Rosie
Es gibt immer zwei Lager – die Guten und die Bösen. Die Schönen und die Hässlichen. Gewinner und Verlierer. Die Andersons stehen niemals auf der Verliererseite. Und sie sind stets perfekt. Drunter geht es nicht.
Genau deshalb bin ich so gern bei Kate mit ihren alten Jeans und geflickten Reithosen, den staubigen Stiefeln und ausgeleierten T-Shirts. Und auch die Pferde merken es – es zählt nur, wie man innen drin ist.
Wussten Sie, dass Pferde spüren, wenn man innerlich angespannt ist, sich unwohl fühlt oder schlechte Laune hat? Sie interessiert es nicht, wie alt die Klamotten sind, die man trägt, und registrieren, was einen in Wahrheit ärgert. Und wenn man es schafft, all die Ängste und Sorgen aus dem Bewusstsein zu verbannen und es stattdessen mit Liebe zu füllen, spürt das Pferd das.
Als ich zwölf bin, gehe ich mit Mummy shoppen, neue Kleider für den neuen Körper, den ich gar nicht mag – auf einmal habe ich Brüste und Kurven und fühle mich gehemmt. Am liebsten würde ich mich in Jeans, Rockstar-Shirts und knappen Shorts verstecken, um nicht aufzufallen, so wie all die anderen Mädchen, aber Mummy erlaubt es nicht.
»Das äußere Erscheinungsbild ist das A und O, Rosanna«, erklärt sie mir. »Die ersten Sekunden sind entscheidend, wenn man mit jemandem spricht. Sie bestimmen darüber, was andere von uns denken. Ob man zu dieser Sorte Mensch gehört …« Sie sieht zu einem Grüppchen Mädchen hinüber. Sie sind laut, haben viel zu enge Kleider an, die ihre Pölsterchen betonen, tragen Extensions und viel zu viel Make-up. »… oder ob man so ist wie wir.«
Mein Blick schweift zu den Mädchen, dann zu Mummy, wie immer makellos gekleidet in hellem, sorgsam gebügeltem Leinenoutfit, das weiche Haar perfekt frisiert. Ich betrachte meine hellrosa Jeans. Plappernd schlendern die Mädchen Arm in Arm durchs Einkaufszentrum und schütten sich vor Lachen über irgendeinen Blödsinn aus, vertrauen einander Geheimnisse an. Mummy ist zwar topgepflegt, aber sie lächelt nicht. Und da weiß ich, was ich lieber möchte.
Im Lauf der Zeit gelingt es mir, ein paar Sachen zu bunkern, von denen niemand weiß: ein schwarzes, bauchfreies Shirt, Jeans-Shorts – flippige Klamotten, in denen ich mich wohlfühle. Natürlich kann ich sie nur anziehen, wenn meine Eltern nicht da sind, aber am liebsten würde ich dieses Gefühl bewahren, nachdem ich sie wieder ausgezogen habe. Obwohl ich mit Bedacht vorgehe und regelmäßig die Verstecke wechsle, findet Mummy sie und nimmt sie mir weg. Sie seien hässlich und billig, sagt sie. So etwas würden nur Schlampen tragen. Sie speit das Wort förmlich aus.
Und damit nicht genug.
Ich bin vierzehn. Della und ich sitzen am Esstisch. Jeden Sonntag gibt es Braten, komme, was wolle. Aber als mir Mummy heute meinen Teller hinstellt, traue ich meinen Augen kaum. Im ersten Moment denke ich, es sei ein Missverständnis, weil außer einer Scheibe Fleisch und ein bisschen Gemüse praktisch nichts darauf liegt.
Schweigend fange ich an zu essen und freue mich schon auf den Nachtisch, weil ich einen Bärenhunger habe. Aber ich bekomme keinen. Ich spüre den Blick meines Vaters, als ich den Mund aufmache und etwas sagen will.
Della ist ebenfalls verwirrt. »Wieso isst Rosie nichts?«
»Nenn sie nicht so!«, schnauzt mein Vater sie an.
»Manchmal ist es besser, weniger zu essen«, meint Mummy. »Rosanna muss abnehmen.«
Ihre Worte sind wie ein Schlag ins Gesicht. Ich habe mich nie als fett betrachtet. Ich blicke auf meine Hände, die immer noch kindlich sind. Meine Mutter greift nach der Wasserkaraffe. Ihre Hand schließt sich um den Henkel, wobei sich die Haut über den Sehnen und Knochen spannt. Nichts als harte Kanten und Linien. Von Weichheit keine Spur.
An diesem Tag fällt mir zum ersten Mal auf, dass sie so gut wie nichts isst.
Bin ich hässlich?, frage ich mich automatisch.
Je weniger ich zu essen bekomme und je knochiger mein Körper wird, umso nervöser werde ich – wie ein gespanntes Drahtseil, das eines Tages unweigerlich zerreißen wird. Und je mehr Gewicht ich verliere, umso mehr Gewicht bekommt die Frage, die mir unablässig im Kopf herumgeht: Bin ich fett? Und sind die weichen Konturen, die ich im Spiegel sehe, nicht eher unerwünschte groteske Ausbeulungen, die weggehungert werden müssen?
Wenn ich mich jetzt sehe, erkenne ich nur einen makellosen, schlanken Teenagerkörper – ein Mädchen, das noch die Reste kindlicher Unschuld besitzt und sich unter dem ständigen Streben nach Perfektion formen lässt. In all den Wochen, in denen Mummy weg war, um »Freunde« zu besuchen, war sie in Wahrheit immer bei ein- und derselben Person: bei dem Schönheitschirurgen, der unablässig an ihr herumgeschnippelt hat, um die perfekte Frau unter der vermeintlich nicht perfekten Fassade freizulegen.
Meine chirurgisch verschönerte Mutter, eine Frau jenseits jeder natürlichen Schönheit, hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, Perfektion zu erlangen. Sie besitzt für sie einen so hohen Stellenwert, dass sie ihren Anspruch nahtlos auf ihre Töchter überträgt.
Aber selbst jetzt kann ich nicht nachvollziehen, warum sie das getan hat. Denn je perfekter sie wird, umso mehr leiden ihre Seele und ihr Geist, verkümmern und vertrocknen wie das Laub im Wald, verdorren bis zur Unkenntlichkeit.