34
Juni
Der Juni kommt, und mit ihm die Vorboten eines langen, heißen Sommers. Es fällt weniger Arbeit an. Nach dem nassen Frühjahr, in dem die Pflanzen förmlich explodiert sind, hat sich das Wachstum mittlerweile auf ein überschaubares, erträgliches Maß eingependelt.
Noch drei Wochen, dann fangen die Sommerferien an. Für den Moment genügt mir die Aussicht, dass Grace nach Hause kommt. Noch hat sie sich nicht dazu geäußert, ob sie Ned mitbringen will.
Plötzlich läutet das Telefon.
»Hallo? Ich hoffe, ich habe die richtige Nummer … könnte ich bitte Kate sprechen?«
»Hier ist Kate McKay. Was kann ich für Sie tun?«
Ich erkenne die Stimme nicht und gehe automatisch davon aus, dass es sich um eine potenzielle Kundin handelt.
»Oh, Gott sei Dank, Kate. Ich bin Carol, Neal Andersons Schwester.«
»Hi! Carol …« Einen Augenblick lang bin ich verunsichert, aber sie fährt unbeirrt fort.
»Bitte entschuldigen Sie, Kate, dass ich Sie so überfalle. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Ich weiß, dass Sie mit Jo befreundet sind, aber …« Sie zögert. »Ich mache mir schreckliche Sorgen um Delphine.«
Trotz der frühsommerlichen Wärme wird mir auf einmal kalt. »Ja.«
»Sie hat mich letzte Woche angerufen und gesagt, ihrer Mutter gehe es wieder nicht besonders. Sind Sie über Jos … Probleme informiert?«
»Ich denke schon. Aber seit ihrer Entlassung schien es ihr doch ziemlich gut zu gehen.«
»Isst sie?« Carol klingt aufrichtig besorgt. »Wissen Sie, dass sie nichts isst, nur noch trinkt?«
»Ach, das glaube ich eigentlich nicht. Wir treffen uns ab und zu mal im Pub. Sie isst zwar nicht viel, bestellt aber immer etwas.«
Stille. »Und geht sie danach auf die Toilette?«
Will Carol mir damit sagen, dass Jo magersüchtig ist? Falls ja, würde ich darauf wetten, dass es nicht stimmt. Jo war schon immer sehr dünn, aber ich führe das auf den Stress zurück. Und ich werde auf keinen Fall mit einer Wildfremden darüber debattieren.
»Ich weiß nicht recht, ob ich Ihnen helfen kann, Carol. Sie sagen, Sie machen sich um Delphine Sorgen?«
»Sogar große. Joanna ist sehr labil. Wir waren nie dicke Freundinnen, aber die arme Frau musste eine Menge durchmachen, und mir ist klar, dass mein Bruder schuld daran ist. Delphine ist das Einzige, was ihr noch geblieben ist. Und ich bin nicht sicher, ob das so gut ist.«
»So schlimm ist es bestimmt nicht«, versuche ich sie zu beruhigen. »Außerdem haben Sie ja nach dem Umzug Gelegenheit, die beiden im Auge zu behalten.«
»Umzug?«, wiederholt Carol. »Sie wollen umziehen?«
Mich beschleicht ein mulmiges Gefühl. Eigentlich habe ich mir Carol als liebevolle, mütterliche Frau vorgestellt und so gar nicht wie diese Unruhestifterin, die ich gerade an der Strippe habe.
»Aber Sie müssen doch Bescheid wissen.« Allmählich werde ich ungeduldig. »Jo hat mir erzählt, sie würde wohl eine Weile bei Ihnen unterschlüpfen. Natürlich erst, wenn das Haus verkauft ist.«
»Sind Sie ganz sicher, dass sie das gesagt hat?«
»Absolut. Sie hat das doch bestimmt mit Ihnen besprochen, oder?«
Sie schweigt. Was ist eigentlich los? Wer hat hier wen missverstanden, und, was noch viel wichtiger ist, auf wessen Seite steht Carol?
»Ich habe seit Wochen nichts von Jo gehört, Kate. Wir hatten Streit, als ich Delphine zu Hause abgeliefert habe. Sie wollte gern bei mir bleiben. Genauer gesagt, wollte sie ganz zu uns ziehen. Ich kann mir nicht mal ansatzweise vorstellen, wie es Jo damit geht.«
Es fällt mir schwer, ihr zu glauben. Etwas so Wichtiges hätte Jo mir doch sicherlich erzählt.
»Davon hat sie kein Wort verlauten lassen. Zumindest mir gegenüber nicht.«
»Nein, und so wie ich Joanna kenne, wundert mich das auch nicht. Sie wissen bestimmt, was ich meine. Deshalb mache ich mir Sorgen.«
Am Ende verspreche ich Carol, Delphine und Jo im Auge zu behalten. Inzwischen kenne ich Jo gut genug, um die Anzeichen eines neuerlichen Zusammenbruchs zu erkennen.
Aber als ich das nächste Mal bei ihr vorbeisehe, ist alles wie immer. Das Haus ist blitzblank, Jo ist hübsch angezogen und scheint guter Dinge zu sein. Sie sitzt bei einer Tasse Tee über einem Stapel Immobilienexposés.
»Du warst ja ziemlich fleißig. Darf ich?« Ich setze mich neben sie.
»Bitte. Irgendwie macht es sogar Spaß. Hier, sieh es dir ruhig an. Ich mache dir so lange einen Tee.«
Ich blättere die Unterlagen durch – allesamt Exposés von großen Häusern wie diesem, modern und exklusiv, in erstklassiger, ruhiger Lage. Ich frage mich, wie sie so ein Anwesen selbst nach dem Verkauf dieses Hauses bezahlen will.
