40

Mit einem Ruck löse ich mich aus Alex’ Griff.

»Lassen Sie mich sofort los!«, schreie ich panisch und laufe zur Tür.

Aber er ist direkt hinter mir, und als ich sie aufreiße, knallt er sie mit einer Hand wieder zu.

»Kate … es tut mir leid. Ich hätte das nicht tun dürfen. Ich habe sie nicht umgebracht, das schwöre ich, bei meinem Leben. Ich neige zu Wutausbrüchen, das ist wahr …«

In diesem Moment, als er bedrohlich näher rückt und so dicht vor mir steht, dass ich die Wärme seines Körpers spüren kann, bgreife ich zum ersten Mal in meinem Leben, was wahre Angst bedeutet. Er könnte mich töten. Niemand weiß, wo ich bin.

Ich warte. Starr vor Angst.

Ist dies das Ende?

Aber er nimmt die Hand weg und tritt einen Schritt zurück.

»Ich habe sie nicht ermordet«, sagt er leise. Es ist eine flehentliche Bitte, ihm zu glauben. Plötzlich taucht ein Bild von Rosie vor mir auf – ihre klaren Augen, ihre Finger, die sich um die Halskette schließen. Sie war so sanftmütig und sensibel, deshalb mochten die Pferde sie so gern. Als er die Tür öffnet, weiß ich, dass er unschuldig ist.

Ich stelle keine Fragen, maße mir kein Urteil an, sondern warte ab, bis die Zeit und die Magie der Pferde ihre Wirkung bei Delphine entfalten. Wieder kann ich mich nur wundern, wie seltsam sie sich für ein Mädchen dieses Alters verhält.

»Sie sitzt stundenlang nur in ihrem Zimmer«, sage ich leise zu Angus. »Meinst du, es geht ihr gut?«

»Vermutlich. Aber du weißt ja nicht, wie sie sich zu Hause verhält.«

»Das ist wahr. Vielleicht sollte ich mal nach ihr sehen und fragen, ob sie runterkommen und mit uns fernsehen möchte.«

Ich stehe vor der Tür und lausche auf Geräusche, bevor ich anklopfe.

»Delphine? Darf ich reinkommen?«

Stille. Dann geht die Tür plötzlich auf. Sie sieht mich an, tritt nahezu geräuschlos zum Bett und klappt ihr Notizbuch zu.

»Wieso kommst du nicht runter? Angus und ich wollten uns gleich einen Film im Fernsehen anschauen.«

Erwartungsvoll blickt sie mich an.

»Du kannst dich gern dazugesellen. Hast du Lust auf eine heiße Schokolade?«

»Kriege ich eine?«

»Aber natürlich. Grace ernährt sich regelrecht von dem Zeug. Komm, ich zeige dir, wo alles steht, dann kannst du dir jederzeit eine machen, wenn du Lust hast.«

Allem Anschein nach ist Jo seit ihrem Zusammenbruch in einem Zustand, der auch den Ärzten ein Rätsel bleibt. Als ich sie besuche, deutet nichts darauf hin, dass sie mich erkennt. Mit ausdrucksloser Miene liegt sie da und starrt ins Nichts. Auch als ich Delphine erwähne, zeigt sie keinerlei Reaktion.

»Es ist, als würde sie mit offenen Augen schlafen«, erzähle ich später Laura. »Was ist los mit ihr? Wacht sie eines Tages auf, und alles ist wie früher, oder geben die Ärzte ihr Medikamente?«

»Vermutlich«, antwortet sie. »Arme Jo. Das hört sich nach einer sehr langwierigen Geschichte an. Ist es dir immer noch recht, dass Delphine bei euch ist?«

»Von uns aus darf sie gern bleiben. Ich würde es nicht übers Herz bringen, sie wegzuschicken.«

Das könnte ich nicht, niemals. Das arme Kind. Sie scheint sich allmählich etwas einzuleben und braucht dringend Stabilität, nachdem sie so viel durchgemacht hat.

»Natürlich könnte sie zu Carol ziehen. Ich habe sie vorhin angerufen. Sie würde sie jederzeit zu sich nehmen, aber das würde bedeuten, dass sie die Schule wechseln müsste und ihre Freundinnen verlieren würde … Ich habe keine Ahnung, was das Beste für sie ist.«

Was würde ihr wohl leichterfallen – die vertraute Umgebung zu verlassen oder hierzubleiben, wo sie alles kennt?

»Rede doch einfach mal mit ihr«, schlägt Laura vor.

»Ich war bei Alex.«

Laura sieht mich erschrocken an. »Kate!«

»Ich musste mit ihm reden. Inzwischen glaube ich nicht mehr, dass er es war.«

»Trotzdem sind die Ermittlungen nicht abgeschlossen«, erwidert Laura, »und er steht immer noch unter Mordverdacht.«

»Er ist unschuldig«, beharre ich, wobei mir ihr skeptischer Blick nicht entgeht. Dieser Unterton in seiner Stimme, bevor ich gegangen bin, hat mich überzeugt. Alex sagt die Wahrheit.

Ich habe es nicht getan, Kate. Sie müssen mir glauben. Aber ich weiß nicht, wie ich es beweisen soll.

»Aber wenn er es nicht war, wer war’s dann?«, fragt Laura.

»Er ist davon überzeugt, dass Neal der Täter ist. Er hätte nur so getan, als wäre er betrunken gewesen, und sein Alibi sei bei weitem nicht hieb- und stichfest …«

Laura verzieht das Gesicht. »Aber das stimmt nicht. Der Typ hat ihn kurz vor elf durch den Stadtpark wanken sehen. Im ersten Moment hat er gedacht, es sei ein Obdachloser, der im Gebüsch umgekippt sei. Er hat nichts unternommen, logischerweise, weil er es ja eilig hatte, zu seiner Geliebten zu kommen. Aber auf dem Heimweg hätte Neal immer noch dort gelegen, genau an derselben Stelle. Deshalb hätte er dann doch versucht, ihn zu wecken, aber Neal sei einfach nicht wach geworden. Da hätte er die Whiskeyflasche bemerkt. Jo sagt selbst, er sei am nächsten Morgen mit einer Riesenfahne angekrochen gekommen. Natürlich besteht eine winzige Chance, dass er das alles nur gespielt hat, aber, ganz ehrlich, ich glaube das nicht.«

»Dann muss es jemand anders gewesen sein«, sage ich und höre Delphine die Treppe herunterkommen. »Alles in Ordnung, Süße?«

»Darf ich mir was zu trinken nehmen?« Mit ihrer gewohnt teilnahmslosen Miene sieht sie zu uns herein.

»Aber klar. Sag Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«

Ich höre, wie sie den Wasserkessel füllt und mit dem Geschirr klappert. Kurz darauf kommt sie mit einem weißen Umschlag ins Wohnzimmer.

»Ich glaube, den hat gerade jemand eingeworfen.«

Ich zögere, blicke kurz zu Laura hinüber. »Danke«, sage ich, um einen normalen Tonfall bemüht.

Als sie in die Küche zurückkehrt, reiße ich ihn auf und lese die Nachricht.

Frag nach der Halskette.

Ich lasse den Brief sinken. In diesem Moment fällt der Groschen

Mein Tod ist dein
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