1

August

Ich lege den Hörer auf und stehe einen Moment lang reglos da.

»Mum? Was ist los?«

Über alles, was in diesem Haus vor sich geht, muss Grace grundsätzlich Bescheid wissen. Mit achtzehn darf nur sie allein Geheimnisse haben, sonst keiner. Mit Schweigen lässt sie sich nicht abspeisen.

»Mutter, mit wem hast du da gerade geredet?«

»Entschuldige.« Kennen Sie das, wenn man den Kopf so voll hat, dass man kein Wort mehr herausbringt? Blindlings stiere ich auf etwas – einen Fleck an der Wand, eine leere Tasse. »Das war Jo. Es ist etwas sehr Merkwürdiges passiert. Rosie ist verschwunden.«

Obwohl wir am entgegengesetzten Ende unserer Kleinstadt leben, besuchen Jos Tochter Rosie und meine Grace dieselbe Schule, daher laufen wir uns ab und zu über den Weg. Ihr Mann heißt Neal und ist ein bekannter, gut aussehender Journalist, den ich ziemlich oft im Fernsehen sehe, wenn er aus irgendeinem Kriegsgebiet berichtet, in natura hingegen begegne ich ihm hingegen praktisch nie. Die Andersons haben zwei Töchter, fahren nagelneue Autos – Jo einen schwarzen Range Rover, Neal einen BMW X5 – und leben in einem superschicken Architektenhaus, das ich erst ein- oder höchstens zweimal betreten habe. Unsere Bekanntschaft beschränkt sich auf gelegentliche Verabredungen zum Kaffeetrinken oder Mittagessen, aber Rosie liegt mir sehr am Herzen. Sie und Grace haben gerade die Schule abgeschlossen und nehmen in ein paar Wochen ihr Studium an der Uni auf, aber damit erschöpfen sich die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen auch schon. Rosie ist stiller und zurückhaltender als Grace’ Freunde und teilt meine Liebe zu Pferden.

Grace verdreht die Augen. »Wahrscheinlich hängt sie bloß irgendwo mit Poppy ab, hat aber nichts gesagt, weil Jo es ihr nicht erlaubt. Poppy ist eine Schlampe.«

Obwohl es nicht bösartig gemeint ist, sondern eher im Sinne von »Idiot« oder »Schwachmat«, klingt »Schlampe« hässlich, und der Tadel kommt mir über die Lippen, noch bevor ich ihn mir verkneifen kann.

»Gracie …«

Ich überlege, was mit Rosie passiert sein könnte, sehe ihre hellen Augen, die sie immer hinter einem dichten Vorhang aus Haaren zu verbergen versucht.

»Ist doch so. Du kennst Poppy nicht. Sie läuft in so kurzen Röcken herum, dass man ihr Höschen sehen kann. Und sie knutscht mit jedem, sogar mit Ryan Francis.«

Ryan Francis ist das schlimmste männliche Wesen auf dem Planeten – zumindest laut Grace, obwohl sie mir eine Erklärung, weshalb, bislang schuldig geblieben ist.

»Aber Rosie würde so was doch bestimmt nicht tun, oder?« Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie Rosie mit einem zwielichtigen Typen herumknutscht. Sie besitzt eine angeborene Sanftmut, wie ich sie sonst nur von meinen Pferden kenne. Wann immer sie mit ihnen auf der Weide ist, mampfen die Tiere friedlich weiter, als wäre sie eine von ihnen.

»Ich rede von Poppy, Mann. Aber, na ja, du weißt schon … Gruppenzwang und so … keine Ahnung … wundern würde es mich nicht.«

Ich höre die Alarmglocken in meinem Kopf läuten. Was, wenn sie recht hat und Rosie in schlechte Gesellschaft geraten ist oder, noch schlimmer, sich von einem miesen Typ hat breitschlagen lassen, von zu Hause auszureißen? Sollte ich vielleicht mit Jo darüber reden? Doch Grace’ Miene verrät mir, dass sie mich auf den Arm genommen hat.