»In eines habe ich mich regelrecht verliebt«, ruft sie. »In der Nähe von Tonbridge.«
»Aber was ist mit Devon? Wolltest du nicht zu Carol ziehen?« Ich hasse mich für meine Hinterhältigkeit, aber ich muss es tun, um Delphines willen.
»Ehrlich gesagt …« Sie stellt einen Teebecher vor mir auf den Tisch und setzt sich wieder. »Ich bin nicht sicher, ob das so eine gute Idee ist. Carol hat eine Art an sich … anderen ständig reinzureden. Ich weiß nicht recht, ob es funktionieren würde.«
Ich nippe an meinem Tee und überlege, wie ich meine nächste Karte ausspielen soll. »Aber es wäre vielleicht ganz gut für Delphine, oder nicht? Carol hat doch auch Kinder, richtig? Sind sie im selben Alter?«
Jos Lächeln wird eine Spur angestrengter. »Sie sind etwas älter. Sieh dir das hier mal an. Wie findest du es?«
Sie zieht das Exposé eines Neubaus im New-England-Stil mit auf alt getrimmten Holzschindeln direkt am Strand heraus. »Was sagst du dazu?«
»Sehr nett.« Ich schlage die erste Seite auf. Es ist definitiv Jos Stil. Lichtdurchflutet, großzügig und – offen gestanden – ziemlich protzig. »Wenn du willst, kann ich dich gern zur Besichtigung begleiten. Das würde bestimmt Spaß machen.«
»Wirklich?« Sie zögert. »Ich muss noch auf Rückmeldung des Maklers warten. Kann ich mich bei dir melden?«
»Was sagt Delphine … hierzu, meine ich.« Ich deute auf die Unterlagen.
»Oh, ihr gefällt es. Sie ist an Schulwechsel gewöhnt. Wir sind schon immer oft umgezogen. So lange wie jetzt waren wir noch nie an einem Ort. Es wird bestimmt nett, mal wieder anderswo zu wohnen.«
Sie erwähnt mit keiner Silbe ihre anfängliche Skepsis – und auch nicht unsere Freundschaft. Ich kenne Leute, die sich ebenso mühelos von ihrem Zuhause trennen können wie von ihrer alten Frisur, ganz im Gegensatz zu Angus und mir. Uns gefällt der Gedanke, ein Heim gefunden zu haben, das wir beide lieben und das uns ans Herz gewachsen ist; ein Zuhause, in dem wir gemeinsam alt und grau werden wollen.
»Ich weiß. Bestimmt hältst du uns für völlig verrückt! Und für Langweiler.«
Sie sieht mich an. »Ihr seid einfach nur Glückspilze, Kate. Und du verdienst es.«
»Etwas höchst Seltsames ist geschehen«, sage ich später zu Laura. »Jos Schwägerin Carol hat mich angerufen.«
»Neals Schwester?«
»Genau. Sie meinte, sie mache sich große Sorgen um Delphine. Sehr große Sorgen. Delphine wollte offenbar zu ihr ziehen.«
»Das ist allerdings merkwürdig«, bestätigt Laura. »Hat sie dir gegenüber etwas in diese Richtung erwähnt?«
»Nein, aber so gut kenne ich sie natürlich nicht. Hast du mit Neal gesprochen?«
»Ja. Ich habe ihn in einer Wohnung in London aufgestöbert, wo er bis zum Prozess untergekommen ist. Im Grunde scheint er genauso kaputt zu sein wie Jo. Er meinte, was er über die Auszeichnung gesagt hätte, wäre die Wahrheit, und natürlich hätte er auch seine Tochter nicht ermordet. Für ihn sei Alex, ihr Gärtner, eindeutig der Täter, und was er denn noch tun müsse, dass ihm endlich jemand glauben würde.« Sie runzelt die Stirn. »Und soll ich dir sagen, was ich am seltsamsten fand? Ich habe ihm beinahe geglaubt. Ich weiß, wie gut er andere manipulieren kann, trotzdem bin ich überzeugt, dass er die Wahrheit sagt.«
Einen Moment lang sitzen wir schweigend da, während uns beiden dämmert, was das bedeuten könnte, und unsere felsenfeste Überzeugung immer mehr ins Wanken gerät.
»Hast du ihn nach Jos Eltern gefragt?«, hake ich schließlich nach.
»Ja. Er hatte so gut wie keinen Kontakt zu ihnen. Allem Anschein nach wurde Jo sehr streng erzogen. Ansonsten hatte er nur sehr wenig zu sagen. Hast du Alex in letzter Zeit mal gesehen?«
Ich schüttle den Kopf. »Schon länger nicht mehr. Er arbeitet nicht mehr in der Gärtnerei.«
»Du musst zugeben, dass das ziemlich merkwürdig ist«, meint Laura. »Es könnte ein Zufall sein, aber ausgerechnet jetzt, wo Neal Alex wieder als Schuldigen ins Spiel bringt, ist er spurlos verschwunden.«
»Aber die Polizei konnte ihm nichts nachweisen«, erwidere ich.
»Nein, weil sie selbst ohne sein Alibi – und wer war noch mal Poppy? – nicht genügend Beweise gegen ihn in der Hand hatten. Aber wenn Neal tatsächlich nicht der Mörder ist, würde es mich nicht wundern, wenn sich die Ermittlungen wieder auf Alex konzentrieren würden. Im Moment gibt es sonst niemanden, der infrage käme …«