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Die Risse in Jos Fassade zeigen sich nur, wenn sie etwas aus dem Konzept bringt – zum Beispiel, als Delphine fragt, ob sie auf die Klassenfahrt nach Paris mitdarf, der Haufen unerwarteter Rechnungen oder der Anruf der Polizeipsychologin.
»Mir geht’s gut, ich brauche nur ein bisschen Zeit für mich«, stößt sie schnippisch hervor, als ich mich nach ihrem Befinden erkundige. »Ich wünschte, die würden mich endlich in Ruhe lassen.«
All das zeigt nur, wie hilflos sie sich im Grunde genommen fühlt.
Sie bringt das Thema Geld nicht zur Sprache, und ich genauso wenig. Als das Haus fertig ist, die letzte Wand gestrichen, das letzte Möbelstück an seinen Platz gerückt ist, fällt ihre Euphorie in sich zusammen.
»Schön ist es geworden, Jo. Tolle Arbeit.«
»Danke. So ist es viel besser, oder nicht?«
Ich lasse den Blick über die in einem neutralen Ton gestrichenen Wände mit den nagelneuen Vorhängen und den etwas anders platzierten Möbeln schweifen. Alles ist eine Spur zu makellos, zu sauber, zu ordentlich. Dasselbe gilt für das obere Stockwerk – eher ein Motiv aus einem Hochglanz-Einrichtungsmagazin als das Zuhause einer Familie.
»Und jetzt?«, frage ich.
Sie blickt mich verwirrt an.
»Was ist denn mit deinem Kurs? Es lief doch ganz gut.«
»Ich weiß nicht so recht.« Sie klingt verunsichert. »Wegen der ganzen Sache mit Neal kann ich nicht so weit im Voraus planen.«
Obwohl sie alles daransetzt, es zu verbergen, entgeht mir die Veränderung nicht. Jedes Mal, wenn ich sie besuche, ist ihre Welt ein klein wenig mehr geschrumpft, bis sie restlos darin gefangen ist. Sie zeigt mir ihr neues Geschirr oder das neueste Hightech-Spielzeug, und irgendwann hat sie nichts mehr zu erzählen.
»Jo?«, sage ich eines Tages zu ihr, als wir weitgehend schweigend am Tisch sitzen. »Du bist nicht mehr du selbst. Was ist denn mit dir los?«
»Ich weiß auch nicht«, antwortet sie und sieht mich ausdruckslos an. »Ich dachte, wenn Neal erst mal weg und das Haus neu gestaltet ist, würde ich mich besser fühlen. Aber es ist nicht so, Kate. Im Gegenteil, ich fühle mich schrecklich. Und es wird mit jedem Tag schlimmer. Ich weiß nicht, was ich tun soll …«
»Du hast so viel durchgemacht.« Ich habe Angst, sie könnte an der Schwelle zu einem neuerlichen Nervenzusammenbruch stehen. Ihre Haut unter den Make-up-Schichten ist grau, und unter ihren Augen liegen dunkle Schatten, als käme sie nicht einmal zur Ruhe, wenn sie schläft. »Ernsthaft, vielleicht solltest du dir professionelle Hilfe suchen, Jo. Glaubst du nicht, dass dir das helfen würde?«
Einen Moment lang scheint sie darüber nachzudenken, aber dann stößt sie ein bitteres Lachen aus. »Andere sind viel schlechter dran als ich. Ehrlich, Kate, mir geht’s gut.«
Aber ich weiß, dass es nicht so ist. Eine klassische Stressreaktion baut sich über einen längeren Zeitraum hinweg innerlich auf und kann dann zutage treten, wenn man am wenigsten damit rechnet. Vermutlich geschieht genau das mit Jo. Deshalb braucht sie dringend Hilfe. Ich beschließe, sie später noch einmal anzurufen und mit ihr zu reden, aber als ich heimkomme, liegt ein weiterer Umschlag in meiner Diele.
In einer Welt voller Menschen bin ich ganz allein.