»Wie auch immer.« Es ärgert mich, weil man über so etwas keine Witze machen sollte. »Solltest du etwas hören, sag mir einfach Bescheid. Jo macht sich wirklich Sorgen. Sie hat Rosie seit gestern nicht mehr gesehen, und auf ihrem Handy springt nur die Mailbox an. Wenn dasselbe mit dir passieren würde, wäre ich halb verrückt vor Angst.«

Grace zögert. »Ich kann dir gern Poppys Nummer besorgen, wenn du willst.« Sie wirft sich ihr langes rotes Haar über die Schulter und tippt hastig eine SMS.

Weil Teenager heutzutage so gedankenlos sind, dauert es nur wenige Sekunden, bis sie die Nummer hat. »Ich schicke sie dir auf dein Handy«, sagt sie.

Eine halbe Stunde später habe ich Jo wieder an der Strippe. Logischerweise ist sie fahrig und unkonzentriert und hört mir nur mit halbem Ohr zu.

»Aber nicht Poppy Elwood, oder?« Sie ist hörbar schockiert. »Oh Kate, aber Rosanna kann unmöglich mit ihr befreundet sein.«

»Grace behauptet das aber.«

»O Gott …« Ihr Tonfall verrät, dass sie sich das Schlimmste ausmalt – dass ihre Tochter ausgerissen oder gar mit einem Jungen durchgebrannt sein könnte. Obwohl Rosie achtzehn ist und ohnehin in ein paar Wochen von zu Hause ausziehen wird, gehört Jo zu den eher überfürsorglichen Müttern. »Bestimmt findet die Polizei sie bald. Man hört doch ständig von solchen Fällen, aber am Ende tauchen sie immer auf, stimmt’s?«

»Versuch, ruhig zu bleiben, Jo«, sage ich mit einer Zuversicht, die ich in Wahrheit nicht empfinde. »Ganz bestimmt finden sie sie – falls es überhaupt so weit kommt. Bestimmt kommt sie jeden Augenblick mit einer ganz einfachen Erklärung zur Tür herein. Wieso rufst du nicht Poppy an? Vielleicht weiß sie ja etwas, könnte doch sein.«

»Ja, das sollte ich wohl tun.« Sie schweigt einen Moment. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass sie ausgerechnet mit diesem Mädchen befreundet ist.«

Nur zu gut kann ich nachfühlen, wie es ihr geht. Alle Mütter kennen das – die Freunde unserer Kinder, die mit ihren Weltanschauungen und Prinzipien alles kaputtzumachen drohen, was wir uns immer für unseren Nachwuchs vorgestellt und gewünscht haben.

»So übel kann sie nicht sein, sonst hätte Rosie sich nicht mit ihr angefreundet, oder?«, sage ich. »Außerdem ist sie immer noch deine Tochter. Sie ist klug genug, um zu wissen, was richtig und was falsch ist.«

Jos Schweigen spiegelt nur meine eigenen Zweifel wider. Zwar hat Rosie nie Andeutungen in diese Richtung gemacht, aber am Ende siegt meine Neugier.

»Meinst du, sie hat einen Freund? Falls ja, weiß er vielleicht, wo sie stecken könnte.«

»Nein. Sie hat sich voll und ganz aufs Lernen konzentriert. Nicht wie …« Sie hält bedeutungsvoll inne.

»Wir sollten vielleicht lieber auflegen und die Leitung freimachen«, sage ich, ohne auf ihren unausgesprochenen Seitenhieb auf all die einzugehen, die zwar fleißig sind, aber auch das Leben in vollen Zügen genießen, so wie Grace. »Vielleicht versucht sie ja gerade, dich zu erreichen. Gibst du mir Bescheid, wenn sie auftaucht?«

Rosie kommt bestimmt wieder nach Hause, daran besteht für mich kein Zweifel. Als Gärtnerin glaube ich fest an die natürliche Ordnung der Dinge – an den unumstößlichen Wechsel der Jahreszeiten, an die Schwalben, die abertausende Meilen weit fliegen, um dem ewigen Sommer zu folgen, ebenso sehr wie daran, dass die Blumenzwiebeln im Frühjahr aufgehen werden.

Und daran, dass Kinder nicht vor ihren Eltern sterben.

Mein Tod ist dein
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