Rosie
Glück habe ich in meiner Kindheit nur selten erfahren. Aber genug, um zu wissen, wann es mich verlassen hat.
Ich erinnere mich an einen Tag in London. Mummys Augen leuchten, als sie mir die Schuhe zubindet, mein Haar bürstet und beteuert, dass wir einen ganz wundervollen Tag verbringen werden. »Den wundervollsten überhaupt«, erklärt sie, geht vor mir in die Hocke, nimmt meine Hände und sieht mich aus strahlenden Augen an, deren Glanz sich auf meine eigenen überträgt.
Wir sind nur zu zweit, wie an all unseren wundervollen Tagen.
Ich mag den Zug mit den breiten Sitzen und den riesigen Panoramafenstern. Es ist ein tolles Gefühl, auf die Landschaft hinauszublicken, während sich für einen Bruchteil einer Sekunde das Leben anderer Menschen vor einem ausbreitet, ehe es vorbeifliegt und wieder verschwunden ist.
In der Stadt nimmt Mummy mich an der Hand.
»Ich werde dir etwas ganz Besonderes zeigen«, verkündet sie mit einer Stimme, bei deren Klang ich das Gefühl habe, dass mein Herz vor lauter Aufregung gleich platzen wird.
»Du hast Glück, Rosanna, denn es ist gerade erst eröffnet worden.«
Ich höre die Leute darüber reden, als wir uns in der langen Schlange anstellen. London Eye. Ich habe keine Ahnung, was das ist. Erst als ich es sehe, dieses Ungetüm, das in den endlosen Himmel ragt, begreife ich.
Zuerst habe ich Angst, aber als wir höher hinaufkommen und die Stadt immer kleiner unter uns aussieht, ist es, als würde ich in eine andere Welt eintauchen. Ob wohl alle Städte so sind? Voll anderer Welten? Ich schaue Mummy an, ihr hübsch frisiertes Haar, ihre in die Ferne gerichteten Augen. Auch sie ist in eine andere Welt eingetaucht.
Ich bekomme ein Eis, Mummy trinkt einen Kaffee. Dann gehen wir einkaufen, aber Mummy sagt, wir müssten noch irgendwo anders hingehen. Jemanden treffen. Einen guten Freund.
Ich will aber Mummys Freund nicht treffen, dieser Tag soll uns allein gehören, aber sie besteht darauf.
»Komm jetzt, Rosanna. Ich darf nicht zu spät kommen.« Ich weiß noch, wie ich dachte, dass es kein wirklich guter Freund sein kann, denn die nehmen es einem nicht übel, wenn man mal ein paar Minuten zu spät kommt.
Mummys Freund wohnt in einem großen noblen Haus mit einer breiten Treppe, einer glänzenden Klingel und einem Messingschild an der Tür. Sie läutet. Kurz darauf macht uns eine Frau in einer weißen Jacke und mit rotem Lippenstift auf.
»Bitte kommen Sie herein, Mrs. Anderson. Mr. Pinard ist sofort bei Ihnen.«
Wir setzen uns auf ein Samtsofa vor einem Aquarium voll winziger, knallbunter Fische und betrachten all die Fotos schöner Frauen an den Wänden. Keine Einzige lächelt. Sie sehen perfekt aus. Dann kommt der Mann herein.
Ich verstecke mich hinter Mummy. Es gefällt mir nicht, wie er spricht. Er sei nicht aus England, flüstert Mummy. Und er ist tatsächlich ihr Freund. Das merke ich an der Art, wie er sie auf die Wange küsst, ihr lächelnd in die Augen sieht und erklärt, dass sie wunderschön aussieht. Er sagt Joanna zu ihr, sie nennt ihn Jean. Ihre Narben seien wunderschön verheilt, meint er, so winzig, dass man sie kaum noch sehen könne. Dann beugt er sich vor, schüttelt mir die Hand und sagt, er freue sich ja so, mich kennenzulernen.
Aber als sein Blick über mein Gesicht und meinen Körper wandert, weiche ich innerlich zurück. Seine Augen sind blau und kalt. Ich weiß nicht, wieso wir hier sind. Dann geht Mummy mit ihm nach nebenan. Ich soll hier warten, sagt sie, allein, bei den Fischen im Aquarium. »Die sind doch so hübsch, Rosanna.« Die Tür geht hinter ihnen zu.
Ich habe Angst. Hier gefällt es mir nicht.
Und ich mag den Mann nicht.
Auf einmal ist der Tag verdorben.
Ich will nach Hause.
Vor lauter Tränen kann ich nicht einmal mehr die Fische erkennen.