich verraten. »Ich werde das Baby behalten. Es ist mein Baby. Dein Enkelkind.«

Aber es ist nicht Joanna, die zurückschreit, sondern eine Fremde, eine Verrückte, die mich packt, so fest, dass es weh tut.

»Du musst. Es ruiniert alles … Niemand wird es erfahren … Du wirst es vergessen. Bald. Alles kann wieder so werden wie vorher … Sei nicht so egoistisch, Rosanna. Immer denkst du nur an dich … Wie ein Kind. Was ist mit mir?«

Ich versuche, mich loszureißen, aber ihre Wut ist gewaltig, ihre Kräfte geradezu übermenschlich, obwohl ich mich wehre, nach ihr schlage und trete, sie an den Kleidern und den Haaren zerre.

»Du musst es tun«, faucht sie. »Kapierst du es nicht? Es ist die einzige Möglichkeit. Du musst.«

Sie schüttelt mich, stößt mich brutal weg. Ihre Hand verkrallt sich in meinem Haar, dann rammt sie meinen Kopf gegen den Baum.

Nein … Die Welt beginnt sich zu drehen, und plötzlich stehen die Sterne nicht länger über mir, sie sind überall, rings um mich herum. Ich blinzle, schaue ihr in die Augen. Sie funkeln im Mondschein.

»Ich kann nicht.«

Einen Moment lang glaube ich, dass sie von mir ablässt. Ihr Griff erschlafft, ihr Kopf sackt herab, aber nein. Auf diese brutale Kraft, in der die Wut, die Demütigung und die Misshandlungen eines ganzen Lebens stecken, war ich nicht gefasst. Sie schüttelt mich, schlägt wieder und wieder meinen Kopf gegen den Baumstamm, dessen Rinde meine Haut aufreißt. Sie schreit, ein infernalischer Ausbruch aus Wut und Hass auf ihr ganzes Leben, die sich Bahn brechen. Ich sinke zu Boden.

Meine Beine geben nach, mein Körper gleitet wie in Zeitlupe auf den Waldboden. Noch immer sehe ich ihr in die Augen, bis mein Kopf auf den Stein knallt und mit einem lauten Knacken zerbirst.

In diesem Moment spüre ich den heißen, unsäglichen Schmerz, als sich das Messer in mich bohrt.

Dann kommt das Nichts.

Einen Moment lang herrscht eine allumfassende Stille, als hätte jemand die Zeit angehalten. Blicklos starrt sie auf mich herab, als ich meinen Körper verlasse und schwebe. Ich sehe ihr entsetztes Gesicht, höre sie nach Luft schnappen, als der Wahnsinn sie aus seinem Würgegriff entlässt. O Gott … Was hat sie getan?

Sie weiß nicht, dass ich mitbekomme, wie entsetzt sie ist. Sie wollte mich doch nicht töten, sondern mir nur vor Augen führen, dass wir keine Wahl haben, wie immer. Dass es nur eine Möglichkeit gibt. Hat sie deshalb das Messer bei sich? Sie sinkt auf die Knie und stößt diesen grauenvollen Schrei aus, wie ein verwundetes Tier, als wisse sie nicht, um wessen Kind sie in Wahrheit weint.

Bis ihr Blick an etwas hängen bleibt. Alex’ wunderschöne Halskette, die im Mondschein schimmert. Sie ist so schön, dass sie sie unmöglich hier liegen lassen kann. Sie greift um meinen Hals und öffnet den Verschluss.

Dann bekommt sie Panik. Nun gibt es kein Zurück mehr. Sie hätte niemals gedacht, dass es dazu kommen würde, nicht einmal in ihren schlimmsten Fantasien. Aber was ist mit dem Baby? Es ist immer noch da. Das arme Baby, das nicht leben durfte. Das Baby ihres Babys. Sie muss etwas tun, zeigen, wie sehr sie sich wünscht, dass alles anders hätte sein können.

Und allmählich begreift sie, was das ist.

Ehe sie zurückfährt, muss sie sie verstecken. Sie rafft Blätter, Zweige, Erde zusammen, was auch immer ihre zittrigen Hände zu fassen bekommen, bis meine Leiche von dem Waldboden nicht mehr zu unterscheiden ist. Wieder dringt ein Schluchzen aus ihrer Kehle, aus der Tiefe ihres Innern. Was hat sie nur getan? Sie kann mich doch nicht einfach so liegen lassen.

In der Finsternis sucht sie nach hübschem weichem Moos. Es ist so viel passender für die Tochter, die immer perfekt sein wird. Sie holt tief Luft. Auch wenn es so nicht geplant war, wird es funktionieren. Neal wird jetzt nicht mehr imstande sein, sie zu verlassen. Es wird sehr schwer werden, aber am Ende wird alles wieder so sein wie früher.

Beinahe.

Mein Tod ist dein
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