Rosie
August
Alles, was die Leute über den Augenblick des Todes sagen, ist wahr. In diesen letzten grauenvollen Sekunden sehe ich noch einmal die achtzehn Jahre meines Lebens vor mir vorüberziehen.
Und ich begreife den Unterschied zwischen Leben und Tod – die Zeit. Wussten Sie, dass es nur 0,0045 Sekunden dauert, bis ein Impuls das Gehirn erreicht, und weitere 0,002 Sekunden bis zum Einsetzen einer Reaktion, bis man vor Schreck nach Luft schnappt? Von dem Augenblick, wenn das Messer durch die Haut dringt, bis der Todeskampf einsetzt? Wussten Sie, dass Sekunden zur Ewigkeit werden können?
Ich spüre, wie ich meinen Körper verlasse. Wie sich die unsichtbaren Fäden lösen, die mich mit ihm verbunden haben. Wie ich emporschwebe und auf mich hinabblicke, auf das Blut, die dunkle, zähflüssige Lache, die in den von Blättern übersäten Boden sickert. Und trotz des Sauerstoffmangels in meinem Gehirn verharre ich einen Moment, eingehüllt in eine Wolke aus Endorphin, und warte, auf etwas – das große Unbekannte.
Und dann kommt es, in eingefrorenen Bildern. Kurze, flüchtige Momente, eingefangen wie in einer Schneekugel, nur ohne Schnee. Ich sehe meine Eltern, die eigentlich viel zu jung sind, um meine Eltern zu sein, aber ich erkenne meine Mutter deutlich an ihrem hellen Haar und ihrem Lächeln, das ihre Augen niemals zu erreichen scheint, und die Hand meines Vaters, die schwer auf ihrer Schulter liegt. Sie stehen mit einem Baby vor einem Häuschen aus rotem Ziegelstein, das ich noch nie vorher gesehen habe.
Es verblasst und weicht schließlich dem nächsten Standbild, dann einem weiteren, bis ich fünf bin. Dann verschmelzen die Bilder zu Filmen, und ich befinde mich mittendrin – lebe, hoffe, träume, alles noch einmal von vorn, nur anders.
Meine herrliche Kindheit mit den vielen Spielsachen, den tollen Urlaubsreisen, dem eigenen Fernseher im Zimmer, auf den ich so stolz war, existiert zwar noch, aber sie ist zerborsten, in tausend Stücke, blutbesudelt, mit Staub bedeckt, in tintenschwarze Dunkelheit getaucht.
Als Nächstes setzen die Stimmen ein. Die Geheimnisse, die niemals ans Licht hätten kommen dürfen und die nun nicht länger Geheimnisse sind, weil ich sie hören kann. Das Gesicht, das mich all die Jahre betrachtet hat und die Wahrheit kennt.
Ich sehe mir den Film meines eigenen Lebens an.