Rosie
Ich sehe den Typen mit den blauen Augen und den ausgeleierten Jeans in unserem Garten. Er kennt sich mit den Jahreszeiten aus und weiß, wie er Leuten wie meinen Eltern, bei denen es hauptsächlich darum geht, dass alles toll aussieht, die richtigen Pflanzen verkaufen muss. Leuten, die nach Bewunderung lechzen, weil sie das größte Haus und den eindrucksvollsten Garten haben.
Fühle ich mich anfangs bloß so zu ihm hingezogen, weil ich weiß, dass meine Eltern schon bei der Vorstellung ausrasten würden, dass ihre Tochter ihn berührt, küsst und mit ihm schläft? Oder bedeuten seine sanfte Freundlichkeit, seine Sensibilität und sein Einfühlungsvermögen, dass auch er so so unvermeidlich ist wie die Tatsache, dass auf den Tag der Abend folgt? Ich weiß es nicht.
Alex zeigt mir die ersten Triebe, die aus der Erde sprießen. Sie umhüllt die Natur, sagt er. All diese knorrigen braunen kleinen Dinger stecken in der Erde, wo sie unter den richtigen Bedingungen in Ruhe zu etwas Wunderschönem heranwachsen, zuerst die Blätter, jedes in seiner eigenen Grünschattierung, gefolgt von einem Schneeglöckchen oder einer süß duftenden Narzisse oder den dicken Tulpen, die wachsen und stetig ihre Farbe verändern, selbst wenn man sie abschneidet. Aber, sagt er, das Potenzial sei trotzdem stets vorhanden, selbst wenn man es nicht sehen könne.
Eigentlich sind seine Erklärungen ganz einfach und nachvollziehbar – nicht die hübsche, aber vergängliche Blüte bedarf der sorgsamen Pflege, sondern das, was im Verborgenen liegt. Es ist genauso wie bei den Menschen: Das Innere ist tausend Mal schöner als das, was das Skalpell eines Chirurgen jemals zutage fördern könnte.
Er bringt mir bei, dass Schönheit nicht zwangsläufig mit Perfektion einhergehen muss, zeigt mir die Unvollkommenheit der Blütenblätter, die zuerst abfallen, dann verwelken und sich verfärben, bis nur noch die winzigen Samenkörner für die Vögel übrig sind. Er zeigt mir von Flechten bedeckte Baumrinde, satte, zerbröselnde Erde und eine Rose mit unterschiedlich gefärbten Blüten – alles wunderschön auf eine ganz eigene, nicht auf den ersten Blick erkennbare Art.
Es beginnt mit Blicken, dann streifen sich unsere Schultern, unsere Finger berühren sich flüchtig, als ich ihm einen Kaffeebecher reiche. Und eines Tages stellt er den Becher beiseite, streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht und küsst mich.
Seine Berührung ist so verführerisch wie der erste Duft von Geißblatt oder die Wärme der Sonnenstrahlen nach einem langen Winter. Ich kann nicht sagen, wie ich all die Jahre ohne ihn leben konnte, wie leer ich war bis zu jenem Moment, als seine Hände die meinen berühren und ich seinen erdigen frischen Geruch einatme. Zum ersten Mal fühle ich mich wirklich lebendig.
Von dem Augenblick an, als ich mich verliebe und am liebsten den ganzen Tag nur tanzen und singen würde, gibt es kein Zurück mehr. Plötzlich ist alles anders, so beflügelnd, und ich kann atmen, sprechen, ich lebe. Hat die Liebe grundsätzlich diese Wirkung auf Menschen, oder liegt es an der stillen Kraft der Bäume ringsum, der unendlichen Stärke des Windes, während in der Erde die zartesten Pflänzchen gedeihen?
Alex entführt mich in eine völlig neue Welt – von den höchsten Höhen hinab auf eine Erde, die sich vor unseren Füßen ausbreitet. Er macht mich auf die Wolken aufmerksam, die einen Sturm ankündigen, auf das Schlagen der Wellen, als wir am Lagerfeuer am Strand sitzen. Er hat den Arm um mich gelegt, und mein Kopf lehnt an seiner Schulter, während wir zum Himmel hinaufschauen und beobachten, wie das Blau einem pfirsichfarbenen Rosa weicht, ehe die Sterne in der Finsternis erscheinen.
Zwischen diesen Begegnungen stehlen wir uns immer wieder Momente, unendlich kostbar, weil sie so schnell wieder vergehen.
Ich bin übervorsichtig, verwische jede Spur mit sorgsam platzierten Lügen, damit uns niemand auf die Schliche kommt. Doch eines Tages kehrt meine Mutter unerwartet nach Hause zurück, weil ihr Termin im Friseursalon storniert wurde. Ich höre weder ihren Wagen, den sie auf der Straße geparkt hat, noch bekomme ich mit, wie sie leise die Tür aufmacht, auf Zehenspitzen das Wohnzimmer durchquert und ans Küchenfenster tritt.
Wieso starrt sie mich so entsetzt an? Weil seine Arme mich umschlingen? Oder weil sie etwas auf unseren Gesichtern gesehen hat, das sie selbst niemals empfunden hat und niemals empfinden wird?
Es ist nicht länger wichtig, was meine Eltern denken. Diese Art der Liebe kann nicht falsch sein. Aber ich weiß auch, dass es nicht immer so ist. Dass es Menschen gibt, wie meine Eltern, bei denen es besser gewesen wäre, wenn sie Fremde geblieben oder sich nie begegnet wären.