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»Ich gehe reiten, Grace«, rufe ich, nachdem ich aufgelegt habe. »Kommst du mit?«
»Hab schon was vor«, dringt ihre gedämpfte Stimme durch die geschlossene Tür. »Tut mir leid.«
An jedem anderen Tag würde mich ihre Gleichgültigkeit ärgern, aber nicht heute. Grace geht am liebsten in aller Frühe reiten, wenn es noch angenehm kühl und ganz still ist. Nachdenkzeit, so nennt sie das immer. Dass sie nicht mitkommt, hat einen klaren Vorteil: Ich kann meinem eigenen Rhythmus folgen und bin nicht dem Zeitgefüge eines Teenagers unterworfen, das mich zwingt, wie eine Besessene durch den Tag zu hetzen, immer spontan und auf Hochtouren – nur um möglichst schnell die Pflichten hinter mich zu bringen, denn schließlich ist Freizeit das Einzige, was im Leben zählt. Und heute bin ich heilfroh, Zeit für mich allein zu haben, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen.
Draußen herrscht jene typisch schwüle Spätnachmittagshitze, die ein aufziehendes Gewitter ankündigt. Die Pferde stehen lethargisch auf der Koppel, verscheuchen die Fliegen mit dem Schweif und heben nur kurz den Kopf, als sie mich kommen hören.
Abgesehen von meiner Reba, die mittlerweile im Ruhestand ist, und Grace’ beinahe ausgewachsenem Oz haben alle Pferde irgendwelche Probleme; zumindest in den Augen ihrer Besitzer, die sie mir bringen, damit ich sie gegen gutes Geld wieder ins Lot bringe. Diese Aufgabe ist die ideale Ergänzung zu meiner Arbeit als Landschaftsgärtnerin, außerdem sind Pferde ohnehin mein Lebenselixier.
Sie helfen mir, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen. Ihre innere und äußere Schönheit ist einzigartig auf der Welt – die Eleganz ihrer Bewegungen, die samtige Weichheit ihrer Nüstern an meiner Wange. Pferde lassen sich nicht täuschen. Sie nehmen die Körpersprache anderer Geschöpfe mit untrüglichem Instinkt wahr und kennen die Gedanken ihres Reiters, noch bevor wir uns über sie bewusst werden.
Heute reite ich Zappa, den hochgewachsenen Grauen, vor dem man mich gewarnt hat, er sei unberechenbar und gefährlich. Ja ja, schon klar, würde Grace sagen und die Augen verdrehen. Mit seinen dunklen und intelligenten Augen und seinem erhabenen, eleganten Gang gehört Zappa zu den schönsten Pferden, die ich je gesehen habe. Er registriert jedes noch so leise Flüstern und reagiert selbst auf die winzigsten Bewegungen. Ein absoluter Traum.
Der vermeintlich so gefährliche Hengst wartet schläfrig, bis ich ihn gesattelt habe und aufgesessen bin. Gemächlich trottet er den Weg entlang und späht über Hecken und Mauern, wobei sich seine Ohren unablässig bewegen. Nicht zum ersten Mal überlege ich, wie lange ich ihn wohl noch hierbehalten kann, ehe ich seiner Besitzerin sagen werde, dass ihm rein gar nichts fehlt.
Als wir den Kamm des Hügels erreicht haben und auf den Reitweg einbiegen, fallen die ersten dicken Tropfen. Die Brise frischt auf, und Zappa macht einen Satz, als ein Windstoß das Tor zum Feld neben uns zuschlägt. Ich schaue zu dem sich rasch verdunkelnden Himmel hinauf, dann zu den Bäumen am Waldrand, wo es noch düsterer ist.
Zappa, der den aufkommenden Sturm spürt, nimmt mir die Entscheidung ab, indem er sich in Bewegung setzt und in Richtung Wald trabt. In dem Moment, als der Himmel endgültig die Schleusen öffnet, erreichen wir den Wald.
Auf dem Weg unter dem dichten Blätterdach ist es trocken. Der Schrei eines Fasans lässt Zappa zusammenzucken. Beruhigend streichle ich seinen Hals, als er mit einem Huf über eine Wurzel stolpert. Als er in einen Galopp fällt, muss ich unvermittelt wieder an Rosie denken.
An dem Abend, als sie zum letzten Mal gesehen wurde, hätte sie ohne weiteres hier sein können.
Mein Herzschlag beschleunigt sich, als es immer heftiger zu regnet beginnt. Entschlossen schüttle ich mein Unbehagen ab. Rosie hätte überall sein können.
Aber was, wenn ihr etwas zugestoßen ist?
Ein anderer, weitaus beängstigender Gedanke kommt mir in den Sinn.
Was, wenn ihr hier etwas zugestoßen ist?
Plötzlich verspüre ich eine durchdringende eisige Kälte, und mir fällt auf, dass ich ganz allein bin. Keine Spaziergänger, die ihre Hunde Gassi führen, keine anderen Reiter.
Eine düstere Vorahnung ergreift Besitz von mir, gefolgt von Angst, die hinter jeder Ecke zu lauern scheint – eigentlich ist das Wort viel zu schwach für die Panik, die in mir aufsteigt und jeden klaren Gedanken unmöglich macht, während sich ein einzelnes, stummes Wort in den Tiefen meines Innern formt:
Lauf!
Zappa hört mich und reagiert, obwohl der Weg vor uns schmaler wird. Wir galoppieren dahin, begleitet von der Angst, während der Donner über uns grollt und der Wind mir die Äste ins Gesicht peitscht. Ein Blitz flammt auf, und Zappa beschleunigt seine Schritte, als vor mir etwas Helles aufleuchtet. Rosies Haar. Dann höre ich ihre Stimme – oder ist es der Wind? – meinen Namen schreien.
Zappa reißt den Kopf hoch. Ich versuche, ihn zu drosseln, aber er hört nicht mehr auf mich. Ich kann mich nur festhalten und versuchen, im Sattel zu bleiben. Gerade als ich fürchte, dass er stürzen wird, weicht die Düsternis vor uns, und es wird hell.
Ohne zu zögern, wendet Zappa sich dem Licht zu. Zweige verhaken sich in meinen Kleidern, Dornen bohren sich in meine Haut. Er prescht den Abhang hinauf, über den kreidigen Untergrund, und als er oben abrupt stehen bleibt, stürze ich kopfüber in die Finsternis.