Rosie
Mein Vater ist ein begnadeter Schauspieler mit zahlreichen Gesichtern. Man könnte ihn auch als Lügner bezeichnen. Alle, die ihn kennenlernen, sehen nur seinen Charme, sein ansprechendes Äußeres. Sie sehen den attraktiven, berühmten Reporter, der ihnen aus dem Fernseher entgegenblickt, während er in Kriegsgebieten seine eigene Sicherheit aufs Spiel setzt. Grimmig, wenn er die Vorkommnisse dort schildert. Eindringlich, wenn er von seinem Waisenhausprojekt erzählt. Wütend, wenn er beschreibt, wie wenig Hilfe den armen Kindern zuteil wird. Sanft, wenn man ihn nach seiner eigenen Familie fragt.
Mein Vater ist eine lebende One-Man-Show. Neal Anderson – Die Geschichte seines Lebens als Reportage. Immer das passende Gesicht zur Situation, ganz gleich, wie es in seinem Innern aussieht. Ganz gleich, in wie viele Flirts und schmutzige kleine Affären er sich stürzt. Wie brutal er seine Frau und andere Menschen behandelt, um sich damit einen Kick zu verschaffen. Wie sehr er seine unschuldigen Kinder kontrolliert, manipuliert und sie damit zerstört.
Es ist nicht die Liebe, die ihn antörnt, sondern die Jagd – die heimlichen Blicke, die Ausreden, damit er endlich mit dieser Frau zusammen sein kann, das Risiko und schließlich die Erkenntnis, dass sie, genauso wie all die anderen, ihn unwiderstehlich findet.
Und danach kommt er nach Hause, ohne dass jemand ahnt, was er gerade getan hat. Er sieht eine schmutzige Kaffeetasse herumstehen und schleudert sie quer durch den Raum. Im einen Moment spricht er leise, im nächsten rastet er völlig aus, tobt und brüllt, weil seine Hemden nicht gebügelt sind oder jemand übersehen hat, dass der Rasen gemäht werden muss. Und die Bilder fallen auch nicht von allein von den Wänden und zerbersten – er reißt sie von den Haken und wirft sie zu Boden. Er macht verächtliche Bemerkungen über die Nachbarsfamilie, weil er ja so viel besser ist als sie, und wenn er ihnen das nächste Mal über den Weg läuft, ist er wieder ihr bester Freund.
Nachdem Neal Anderson sein ganzes Leben nur geschauspielert hat, weiß niemand mehr, wer er wirklich ist. Existiert hinter all den Fassaden überhaupt ein Mensch? Oder ist er gar nicht perfekt? Ist er so verabscheuungswürdig, so kaputt, hat sein wahres Ich so lange unter Verschluss gehalten, dass er längst nicht mehr existiert?
Aber im Grunde genommen spielt das keine Rolle, solange die Frauen ihn weiter umschwärmen. Solange er sein Gesicht überall zeigen kann. Das Gesicht, das die Leute von ihm erwarten. Das Gesicht, das sich nie vor Wut verzerrt.
Mein Vater ist ein bemerkenswerter Mann, wie meine Mutter immer sagt.